Carolin Emcke ist die vielleicht wichtigste deutsche Philosophin unserer Zeit und berichtete als Reporterin für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel aus Kriegs- und Krisengebieten. Wie denkt sie über den Angriff der russischen Armee auf die Ukraine? Wie hat sie es geschafft, die Grausamkeiten eines Krieges zu beschreiben – und zu verarbeiten? Und wie glaubt sie, können wir kriegstraumatisierten Menschen begegnen? Über all das habe ich mit ihr gesprochen, um den Krieg in der Ukraine besser zu verstehen.
Frau Emcke, inwiefern erleben Sie das, was gerade passiert, als „Zeitenwende“ – ein Begriff, den Bundeskanzler Olaf Scholz bei seiner denkwürdigen Rede im deutschen Bundestag anführte?
Es gibt etwas, das mich irritiert an diesem Wort der Zeitenwende. Was mich zögern lässt, ist, dass es in Reaktion auf den Angriffskrieg auf die Ukraine so ein komplettes Erstaunen gab. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Auch ich war erstaunt. Aber bei manchen Reaktionen fragt man sich: Wie haben die Leute, die jetzt von einer Zeitenwende reden, die letzten Jahre verbracht?
In dem Kontext wird jetzt auf Georgien verwiesen, auf die Annexion der Krim, auf den Donbass, auf den Syrien-Krieg, wo jeweils zu erkennen war, was für ein brutaler Autokrat Putin ist. Zusätzlich aber – und das geht gerade ein wenig unter – gab es auch schon die Hinweise auf russische Interventionen beim Brexit und bei der US-Wahl 2016. Wir wissen über Geldflüsse von Putin an rechtsradikale und neofaschistische Parteien. Und ich will auch noch mal erinnern an die interne russische Repression gegenüber Menschenrechtler:innen, gegenüber Journalist:innen, gegenüber Homosexuellen. Auch das war die ganzen letzten Jahre zu sehen.
Trotzdem ist natürlich jetzt eine politische Bruchstelle zu erkennen – weil dieses Appeasement, diese Rücksichtnahme auf jemanden, der Rücksicht nur ausnutzt, beendet wurde. Die geschlossene Sanktionspolitik und auch der Beschluss zur massiven Investition in einen Verteidigungsetat sind Bruchstellen. Aber das klingt auch sehr auto-fokussiert. Für die Ukrainer:innen, die da mitten im Krieg um ihr Leben bangen, ist so ein Begriff wie „Zeitenwende“ euphemistisch. Die bangen im Radius der Gewalt, die versuchen, schlicht nicht zu verhungern oder getötet zu werden, da entsteht ein ganz anderes Vokabular der Verzweiflung.
Bei den aktuellen Bildern von Gewalt, Zerstörung und Flucht aus der Ukraine geht mir oft ein Zitat der französischen Schriftstellerin Charlotte Delbo durch den Kopf. Sie schrieb: „Wir schauen mit Augen, die schreien, die nicht glauben.“ Was passiert mit einem Menschen, dessen Leben durch Gewalt plötzlich so fundamental aus seiner Normalität herausgerissen wird?
Exakt das: Er wird aus der Normalität herausgerissen. Extreme Unrechtssituationen stellen eine Art Dislozierung dar. Sie bringen einen an einen Ort, der komplett unverbunden mit allen anderen Orten erscheint. Es gibt keine Beziehung zu dem, was vorher war, welche Normen und Erwartungen vorher galten. Viele Überlebende der Shoah – wie Charlotte Delbo – beschrieben dieses Moment des Nicht-Verstehens in solchen Ordnungen des Terrors. In „Für den Zweifel“ spreche ich auch über Primo Levi bei seiner Ankunft in Auschwitz. Levi beschreibt diesen Zustand der Verwirrung, der allem moralischem Entsetzen, aller Wut oder aller Verzweiflung vorausgeht.
Sie selbst haben lange als Reporterin aus Krisengebieten berichtet. Wie gelingt es Ihnen, eine solche Erfahrung von Leid zu vermitteln? Wie versuchen Sie zu beschreiben, was eigentlich unbeschreibbar ist?
