Surreale Fotomontage: 3 Menschen stehen vor einem sovietischen Plattenbau. Statt ihren Köpfen tragen sie Fernseher auf den Schultern, in denen Szenen aus russischem Staatsfernsehen zu sehen sind.

Hintergrund: © Roma Kaiuk, Menschen (v.L.n.R.): © refargotohp, © Karina Tess, © Roman Akhmerov, Fernseher (v.L.n.R.): © Stephen Monterroso, © Aleks Dorohovich, © Dave Weatherall, alle unter der Unsplash Lizenz. Fernsehprogramm: Screenshots Smotrim. Montage: © Philipp Sipos

Nachrichten, erklärt

Analyse: So hat Putin sich seine eigene Welt geschaffen

Russland führt Krieg – auch gegen die Wahrheit. In vier Schritten erkläre ich dir, wie Putins Propagandamaschine funktioniert und warum Deutschland dafür besonders anfällig ist.

Profilbild von Isolde Ruhdorfer
Reporterin für Außenpolitik

Ende Januar schaute ich russisches Staatsfernsehen. Russland sammelte bereits Truppen an der Grenze zur Ukraine, erklärte aber in einer offiziellen Pressemitteilung, keinen Angriff zu planen. Ich wollte wissen, wie der Kreml diese Position verkauft. Also schaltete ich eine Politiksendung des Senders „Rossija 1“ ein, in der gerade ein Beitrag aus dem ukrainischen Fernsehen gezeigt wurde. Ein Ukrainer packt sich für den Fall eines Krieges einen Notfallrucksack, darin eine Tafel dunkle Schokolade.

Die Moderatorin der Politiksendung amüsierte sich darüber, dass der Ukrainer wirklich glaube, Russland könne angreifen. „Wozu er dunkle Schokolade einpackt, ist auch nicht ganz klar“, sagte sie belustigt. Millionen Menschen sind seitdem auf der Flucht. Manche sind tagelang unterwegs und auf Essensspenden angewiesen. Viele haben nicht einmal eine Zahnbürste dabei. So ein Rucksack, über den sich die Moderatorin lustig machte, wäre hilfreich für diese Millionen, denn dass ein Krieg sie zu einer überstürzten Flucht zwingen würde, damit hatten sie nicht gerechnet.

Wer den Sender „Rossija 1“ einschaltet, erfährt noch immer nichts vom Krieg in der Ukraine. Das russische Staatsfernsehen konstruiert seit Jahren eine Parallelwelt, in der die Realität nach Belieben des Kremls umgedeutet wird. Auch, um den Rückhalt Putins in der Bevölkerung zu stärken. Deshalb lacht eine russische Moderatorin einen Ukrainer aus, der sich auf die Flucht vorbereitet, vor einem Angriff, den Russland zu diesem Zeitpunkt wohl längst geplant hatte.

Der Fernseher wird zur Waffe

Der Fernseher ist für viele Russ:innen die wichtigste Informationsquelle. Mehr als 60 Prozent schalten ihn täglich ein und beziehen ausschließlich darüber ihre Informationen. Der Fernseher wird so zur Waffe. Denn Krieg, das bedeutet heute nicht nur Bomben, Panzer und Raketen. Es ist, da sind sich Expert:innen einig, auch ein Kampf der Informationen. Westliche Techkonzerne schränken den Empfang des russischen Senders RT ein. Und Putin erließ ein Mediengesetz, das freie Meinungsäußerung praktisch unmöglich macht.

Auch die Journalistin Carole Cadwalladr sieht uns längst mitten in einer Schlacht um die Wahrheit. „Ich glaube, wir werden dies als den ersten großen Informationskrieg betrachten“, schreibt sie auf Twitter zum Ukraine-Krieg, „nur sind wir schon acht Jahre dabei.“

Die Journalistin Golineh Atai hat jahrelang für die ARD aus Russland und der Ukraine berichtet. In ihrem Buch „Die Wahrheit ist der Feind“ gibt sie einen Einblick in das russische Mediensystem. Sie schreibt, Informationskriegsführung müsse sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten erfolgen, „als Begleitung oder als Vorbereitung militärischer Kampfhandlungen.“ Aber wie funktioniert die russische Propagandamaschine?