Die eine Frage ist: Glaubt man, dass die eigenen Texte gut genug sind in der Vermittlung von Krieg und Gewalt? Und da bleibt zumindest mir immer das Gefühl von Versagen. Das heißt aber nicht – und das ist der zweite Aspekt –, dass ich glaubte, solche Erfahrungen seien unbeschreiblich, unsagbar, unvorstellbar. Das Benutzen dieser Begrifflichkeiten ist sehr häufig ein Bemühen anzuerkennen, wie furchtbar ein bestimmtes Verbrechen, ein bestimmter Krieg oder eine bestimmte Gewalterfahrung waren. Trotzdem halte ich es für uns, die wir jetzt als Schreibende die Aufgabe haben, Zeugenschaft zu leisten, für fahrlässig und auch für zu bequem.
Meine philosophische Überzeugung und meine praktische Erfahrung dagegen ist: Alles ist beschreibbar. Menschen können erzählen. Gewiss, vielleicht klingen diese Erzählungen anders als wir, die Verschonten, es erwarten. Es sind mitunter stotternde Erzählungen, gebrochene Erzählungen, Erzählungen, die vielleicht nicht linear, sondern kreisförmig von einer Erfahrung berichten. Vielleicht braucht es auch sehr, sehr lange Zeit, bis jemand bereit ist, uns Zuhörenden wieder zu vertrauen. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass alle Erfahrungen beschreibbar sind.
Carolin Emcke studierte Philosophie in London, Frankfurt am Main und Harvard. Heute schreibt sie eine Kolumne für die Süddeutsche Zeitung, moderiert seit 2004 das Diskussionsformat „Streitraum“ an der Berliner Schaubühne und publiziert Bücher, unter anderem „Gegen den Hass“, „Wie wir begehren“ und „Weil es sagbar ist“. 2016 erhielt sie den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Am 10. März 2022 ist ihr neues Buch „Für den Zweifel“ im Kampa-Verlag erschienen.
Wie ist es mit denen, an die diese Erzählungen gerichtet sind: Kann man als Mensch aus der Ferne überhaupt verstehen, was da gerade passiert? Oder geht es um etwas ganz anderes, wie etwa „mitfühlen“?
Nun, ich denke, Vorstellungskraft und Empathie können und müssen genährt werden. Sie brauchen Informationen, Geschichten, Bilder und Beschreibungen, die an vertraute Begriffe, frühere Bilder, gespeichtertes Wissen ankoppeln können. Zugleich weiß ich gar nicht, ob es sinnvoll ist, die Frage nach dem Verstehen so zu erhöhen, dass man daran nur scheitern kann. Und ich will sagen, warum.
Einerseits gibt es die Gefahr, diejenigen, die etwas beschreiben, komplett zu pathologisieren – oder die Position, aus der sie sprechen so aufzuladen, dass jede Zeugenschaft, jede Dokumentation, jede Beschreibung verunmöglicht wird. Das halte ich für heikel.
Und dann würde ich auch erinnern wollen, dass wir in den letzten Tagen – wie wir es 2015 auch erlebt haben – eine ungeheure, weit verbreitete Einfühlung und Hilfsbereitschaft sehen. Auch bei Menschen, die bis vorgestern vielleicht noch nicht auf einer Landkarte die Ukraine hätten finden können. Es reicht ihnen, was sie über die Situation vor Ort erahnen können, um mitzufühlen. Und wenn es so viel Empathie gibt, dann würde ich sagen: Was führen wir da für eine abgehobene Diskussion über die Verstehbarkeit von Leid und Verzweiflung? An den Bahnhöfen, in den privaten Wohnungen überall in Europa, in denen Menschen gerade fremde Geflüchtete bei sich aufnehmen, wird die Frage nach der Verstehbarkeit tausendfach beantwortet.
Hat Sie die derzeitige Hilfsbereitschaft überrascht?
Wenn wir jetzt von Deutschland sprechen: nein. 2015 war doch auch schon sehr beeindruckend. Die große Hilfsbereitschaft beschränkte sich damals ja nicht nur auf die erwartbaren Milieus, sondern in dieser Zeit haben sich auch ganz unterschiedliche soziale, aber auch generationelle Gruppierungen engagiert. Mein Eindruck war übrigens auch, dass diese zivilgesellschaftliche Solidarität der Entscheidung von Angela Merkel, die Grenzen offen zu lassen, vorgängig war.
Gleichzeitig ist es so, dass die Empathie mit Geflüchteten aus dem arabischsprachigen Raum über die letzten Jahre immer weiter abgenommen hat. Geht uns der Krieg in Europa einfach näher als der in Afghanistan oder im Jemen? Oder hat das andere Gründe?
Sie haben völlig recht. Das ist inakzeptabel, wenn Ähnlichkeit zur Bedingung für humanitären Schutz oder Menschenrechte gemacht wird. Wie da jetzt von „Menschen aus unserem Kulturkreis“ gesprochen wurde, da wird einem schlecht.
Wenn wir uns die letzten Jahre anschauen, lassen sich auch unterschiedliche Phasen erkennen. Was immer als „Willkommenskultur“ bezeichnet wird, das war 2015. Ein Jahr später war das öffentliche Klima schon anders: Der politische Diskurs war eher reflexhaft, abwehrend, rassifizierend. Da hat die AfD auch enorm destruktiv gewirkt mit ihrer Menschenverachtung. Wenn ich jetzt in diesen Tagen und Wochen sehe, welch überwältigende Aufnahmebereitschaft es in Polen gibt, dann fällt auch der Unterschied auf zu den Geflüchteten aus Syrien oder Afghanistan. Da scheint tiefes Ressentiment durch. Ich vermute, es hat zusätzlich auch etwas mit der eigenen historischen Erfahrung zu tun und mit der Brutalität eines Krieges, der so nahe und darin furchteinflößender ist.
Sie haben eben über das erschütterte Vertrauen von Menschen mit Gewalterfahrungen gesprochen. Wie können wir kriegstraumatisierten Menschen begegnen, um dieses Vertrauen wieder herzustellen?
Ich bin sehr dankbar, dass Sie das fragen. Mein Eindruck ist, dass das im journalistischen Berufsalltag – um es vorsichtig zu formulieren – zumindest wenig reflektiert wird. Das Wichtigste ist, nicht zu erwarten, dass jemand mit einem sprechen möchte. Sondern sich eher als zuhörendes Gegenüber anzubieten, ohne dass damit schon ein instrumenteller Zweck verbunden ist. Ohne dass man sich schon Notizen macht. Ohne dass man davon ausgeht, etwas zu verwenden. Natürlich nicht, weil man nichts erfahren möchte. Sondern weil man die Begegnung und das Gesagte nicht sofort auf die Verwertbarkeit für einen Text prüft.
In allen Gegenden, in die ich gereist bin, war mein Eindruck, dass Menschen erzählen wollten. Und dass sie auch wollten, dass es jemand notiert, was sie erzählen. Gewiss, es gibt Ausnahmen, Situationen, in denen es nicht erwünscht oder nicht möglich war. Aber die Grunderfahrung von Menschen im Krieg, von Geflüchteten, von misshandelten Frauen oder Männern ist, dass sie aus einer Erfahrung heraus sprechen, in der ihnen ihre Subjektivität bestritten wurde, in der ihnen ihre Menschlichkeit abgesprochen wurde, in der sie keinen Namen haben sollten. Und wenn diese Menschen sich in einem Gespräch wiederfinden, in dem jemand einfach sitzen bleibt und sagt: „Diese Erfahrung zählt. Diese Erfahrung spielt eine Rolle. Diese Erfahrung wird dokumentiert. Dieser Erzählung gebe ich, wenn du möchtest, deinen Namen“ – dann ist das schon eine Form von Widerstand gegen die Art von Situation, aus der sie kommen, in der sie nicht zählten.
In ihrem neuen Buch „Für den Zweifel“ erwähnen Sie. dass Sie beim Beschreiben oder Analysieren von Gewalt oft verlangsamt vorgehen. Können Sie kurz erklären, was Sie damit meinen – und warum Ihnen das so wichtig ist?
Das Verlangsamen ist für mich die naheliegende Methode des Analysierens. Vielleicht kann ich das anhand des Videos von der Tötung Eric Garners beschreiben.