Schritt 1: Der Bevölkerung Angst einjagen

Putins mediale Parallelwelt gibt es nicht erst seit dem Ukraine-Krieg. Schon während der europäischen Flüchtlingskrise 2015 war gut zu beobachten, wie russische Medien ein bestimmtes Framing der Nachrichten vermittelten. Westeuropa, so die Erzählung, würde von Kriminellen geflutet. Dieser Beitrag des russsischen Staatssenders „Rossija 1“ zeigt Menschenmassen auf dem Weg nach Europa – und einen syrischen Geflüchteten, über den es heißt, er sei in Wirklichkeit ein Terrorist.

Während meiner Recherchen in Russland wurde ich ständig nach dem Problem mit „kriminellen Geflüchteten“ gefragt. Ein Bekannter erzählte mir, er habe eigentlich Deutschland besuchen wollen, es sich wegen der Geflüchteten aber anders überlegt. Ich legte mir irgendwann eine kleine Rede zurecht, mit der ich auf die besorgten Fragen reagierte. Nein, Deutschland wurde nicht von Geflüchteten ins Chaos gestürzt. Zugewanderte sind nicht krimineller als Deutsche und ich bin sogar mit Menschen aus Syrien befreundet. Aber ich hatte das Gefühl, dass nicht alle das hören wollten.

Neben rassistischen Vorurteilen sind auch queerfeindliche Stereotype ein Mittel der russischen Propaganda, um Angst zu schüren. „Gayropa“ ist ein russisches Schimpfwort, das auf die vermeintlich verkommenen Werte des Westens abzielt. Oft benutzen es konservative Politiker:innen, um den Westen zu diskreditieren.

In diesem Beitrag des Senders NTV, einem der wichtigsten staatlichen Sender, wird über eine Recherche deutscher Investigativmedien berichtet. Mehr als 100 queere Menschen in der deutschen Katholischen Kirche hatten sich im Januar 2022 geoutet. Was in Deutschland als Fortschritt gefeiert wurde, ist in dem Beitrag eine „Infiltration der LGBT-Lobby in die Kirche“, ein „antikatholischer Angriff“, sogar eine „Apokalypse“.

Überall sind Feinde

Wer russisches Staatsfernsehen schaut, bekommt das Bild einer bedrohlichen, kaputten und chaotischen Welt vermittelt. Geflüchtete, Kriminelle und Männer, die mit Männern schlafen – nur daheim ist die Welt noch in Ordnung. Sich diesem Narrativ zu entziehen ist gar nicht so einfach. Ein russischer, sehr regimekritischer Freund schrieb mir einmal: „Manchmal schaut man Putin an und fragt sich: Und was wäre, wenn er doch Recht hat und wirklich überall Feinde sind?“

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Auch die Berichterstattung über den Ukraine-Krieg funktioniert nach einem ähnlichen Muster. Die Ukraine, heißt es in russischen Staatsmedien ständig, sei in der Hand von Nazis. Seit den Euromaidan-Protesten behauptet Putin, Faschisten planten einen Genozid an ethnischen Russ:innen in der Ostukraine. Obwohl es keinen einzigen Hinweis auf einen solchen geplanten Völkermord gibt, sprach Putin schon im Jahr 2015 davon. Noch heute, sieben Jahre später, wird er damit in deutschen Medien zitiert.

Schritt 2: Lügen, aber allen anderen vorwerfen, dass sie lügen

„Wir leben in einer Welt falscher Anschuldigungen, von Falschnachrichten und in einer Welt der Lügen“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow im Januar. Damit meinte er natürlich nicht die russischen Staatssender – sondern alle anderen. Peskow dementierte damals, dass militärische Eskalation von russischer Seite geplant sei. Dabei marschierten bereits russische Truppen an der Grenze zur Ukraine auf. „Fake News“, sagte Peskow damals.