Da gab es ein Handyvideo eines Menschen, der gefilmt hat, wie die Polizei auf Eric Garner losgeht. Es ist, wenn ich mich richtig erinnere, ungefähr 14 Minuten lang. Ich muss dann ein solches filmisches Dokument langsam anschauen – nochmal und nochmal und nochmal – und erst mit dem wiederholten und nochmal wiederholten Betrachten fallen mir dann Aspekte auf, die vielleicht nicht im Zentrum des Bildes sind, auf Hintergrundgeräusche, auf Nebenfiguren, auf Handlungen, die sich der ersten Aufregung erstmal entziehen – das weitet den Blick.
Inwiefern?
Im Netz schaut man sich dieses Video meist in der verkürzten und verdichteten Form an. Man schaut dann nur den dramatischsten Moment, den verzweifeltsten Moment, den brutalsten Moment an, aber nicht die Entstehungsgeschichte oder den Kontext dazu.
Die Entstehung, der Kontext, die Bedingungen von Gewalt sind aber deswegen wichtig, weil wir Gewalt nicht als unvermeidbar oder als naturwüchsig präsentieren sollten. Je langsamer man sich also die einzelnen Schritte vergegenwärtigt, die am Ende zum Tod eines Schwarzen Menschen geführt haben, desto mehr fallen auch die Momente auf, in denen etwas hätte anders entschieden werden können, in denen etwas hätte verhindert werden können, umso deutlicher wird, welche Voraussetzungen das Handeln der einzelnen Personen bedingen.
Das erhöht die Verantwortung und die Schuld, es erhöht meistens auch die Zahl der Beteiligten. Und es ist mir wichtig, weil ich wichtig finde, dass man so all die verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, die Weggabelungen und die Entscheidungsmöglichkeiten aufzeigt, an denen jemand hätte intervenieren oder nein sagen können, an denen sich jemand zu etwas anderem hätte durchringen können, anstatt einen wehrlosen, verzweifelten Menschen zu ersticken.
Die langsame Betrachtung legt die Entstehungsgeschichte der Gewalt offen?
Ja. Sie hilft, die Entstehung zu rekonstruieren und darin eben auch die Bedingungen präziser zu begreifen. Und ich glaube, dass das leider oft eine der Schwachstellen des tagesaktuellen Journalismus ist: Dass der enge, kurzfristige Fokus auf einem dramatischen Ereignis liegt – aber dadurch die Strukturen, die Ideologien, die institutionellen Bedingungen, die politischen und sozialen Bedingungen von solchen Grausamkeiten, von Rassismus und Antisemitismus, zu wenig in den Blick genommen werden. Deswegen ist so ein größerer oder längerfristiger Fokus wichtig.
1999 haben Sie aus dem Kosovo-Krieg berichtet. Damals, berichten Sie in „Für den Zweifel“, mussten Sie Texte per Satellitentelefon nach Hamburg diktieren an eine Sekretärin. Die Fotografen flogen im Wechsel zurück nach Deutschland mit ihren Filmrollen.
Da haben Sie sich bestimmt gedacht: „Mann, ist die alt, Oma erzählt vom Krieg“ (lacht). Stimmt ja auch.
Heute erreichen uns die Infos, Bilder und Videos von Gewalt und Zerstörung im Sekundentakt. Wie bewältigen Sie diese Informationsfülle – als Beobachterin des Zeitgeschehens und als Mensch?
Die kurze Antwort ist: gar nicht. Von Bewältigung kann gar nicht die Rede sein. Der Unterschied zu früher ist die Möglichkeit, dass verzweifelte Menschen in Echtzeit mit Bildern, Audiobotschaften, Nachrichten oder Videos aus dieser Alptraum-Situation zu uns sprechen. Wir sind in einer anderen Weise direkt angesprochen. Man fühlt sich ohnmächtig und schuldig zugleich. Diese Situation, wenn der ukrainische Präsident Selenskyj in das Europäische Parlament zugeschaltet wird und zu den Parlamentarier:innen spricht – und alle sich bewusst sind, dass er vielleicht nur noch Stunden oder Tage oder Wochen zu leben hat – das ist kaum aushaltbar.
Und wie handhaben Sie diese Informationsfülle im Alltag?
Ich verschlinge im Moment von morgens bis nachts alles, was ich erfahren kann – egal ob über Twitter, die BBC, CNN, oder Nachrichten von Freund:innen. Ich vermute, so geht es derzeit vielen. Es ist eine Überforderung und zugleich eben auch geboten. Zwischendurch suche ich dann Tempowechsel. Das bedeutet, dass ich mir zwischen dem Nachrichtlichen und dem Eiligen auch Romane und Gedichte von ukrainischen oder russischen Schriftsteller:innen vornehme oder Filme. Dazwischen muss man dann auch Momente suchen, in denen man sich dem Zugriff entzieht. Es braucht auch Unterbrechungen, in denen das Profane, das Heitere wieder Platz nimmt. Aber insgesamt bin ich genauso aufgeraut und durcheinander wie andere auch. Es gibt sicher Leute, die schnell große Erkenntnisse und Gewissheiten haben. Zu denen gehöre ich definitiv nicht.
Die Suche nach schnellen Erklärungen ist verlockend!
Mich erinnert das an New York: Ich war am 11. September dort und wollte eigentlich Urlaub machen. Ich bin nach der Katastrophe noch über Wochen in der Wohnung bei einer Freundin in Downtown Manhattan geblieben. Eines Tages kam die Nachbarin und hatte sich eine Gasmaske organisiert. Und wir haben gefragt: „Was willst du denn jetzt mit einer Gasmaske? Das ist doch etwas drüber.“ Und sie antwortete: „Ja, aber hättet ihr vor einigen Wochen geglaubt, dass 19 Leute, mit Teppichmessern ausgerüstet, Flugzeuge als Waffen einsetzen würden?“
Das war eine sehr interessante Erfahrung. Es gibt extreme Erfahrungen, Kriege oder Terroranschläge, die alles verrücken, was einem vorher möglich erschien. Das intuitive oder nicht so intuitive Navigationssystem, um einzuschätzen, was wahrscheinlich und was unwahrscheinlich ist, das funktioniert auf einmal nicht mehr. Und ich glaube, dass das derzeit auch der Fall ist. Es geht einem der politische Instinkt aus, im Angesicht eines solchen Despoten, es ist schwer zu kalkulieren, wie dramatisch es noch wird, wie es weiter eskaliert, wie brutal die Ukraine überfallen, genötigt, gequält, zerstört wird. Es kommt einem immer die Vernunft oder die Menschlichkeit in die Quere, weil die in den Erwägungen von Wladimir Putin keine Rolle spielen. Das produziert diese Endlosschleife aus unbeantwortbaren Fragen: Wie lange dauert das? Wie enthemmt, wie entgrenzt, wie unkalkulierbar ist Putin? Wie naiv sind wir vielleicht? Und wie realistisch sind die Hoffnungen auf eine größere Opposition innerhalb Russlands?
Drehen wir den Blick nach Russland. Putins Krieg ist auch ein Informationskrieg. Seine außenpolitische Aggression wird von einer innenpolitischen Aggression begleitet. Nichtregierungsorganisationen werden aufgelöst, Medien unter Druck gesetzt, die Verbreitung von Fakten drastisch bestraft, Demonstrant:innen schikaniert, Falschinformationen verbreitet und Angst geschürt. Das war schon immer das Programm autoritärer Regime und Bewegungen. Bedient Putin sich einfach uralter Mittel oder macht Russland heute etwas anders?
Es gibt sicher andere, die das besser beurteilen können als ich. Aber mein Eindruck ist, dass die technischen Möglichkeiten der Manipulation, der Diskurs-Subversion, der Desinformation, der Demagogie schon eine andere Qualität besitzen. Das ist ja keine besonders originelle Einsicht, aber darin liegt schon ein gravierender Unterschied.
Haben wir das unterschätzt?
Manche nicht. Aber es mangelte doch bis heute an der ernsthaften Auseinandersetzung mit dem, was daraus folgt. Es war doch schon der Brexit eine solche Zäsur, bei der die Grundfesten demokratischer Prozesse erschüttert wurden. Wenn ein Votum derart durch Lügen und Desinformationskampagnen auch von außenstehenden Akteuren beeinflusst wird, dann greift das den Kern unserer Vorstellungen von Volkssouveränität an. Wenn Wissen und Informationen nicht frei zirkulieren, wenn eine Gesellschaft keine Orte für demokratische Selbstverständigungsdiskurse mehr hat, dann ist das ein dramatisches Problem. Da geht es nicht darum, die Leave-Stimmen alle zu diskreditieren oder allein die Remain-Stimmen für legitim zu halten. Es geht darum, dass wir nicht mehr beurteilen können, welchen Einfluss Demagogie und Manipulation auf diese Entscheidung hatten.