Dieser Text ist Teil des Zusammenhangs: „Krieg in der Ukraine: Wie konnte das passieren?“


Eine Freundin von mir, nennen wir sie hier Bogdana, kommt aus dem Donbass. Als ihr Nachbarhaus von einer Bombe getroffen wurde, floh die Familie nach Russland. Bogdana war damals 14 Jahre alt. Heute überlegen sie und ihr Freund, wieder wegzuziehen. Wohin, wissen sie nicht. „Wir haben Angst vor der Mobilisierung“, schreibt sie mir. Über 60 Prozent der Menschen würden laut Umfragen den Krieg unterstützen. Dazu gehören auch Bogdanas Eltern. „Sie schauen seit 2013 russisches Fernsehen. Sie haben ihre eigene Wahrheit“, schreibt sie.

Der Fernseher spaltet die Gesellschaft

Durch die russischsprachige Gesellschaft zieht sich ein Riss, zwischen Menschen, die Staatsfernsehen schauen und denen, die es nicht tun. Dieser Riss teilt Generationen – denn vorrangig Ältere ab 55 Jahren schauen fern – und damit auch Familien.

In ihrem Buch „Die Wahrheit ist der Feind“ beschreibt die Journalistin Golineh Atai einen Aspekt der journalistischen Ausbildung in Russland. Die Studierenden müssen eine militärische Pflichteinheit besuchen, in der sie Dinge lernen wie „Informationssabotage“ und „Rhetorik und Psychologie der Massenpropaganda“. Propaganda und Gegenpropaganda – das sei für sie etwas Natürliches im Journalismus, schreibt Atai.

Schritt 3: Alles verbieten, was kritisch ist

Der Kreml verbreitet nicht nur seine eigenen Unwahrheiten, sondern setzt auch die unter Druck, die dagegen ankämpfen. 2012 verabschiedete das russische Parlament das „Ausländische-Agenten-Gesetz“. Jedes Medium, jede Organisation und jede Einzelperson, die „politisch aktiv“ ist und schon einmal Geld aus dem Ausland erhalten hat, muss sich beim Justizministerium registrieren und über jede einzelne finanzielle Ein- und Ausgabe dem Ministerium berichten. Veröffentlichungen müssen in großer Schrift mit dem Hinweis „ausländischer Agent“ gekennzeichnet sein.

2021 kam das Gesetz plötzlich massenhaft zum Einsatz und das Justizministerium erklärte reihenweise Medien und NGOs zu „ausländischen Agenten“. Das erschwerte ihnen die Arbeit und entzog ihnen häufig die Geschäftsgrundlage. Es führt nämlich oft dazu, dass Medien Anzeigenkunden verlieren und NGOs die Kooperationen aufgekündigt werden. Heute interpretieren Beobachter:innen das als Vorbereitung auf den Krieg in der Ukraine. Putin wollte verhindern, dass Kritik an seiner Invasion allzu laut werden würde.

Zeitung, Fernsehen, Radio und das halbe Internet – verboten

Während des Ukraine-Krieges hat Putins Kampf gegen die Wahrheit seinen bisherigen Höhepunkt erreicht. Im Februar 2022 forderte die Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor unabhängige Medien auf, keine „zweifelhaften Informationen“ über die Vorgänge in der Ukraine zu verbreiten. Das Radio „Echo Moskau“ und der Fernsehsender „Doschd“ berichteten trotzdem kritisch über den Krieg. Daraufhin sperrte die Medienaufsichtsbehörde deren Übertragung. Beide Sender gaben ihre Auflösung bekannt.

Die Internetseite der bekannten Internetzeitung Meduza ist in Russland nicht mehr erreichbar, die Deutsche Welle blockiert. Ausländische Medien wie die BBC, ARD und ZDF haben auf unbestimmte Zeit beziehungsweise zwischenzeitlich ihre Korrespondent:innen abgezogen, weil ihnen 15 Jahre Haft drohen, wenn sie den Krieg das nennen, was er ist: ein Krieg. Der Informationskrieg tobt auch in den sozialen Medien. Facebook und Twitter sind gesperrt, Instagram verlangsamt und auf Tiktok können keine Videos mehr hochgeladen werden.

So werden Kritik und unabhängige Berichterstattung erstickt. Übrig bleibt das Staatsfernsehen, als Sprachrohr für Putins Wahrheit.

Schritt 4: Im Ausland Verwirrung stiften

Diese Entwicklung ist tragisch für Russland. Sie ist aber auch problematisch für Deutschland. Eines der wichtigsten Prinzipien des Journalismus ist es, ausgewogen zu berichten, also Debatten und auch widersprüchliche Meinungen abzubilden. Ein deutsches Fernsehteam berichtet deshalb, was der Kreml sagt – und wann Aktivist:innen oder das Weiße Haus widersprechen. Putins Lügen finden so Eingang in deutsche Medien, dabei müsste man beinahe zu jeder Aussage Putins einen zusätzlichen Beitrag machen, um zu erklären, warum sie wahrscheinlich oder sogar offensichtlich falsch ist.

Ein Beispiel ist der acht Jahre währende Krieg im Donbass. Dort kämpften seit 2014 russische Separatist:innen gegen die ukrainische Armee. Der Kreml gab zwar zu, dass sich in dem Gebiet russische Soldaten aufhielten, behauptete aber, diese würden dort in ihrer Freizeit kämpfen.

Es ist unumstritten, dass der Kreml die Separatist:innen unterstützte und den Krieg befeuerte. Die Tagesschau hat die Hinweise einmal zusammengetragen: Dazu gehören Fotos und Videos von russischen Soldat:innen, die in die Ukraine fahren, Fotos von russischem Kriegsgerät in ukrainischem Kriegsgebiet und Listen von gefallenen russischen Soldat:innen, deren Todesort nicht angegeben ist. Es ist so offensichtlich, dass es sogar im Wikipedia-Eintrag zum Russisch-Ukrainischen Krieg steht.

Halbwahrheiten und Lügen sickern in deutsche Köpfe

Doch in einem zweiminütigen Fernsehbeitrag ist dafür zu wenig Platz. Wie zum Beispiel in diesem Video der Tagesschau aus dem Jahr 2018. Darin heißt es: „Zahlreiche Hinweise deuten auf eine Einmischung Russlands im Donbass hin, Russland weist das aber zurück.“ Zuschauer:innen bekommen so den Eindruck, es gebe verschiedene Meinungen dazu – nicht eine Wahrheit. So haben sich über Jahre Zweifel, Halbwahrheiten oder Lügen in die Köpfe der Menschen eingeschlichen.

Seit ich über den Krieg in der Ukraine berichte, bekomme ich viele Mails von Leser:innen, die genau von diesen Halbwahrheiten verunsichert sind. Ich werde gefragt, ob es nicht doch einen Genozid an Russ:innen gibt. Oder mir wird vorgeworfen, ich würde das Referendum nicht erwähnen, in dem sich die Krim-Bewohner:innen für einen Anschluss an Russland entschieden hätten.

Die Propaganda richtet sich gegen uns

Wie gut die russische Strategie aufgeht, lässt sich auch an den aktuellen Debatten erkennen. Wer russischsprachige Freund:innen oder Verwandte hat, musste wahrscheinlich mit manchen von ihnen diskutieren, ob die Ereignisse in der Ukraine ein Krieg oder eine „Spezialoperation“ sind. Aber auch Deutsche, die zu Russland keinen persönlichen Bezug haben, sind empfänglich für die Propaganda. Vor allem die „Querdenker“-Szene hegt Sympathien für Putin, denn die meisten lesen die Nachrichten des staatlichen russischen Fernsehsenders RT Deutsch.

Die Journalistin Cadwalladr ist sich sicher, dass nicht nur die Ukraine Ziel und Opfer des Informationskrieges war, sondern auch westliche Staaten: „Wir sind Teil des Plans. Wir waren schon immer Teil des Plans. Und die Ukraine kämpft nicht nur für die Ukraine, sondern auch für den Rest von uns.“


Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

So hat Putin sich seine eigene Welt geschaffen

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