Gleichzeitig werden diejenigen, die diese Manipulationen offenlegen, massiv unter Druck gesetzt.
Das führt zu einem weiteren Aspekt, den ich wichtig finde: Das ist die Art und Weise, wie diejenigen, die kritisch aus Russland über Putin, Troll-Fabriken oder Repressionen berichtet haben, mittels solcher Diskursmanipulationen angegriffen, angefeindet und terrorisiert worden sind – und wie lange die hiesigen Redaktionen gebraucht haben, um zu verstehen, dass das nicht einfach interessierte, neugierige, kritische Zuschauer:innen sind, sondern eine organisierte Propagandamaschine.
Putin hat seinen Angriff auf die Ukraine unter anderem damit begründet, dass die Ukrainer:innen angeblich Teil eines homogenen russischen Volkes seien …
Ich muss sagen, dass Putins Fernsehansprache für mich die erste Gelegenheit war, ihn so lange am Stück sprechen zu hören. Die spürbare Emotion, die sichtbare Erstarrung von einem, der in seiner abgekapselten Phantasie eingeschlossen ist – das hatte ich so vorher noch nicht gesehen. Aber es gab auch einiges, was nicht überraschte: eben dass er der Ukraine ihr Existenzrecht abspricht. Und das wurde weniger mit der vermeintlichen Bedrohung durch die Osterweiterung der NATO „begründet“, sondern in dieser Ansprache kamen ganz unverhohlen die imperialen, neovölkischen, kolonialen Ambitionen heraus.
Sind das Anknüpfungspunkte zu anderen rechten Bewegungen?
Der größte Anknüpfungspunkt zu den neovölkischen rechten Bewegungen in Europa und anderswo in der Welt ist sicherlich das Autoritäre und diese Fiktion von einem Früher, in dem alles besser gewesen sei. Dieses Früher, in dem die unerwünschten Menschenrechte noch nicht richtig galten, in dem Frauen nicht so unerhört viele Rechte hatten, in dem es noch eine heteronormative Ordnung und „traditionelle“ Familie gab. Das mag in unterschiedlichen Ländern und bei unterschiedlichen rechten Bewegungen unterschiedlich religiös aufgeladen sein – mal ist es evangelikal, mal orthodox oder islamistisch –, aber das Antimoderne und das Antiaufklärerische ist diesen Bewegungen gemeinsam. Genau wie das Dogma der Reinheit, also einer vermeintlich „reinen Nation“, der „homogenen Kultur“, der „natürlichen Familie“, die Misogynie, die Homo- und Transfeindlichkeit, die Verachtung der Wissenschaften und des unabhängigen Journalismus. All das ist ganz eindeutig ein verbindendes ideologisches Moment zwischen Putin und anderen rechten Bewegungen.
Wie können wir darauf reagieren? Zeigt Putin uns gerade, dass die Demokratie knapp vorm Scheitern steht, dass ein autoritärer Staat mit Geld und Waffen und hochgerüstetem Militär jede demokratische Volksherrschaft überrollen kann?
Nein, das glaube ich nicht. Wir sehen ja, wie Wladimir Putin Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zutiefst fürchtet – sonst hätte ihn die Demokratiebewegung in der Ukraine nicht von Anfang an so irritiert. Aber wir müssen realisieren: Demokratie ist kein abgeschlossener Prozess, keine fertige Ordnung. Demokratie ist etwas, das durch Handeln und Argumentieren entsteht, immer wieder. Also muss und kann eine Demokratie sich immer wieder vertiefen und verbreiten. Vielleicht ist Europa das jetzt deutlicher geworden. Und vielleicht ist Europa auch deutlicher geworden, dass es Grenzen dessen gibt, was eine Demokratie aushalten kann.
Aber im Moment ist das Wichtigste, die Not und Verzweiflung der Ukrainer:innen zu lindern und Tod und Zerstörung zu beenden.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert