Russlands Armee hat die Ukraine angegriffen. Die Europäische Union und die USA verurteilen den Angriff, stellen Waffen bereit und verhängen harte Sanktionen. Aber warum zur Hölle schickt kein Land Truppen in die Ukraine, um die ukrainischen Soldat:innen zu unterstützen?
Weil Länder wie Deutschland, die USA, Großbritannien oder Frankreich Teil des westlichen Verteidigungsbündnisses NATO sind. Die Ukraine nicht.
Da sterben jeden Tag Menschen! Da kann die Welt doch nicht einfach zusehen!
Genau hier liegt ein krasses Dilemma: Die 30 NATO-Mitgliedstaaten haben einen Vertrag geschlossen, um bei Angriffen zusammenzuhalten: Wird ein NATO-Land angegriffen, wertet die Gruppe das als Angriff auf das ganze Bündnis – und verteidigt sich gemeinsam. Das nennt sich dann „Bündnisfall“ und der ist in Artikel 5 des NATO-Vertrages festgehalten.
Im Umkehrschluss heißt das: Würde ein NATO-Land Soldat:innen in die Ukraine schicken, würde es sich in den Krieg mit Russland begeben. Russland würde diesem Land vermutlich ebenfalls den Krieg erklären. Dann müssten alle anderen NATO-Mitglieder diesem Land helfen. Und so würde aus einem Krieg, der bisher nur in der Ukraine stattfindet, ein Krieg zwischen der NATO und Russland. Man könnte auch sagen: ein Weltkrieg.
Manche sprechen doch längst von einem Weltkrieg.
Die massiven Sanktionen der EU und der USA weisen darauf hin, dass der Konflikt auch zwischen vielen NATO-Mitgliedern und Russland heißer wird. Das sagt etwa der ehemalige ranghöchste zivile Militärnachrichtendienstler der USA, Michael Vickers, in diesem Podcast. Aber mit dem Begriff „Weltkrieg“ sollte man wirklich sehr vorsichtig sein. Er schürt vor allem Angst.
Aber Waffen liefern ist okay?
Einzelne Länder und NATO-Mitglieder wie die USA oder die Europäische Union als Staatenverbund liefern derzeit Waffen an die Ukraine. Aber sie tun das in Eigenverantwortung und nicht im Namen der NATO selbst. Die Unterscheidung ist wichtig. Denn: Wenn die NATO einen Beschluss trifft, handeln die Mitgliedstaaten. Aber die Mitgliedstaaten können auch selbst agieren, ohne dass die NATO handelt.
Was genau ist denn eigentlich die NATO?
Die NATO ist ein Verteidigungsbündnis, das am 24. August 1949 gegründet wurde. NATO ist eine Abkürzung und steht für „North Atlantic Treaty Organization“, also in etwa nordatlantisches Bündnis. Der Name ist Programm, denn die Gründungsmitglieder liegen alle auf der Nordhalbkugel: die USA, Belgien, Großbritannien, Frankreich, Dänemark, Norwegen, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande und Portugal. Bis 1989 traten auch Westdeutschland, Griechenland, die Türkei und Spanien bei.
Die NATO wurde also nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet und ist somit in einer Zeit geboren, als die USA auf der einen und die UdSSR auf der anderen Seite versuchten, Bündnisse zu schmieden, die zu ihren Ideologien passten – der liberale Westen und der kommunistische Osten. Man spricht deshalb im Falle der NATO auch von einem „westlichen“ Verteidigungsbündnis. So war es zumindest im Kalten Krieg.
Nach dem Mauerfall wurde es dann komplizierter: 1999 starteten die sogenannten NATO-Osterweiterungen, über die wir gleich noch sprechen werden. Heute hat das Bündnis 30 Mitglieder, zu denen auch ehemalige Mitgliedsländer des Warschauer Pakts gehören, wie etwa Polen.
Das NATO-Hauptquartier liegt übrigens mitten in Europa: in Brüssel. Dorthin entsendet jedes Mitglied einen Botschafter, der die eigene Regierung vertritt. In Brüssel arbeitet auch der Generalsekretär, der höchste Repräsentant der NATO. Er wird zunächst auf vier Jahre berufen und koordiniert die Arbeit der NATO. Die Amtszeit kann auch über die vier Jahre hinaus verlängert werden. Seit 2014 ist das der norwegische Politiker Jens Stoltenberg.
Hat die NATO eine eigene Armee?
Nein. Die Mitglieder stellen der NATO ihre Streitkräfte zur Verfügung. Sie leihen sie quasi an die NATO aus. Alle NATO-Staaten zusammen hatten 2021 eine Truppenstärke von rund 3,3 Millionen Soldat:innen. Zum Vergleich: Russland hat eine Truppenstärke von rund 1,35 Millionen Soldat:innen, die Ukraine allein nur etwa 500.000.
Um kurzfristig auf Krisen und Gefahren reagieren zu können, hat die NATO eine schnelle Einsatztruppe, die NATO Response Force (NRF) mit etwa 40.000 Soldat:innen. Die wurde nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Außerdem gibt es eine besonders schnelle Einsatztruppe, die „Very High Readiness Joint Task Force“ mit etwa. 20.000 Soldat:innen.
Das klingt ja so, als wäre das ein militärisches Superbündnis. Wie viel Geld steht der NATO denn zur Verfügung?
Die NATO hat im Jahr rund zweieinhalb Milliarden Euro zu Verfügung, wovon sie zum Beispiel die Kosten für Personal, Verwaltung und Werbung bezahlt. Wenn man sieht, dass Deutschland allein für die Bundeswehr gerade 100 Milliarden locker gemacht hat, erkennt man: Das Budget ist ziemlich klein. Das liegt an der Struktur der NATO: Sie führt bloß Entscheidungen aus. Das Prinzip heißt „Costs lie where they fall.“ Das bedeutet: In der Regel zahlt jedes Land die Dinge selbst, die es für den Einsatz der eigenen Truppen braucht.
2002 vereinbarte die NATO das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel: Die Mitglieder sollten ihre Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erhöhen. Das galt bis zuletzt als Illusion, vor allem in Deutschland: 2020 erreichten lediglich 11 NATO-Länder das Ziel, darunter Großbritannien und die baltischen Länder.
Aber: Bundeskanzler Olaf Scholz hat am 24. Februar 2022 ja das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro verkündet. Und er hat versprochen, Deutschland werde das Zwei-Prozent-Ziel der NATO künftig erfüllen.
Und wer trifft die Entscheidungen bei der NATO?
Die NATO-Organisation ist ziemlich unübersichtlich. Alle zwei Jahre treffen sich die Staats- und Regierungschefs zu einem NATO-Gipfeltreffen. Aber natürlich wird sonst auch ständig gesprochen – auf einer Ebene darunter.
Der Nordatlantikrat, auch NATO-Rat genannt, ist das wichtigste politische Gremium der NATO. Jedes Mitgliedsland hat einen Sitz, Entscheidungen müssen einstimmig getroffen werden und der Generalsekretär leitet die Sitzung. Die Nukleare Planungsgruppe kümmert sich – wie der Name schon sagt – um alle Fragen rund um die Atomwaffen der NATO. Dort kommen Expert:innen zusammen und beraten zum Beispiel über Auf- und Abrüstung oder nukleare Bedrohungen. Der NATO-Militärausschuss kümmert sich um militärische Angelegenheiten, erstellt Strategien und berät über die Verteidigung des Bündnisgebiets. Er besteht aus Offizier:innen der Mitgliedstaaten. Lediglich Island, das kein Militär hat, sendet eine:n zivile:n Vertreter:in.
Viel Theorie, zurück zur Praxis. Du hast gesagt, die NATO ist ein westliches Verteidigungsbündnis. Heißt das, sie ist im Grunde nur dazu da, uns vor einem russischen Angriff zu schützen?
Die Kurzversion meiner Antwort lautet: Die NATO wurde als Verteidigungsbündnis der westlichen Welt gegen einen möglichen Angriff der Sowjetunion gegründet. Aber die Sowjetunion ist eben nicht Russland – und die Zeiten waren damals ganz andere.
Gib mir die lange Version.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahmen die Konflikte zwischen den Westmächten USA, Großbritannien und Frankreich auf der einen und der Sowjetunion und anderen kommunistischen Ländern auf der anderen Seite zu. Deshalb sammelten die Großmächte USA und Sowjetunion andere Staaten um sich. Das waren ihre sogenannten Einflusszonen. Die Grenze dieser Einflusszonen verlief mitten durch Europa: der sogenannte Eiserne Vorhang. Er verlief von Nordnorwegen bis zur Türkei und teilte den Kontinent. Gleichzeitig arbeitete die Sowjetunion an der Herstellung eigener Atomwaffen, die bis dahin nur die USA besessen hatten.
Am 12. März 1947 verkündete US-Präsident Truman die sogenannte Truman-Doktrin, um „bedrohten Völkern beizustehen“, wenn ihre Freiheit in Gefahr geriet. Eine Doktrin ist so etwas wie eine politische Leitlinie. Das außenpolitische Ziel der USA war es also fortan, die Machtausweitung der Sowjetunion aufzuhalten. Die Truman-Doktrin gilt nicht nur als Beginn der amerikanischen Eindämmungsstrategie gegenüber der Sowjetunion, sondern auch als Ausgangspunkt des Kalten Krieges.
Fortan war die Welt also zweigeteilt in Ost und West?
Ja, und beide Seiten standen sich ideologisch unversöhnlich und militärisch hochgerüstet gegenüber. Aus westlicher Sicht standen die USA für Marktwirtschaft und Demokratie, die Sowjetunion für Sozialismus und Planwirtschaft. Und weil beide Seiten sich durch den Gegner bedroht fühlten, schmiedeten die Machtzentren – Washington und Moskau – Verteidigungsallianzen mit Verbündeten. Die Logik dahinter ist einfach: Wenn du Angst vor einem Angriff hast, schließt du dich einem Bündnis an, das dir im Falle eines Angriffs militärisch hilft. Dann wirst du in Ruhe gelassen. Zumindest von einer Seite.
Also gründeten die Länder Westeuropas und Nordamerikas 1949 die NATO. Die Sowjetunion sammelte ihre Verbündeten in einem östlichen Verteidigungsbündnis um sich, dem sogenannten Warschauer Pakt von 1955.
Damals begann das, was Politikwissenschaftler:innen als Gleichgewicht des Schreckens bezeichnen: Beide Seiten verfügten über riesige Nukleararsenale und waren in der Lage, den Gegner zu vernichten. Dahinter steht das Prinzip der Abschreckung: Ein Gegner wird gezwungen, auf eine Handlung zu verzichten, weil sonst Vergeltung droht. Abschreckung sorgt also dafür, dass niemand angreift, aber beide Seiten permanent aufrüsten. Paradoxerweise herrschte dadurch Frieden. Kein Land oder Bündnis wagte den direkten Angriff auf den Gegner, weil es damit rechnen musste, anschließend selbst vernichtet zu werden.
Die NATO ist also ein Verteidigungsbündnis, aber innerhalb des Bündnisses garantiert es Frieden?
Ja, das ist der zweite Sinn der Sache. Die NATO garantiert die Sicherheit der Bündnispartner und die Verteidigung der Außengrenzen. In Artikel 1 des Gründungsvertrags steht, dass die Mitglieder sich verpflichten, „jeden internationalen Streitfall, an dem sie beteiligt sind, auf friedlichem Wege so zu regeln.“
Das ist gut für jedes einzelne NATO-Mitglied, aber eben nur so lange, bis einer von außen angreift. Dann tritt der Bündnisfall ein: Wer ein NATO-Mitglied angreift, greift alle an. Wenn ein Mitglied sich verteidigen muss, helfen die anderen mit. Das Versprechen, im Falle eines Angriffs auf einen Mitgliedstaat einander Beistand zu leisten, ist das eigentliche Kernstück des Vertrags. Politikwissenschaftler:innen sprechen vom Prinzip der kollektiven Verteidigung und vom Gebot der gegenseitigen Unterstützung. Bisher ist das erst ein einziges Mal passiert – nach den Terrorangriffen des 11. September 2001.
Interessanterweise regelt der Vertrag nicht, was passiert, wenn ein Mitglied einen Angriffskrieg beginnt.
Muss jedes NATO-Mitglied im Bündnisfall Truppen schicken? Was, wenn eines nicht will?
Es bleibt den Mitgliedern überlassen, wie genau sie reagieren. Eine automatische militärische Beistandsverpflichtung, wie sie vor dem Ersten Weltkrieg üblich war, gibt es nicht.
Warum wurde die NATO nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht aufgelöst? Ist die NATO ohne Feind nicht komplett nutzlos?
Gute Frage. Am 1. Juli 1991 löste sich der Warschauer Pakt auf. Der Feind der NATO war weg, der Kalte Krieg vorbei. Das stellte die NATO vor eine zentrale Frage: Wofür sollte sie noch existieren?
Die Lage war nach dem Ende der Sowjetunion sehr unübersichtlich. Und eines war klar: Es würde neue Bedrohungen geben. Terrorismus, Piraterie, Cyberangriffe oder Bürgerkriege, die die Rohstoffversorgung gefährden. Deshalb beschloss die NATO, sich nicht aufzulösen, sondern weiterzumachen – und ihre Aufgaben anzupassen. Aus US-Perspektive garantierte das Bündnis schließlich auch den Frieden und den politischen Status quo der Demokratie in Westeuropa.
Also überarbeitete die NATO ihre Strategie. Sie kümmerte sich nicht mehr ausschließlich um Verteidigung, sondern auch um die Stabilisierung von Krisengebieten und ihren eigenen Machtausbau. Sie erweiterte also ihr Spektrum, um in Krisenherden eingreifen zu können – und suchte neue Mitglieder.
Es gab also plötzlich nur noch die NATO, die an Macht gewann, und Russland stand alleine da?
So sieht es Wladimir Putin. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Dazu komme ich gleich.
1999 begann die NATO also, sich in andere Krisen und Kriege einzumischen.
Das tat sie bereits, bevor sie ihre neue Strategie beschloss. 1995 beteiligte sich die NATO auf Bitten der Vereinten Nationen am Krieg in Bosnien-Herzegowina. Und im März 1999 griff sie in den Kosovo-Krieg ein und begann mit Luftangriffen auf Belgrad. Dafür hatte sie kein UN-Mandat.
Der Einsatz war also völkerrechtswidrig?
Ja. Es gab kein UN-Mandat. Allerdings liegt das an Russland. Ihr UN-Vertreter hat das mit seiner Gegenstimme im UN-Sicherheitsrat verhindert. Und es handelte sich nicht um einen Einsatz zur Verteidigung eines angegriffenen Landes: Kosovo war damals eine Provinz Serbiens. Kritiker:innen werteten das als Beweis dafür, dass die NATO ihre Interessen ohne Rücksicht auf internationales Recht durchsetzt. Aber ganz so leicht ist es nicht.
Das ist ein Rechtsbruch, was gibt es da zu beschönigen?
Viele Politikwissenschaftler:innen sagen: Der Einsatz war völkerrechtswidrig, aber moralisch legitim.
Machen wir einen Schritt zurück: Im Grunde sieht das Völkerrecht zwei Szenarien vor, die einen Einsatz von Waffengewalt rechtfertigen: Entweder ein angegriffenes Land verteidigt sich. Oder der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stellt eine „Bedrohung oder einen Bruch des Friedens oder eine Angriffshandlung“ fest – und fordert Mitgliedstaaten auf, etwas zu tun.
Wenn kein Verteidigungsfall vorliegt und der UN-Sicherheitsrat blockiert ist – zum Beispiel weil eines der Länder mit Vetorecht sich weigert – gibt es prinzipiell keine Möglichkeit, Massenverbrechen zu stoppen. Das war im Kosovo-Krieg der Fall. Hier ist es wichtig, sich die anderen politischen Ereignisse der 1990er Jahre vor Augen zu führen. Denn nach den Massenverbrechen in Ruanda und Jugoslawien stand die Weltgemeinschaft vor einer heiklen Frage: Wie könnte man, trotz Blockade des UN-Sicherheitsrats, Massenverbrechen stoppen, wenn man nicht zulassen wollte, dass irgendwo Hunderttausende von Menschen ermordet werden?
Der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan schrieb einen Artikel im Economist und forderte, das Individuum stärker ins Zentrum des Völkerrechts zu rücken. Daraus entstand das Prinzip der Schutzverantwortung, die sogenannte Responsibility to Protect. Das besagt: Staaten tragen die Verantwortung, ihre Bevölkerung vor massiven Menschenrechtsverletzungen zu schützen. Wenn sie das nicht können oder wollen, soll die internationale Gemeinschaft sich darum kümmern.
Dieses Prinzip hat sich im Kosovo-Krieg entwickelt, weil das traditionelle Völkerrecht als ungenügend galt. Den Willen und die Mittel für einen Militäreinsatz zur Schutzverantwortung hatten in den 1990er Jahren in erster Linie die USA. Die wollten im Kosovo aber nicht alleine handeln, also aktivierten sie die NATO, die ihren völkerrechtswidrigen Einsatz startete.
Wie gut das Prinzip der Schutzverantwortung im Laufe der Geschichte funktioniert hat und inwiefern es von der NATO genutzt wurde, um die eigenen Interessen durchzusetzen – das ist noch einmal eine ganz eigene Diskussion. In der Politikwissenschaft gilt es inzwischen, auch nach dem Desaster in Afghanistan, als gescheitert.
Zwischenfrage: Wie wird man Mitglied in der NATO?
Das regelt Artikel 10 des Paktes, der die sogenannte „Politik der offenen Tür“ festlegt. Demzufolge steht die Mitgliedschaft jedem europäischen Staat offen, „der in der Lage ist, die Grundsätze dieses Vertrages zu fördern und zur Sicherheit des nordatlantischen Gebietes beizutragen.“ Zunächst müssen Beitrittskandidaten einen sogenannten Membership Action Plan abarbeiten. Dann müssen sich alle NATO-Mitgliedstaaten einstimmig für einen Beitritt aussprechen.
Und was ist mit all den anderen Ländern in Afrika, Asien und Zentral- und Südamerika? Die dürfen nicht mitmachen?
Der Gründungsvertrag sagt ganz klar, dass nur europäische Länder Mitglied werden können. Die NATO hat aber „spezielle Partnerschaften“ mit Ländern aus anderen Weltregionen, zum Beispiel mit Australien, Neuseeland, Kolumbien und Pakistan. Diese Partner beteiligen sich teilweise auch an NATO-Einsätzen.
Warum wollten so viele Länder, die vormals Teil des Warschauer Pakts waren, in die NATO?
Das ist relativ einfach: Die Sowjetunion hatte viele Länder des Warschauer Pakts unterworfen, zum Beispiel die baltischen Länder. Die waren dem Bündnis nicht freiwillig beigetreten. Und sie fürchteten, dass sich so etwas wiederholen könnte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion sahen sie deshalb die Möglichkeit, einem Militärbündnis beizutreten, in dem sie selbstbestimmt weiterexistieren können – und aufgrund der Abschreckung nicht befürchten müssen, von Russland angegriffen zu werden. Das war verlockend.
Dieser Text ist Teil des Zusammenhangs: „Krieg in der Ukraine: Wie konnte das passieren?“
Warum ist die Ukraine kein NATO-Mitglied? War die einfach nicht schnell genug?
Die ist ein Sonderfall. Tatsächlich haben Deutschland und Frankreich den Beitritt der Ukraine 2008 verhindert. Aber lass uns im Lauf der Geschichte bleiben – in den Neunzigern.
Vertreter Russlands sagen immer wieder, die NATO hätte mit den Osterweiterungen ihr Wort gebrochen. Sie hätte Russland versprochen, sich nicht nach Osten auszudehnen. Stimmt das?
Das ist eine komplizierte Frage. Es gibt keinen Vertrag, der sagt, dass die NATO sich nicht nach Osten ausdehnen würde – aber mündliche Versicherungen aus den frühen neunziger Jahren. Damals verhandelte Deutschland mit den USA, der damaligen Sowjetunion, Frankreich und Großbritannien über die deutsche Wiedervereinigung. Die USA wollten unbedingt, dass das geeinte Deutschland Teil der NATO wird, Russland sperrte sich. Letztlich bekräftigt der endgültige Zwei-plus-vier-Vertrag über die deutsche Einheit die freie militärische Bündniswahl des vereinten Deutschlands. Lediglich die Zusicherung, keine ausländischen Streitkräfte oder Atomwaffen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu stationieren, findet sich darin. Die NATO-Osterweiterung wird nicht erwähnt.
Aber: Im Zuge der Verhandlungen um die Wiedervereinigung Deutschlands gab es mündliche Zusagen an Russland, die NATO nicht weiter nach Osten auszuweiten. Das war damals Teil der Verhandlung. Der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher hat damals versichert, die NATO habe nicht vor, sich nach Osten auszuweiten. Und US-Außenminister James Baker sagte am 9. Februar 1990 im Kreml, die NATO werde ihren Einflussbereich „nicht einen Inch weiter nach Osten ausdehnen“, falls die Sowjets der Nato-Mitgliedschaft eines wiedervereinigten Deutschlands zustimmen. Baker ist heute 91 Jahre alt und behauptet in diesem Interview, es wäre wichtiger, „Glück zu haben“ als „gut“ in seinem Job zu sein.
Das zentrale Problem ist also ein Kommunikationsfehler: Die Aussage wurde von westlicher Seite als Verhandlungsstrategie und von russischer Seite als Zusicherung verstanden.
Es gab also mündliche Versicherungen, dass die NATO sich nicht weiter nach Osten ausdehnen würde – aber keine schriftlichen Zusagen?
Genau. Jetzt wird es aber noch komplizierter. Denn die NATO verweist bei der Diskussion noch auf einen anderen Punkt: Russland hat 1997 die NATO-Russland-Grundakte unterzeichnet.
Was besagt die NATO-Russland Grundakte?
Die Akte regelt die Beziehungen, die zukünftige Zusammenarbeit und die Sicherheit zwischen den NATO-Staaten und Russland. Beide Seiten erklären darin den „Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegeneinander oder gegen irgendeinen anderen Staat, seine Souveränität, territoriale Unversehrtheit oder politische Unabhängigkeit.“ Dieser Vertrag ist also durchaus gut gemeint. Und nun folgt der Game-Changer: In Abschnitt IV der Akte werden neue Mitglieder ausdrücklich erwähnt.
Trotzdem hatte der Kreml die Ost-Erweiterung schon in der nationalen Sicherheitsstrategie von 2009 als „inakzeptabel“ bezeichnet, die NATO wurde zum Hauptfeind. Diese Position bekräftigte Wladimir Putin immer wieder.
Putin hat diese Akte doch spätestens mit dem Angriff auf die Ukraine quasi in die Tonne getreten.
Das kann man so sagen. Und was mit der NATO-Russland-Akte nach dem Angriff auf die Ukraine passiert, ist noch offen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte nach einem Krisengipfel der Staats- und Regierungschefs der 30 NATO-Staaten: „Das ist die Realität: Die NATO-Russland-Grundakte funktioniert nicht, weil eine Seite, Russland, sie über viele Jahre hinweg verletzt hat.“
Kann Russland nicht einfach selbst NATO-Mitglied werden und alle leben in Frieden?
Das wollte Russland tatsächlich mal. Boris Jelzin, der erste Präsident Russlands, erklärte am 20. Dezember 1991 einen russischen NATO-Beitritt zu einem „langfristigen politischen Ziel“. Und Ulrich Schmidt, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen, schreibt auf der Plattform Dekoder: „Noch im Jahr 2000 soll Putin Präsident Clinton gefragt haben, was er über diesen Plan denke. Die Administration Clinton hätte eine Aufnahme Russlands in die NATO unter der Bedingung unterstützt, falls es sich zu einer marktwirtschaftlichen Demokratie entwickeln würde.“
Fakt ist: Russland näherte sich in den 1990ern dem Westen an – und mit der NATO-Russland-Akte auch der NATO. Auch ein EU-Beitritt wäre langfristig denkbar gewesen. Doch die russische Wirtschaft stürzte ins Chaos. Damit war das Thema vom Tisch.
Falls du eine Pause brauchst: Schau dir kurz dieses beglückende Youtube-Video von Boris Jelzin an:
https://www.youtube.com/watch?v=v9YnDirqwT4
Und seitdem fühlt Russland sich mehr und mehr durch die NATO bedroht?
Russland will seine Außengrenzen und die angrenzenden Gebiete unter eigene Kontrolle bringen. Einerseits könnte man sagen: Das ist ein normales Sicherheitsstreben.
Andererseits ist auch klar: Das Narrativ, die NATO würde Russland bedrohen, ist Teil eines Identitätskonflikts. Lediglich ein Bruchteil Russlands grenzt an NATO-Gebiet. Zum Vergleich: Österreich ist „umzingelt“ von NATO-Staaten. Trotzdem fühlt sich das Land nicht bedroht. Außerdem regelt die NATO-Russland-Akte, dass in den östlichen Mitgliedstaaten weder Atomwaffen noch „substantielle Kampftruppen“ stationiert werden dürfen, um Russland nicht zu bedrohen.
Um es deutlich zu machen: Die Erzählung der Bedrohung der NATO ist politische Rhetorik. Sie dient dazu, sich als Opfer der Geschichte zu inszenieren und das als Rechtfertigung für die eigenen Machtansprüche zu nehmen. Das wird umso deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, dass die Ukraine keine Chance auf einen NATO-Beitritt hat.
Warum hat die Ukraine keine Chance, der NATO beizutreten?
Frankreich und Deutschland haben einen NATO-Beitritt der Ukraine und Georgiens 2008 verhindert. Das ist vor dem Hintergrund des russischen Angriffs auf die Ukraine besonders brisant. Denn wäre die Ukraine der NATO damals beigetreten, hätte Russland sicherlich nicht angegriffen – sonst hätte Putin einen Krieg mit der NATO gestartet.
Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine gab es seit 1997. US-Präsident George W. Bush setzte sich für eine NATO-Mitgliedschaft beider Länder ein. Aber letztlich stimmten Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy dagegen. Der Grund klingt aus heutiger Sicht absurd: Sie wollten Russland nicht unnötig reizen und keine Destabilisierung Osteuropas riskieren. Denn Putin hatte seine Ablehnung der Pläne schon damals deutlich gemacht.
Deshalb sagte die NATO: Es ist zu früh. Später vielleicht. Doch das Thema war erst einmal vom Tisch. Es kam erst 2014 wieder auf, im Zuge der Annektion der Krim. Paradoxerweise also genau durch das Ereignis, das einen NATO-Beitritt der Ukraine vorerst unmöglich machte.
Was hat die Krim damit zu tun?
Die NATO nimmt keinen Staat auf, der sich in einer Konfliktsituation befindet. Länder, in denen andere Truppen stationiert sind, kommen nicht in die NATO. Das gilt als ungeschriebenes Gesetz. Schließlich würde die NATO sich sonst einen Krieg in das Bündnis holen. Genau das dürfte Putins Kalkül gewesen sein: Mit der Annektion der Krim war ein NATO-Beitritt der Ukraine faktisch vom Tisch – auch, wenn es offizielle Versicherungen gibt, enger zusammenzuarbeiten. Putin hätte dafür nicht in die Ukraine einmarschieren müssen.
Auch das weist darauf hin: In der Ukraine geht es Putin nicht ausschließlich um die NATO. Sondern um das demokratische Regime in Kiew – und die Entwicklung der Ukraine in Richtung der EU. Das widerspricht seiner Ideologie und gefährdet seine Macht und seinen Einfluss.
Putin selbst hat seinen Blick auf die Geschichte und die Ukraine mehrfach deutlich gemacht. Schon 2005 bezeichnete er den Zusammenbruch der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts. Zuletzt behauptete er, es gäbe keine ukrainische Nation. Sondern nur eine große russische Nation, zu der die Ukraine gehöre. Das offenbart nicht nur seinen Geschichtsrevisionismus, sondern auch sein völkisches Denken. Und es erklärt, weshalb er mit dem Angriff auf die Ukraine selbst eine Abmachung, das Budapester Memorandum von 1994, gebrochen hat.
Wenn nur Demokratien Mitglied werden können, ist die NATO dann eine demokratische Wertegemeinschaft?
So sieht sie sich gerne selbst. Auch die deutsche Bundesregierung bezeichnet sie so. Aber eine Betrachtung der Menschenrechtslage und der Demokratieentwicklung in NATO-Mitgliedstaaten wie der Türkei und Ungarn zeigt schnell, dass Zweifel daran zumindest berechtigt sind. Die NATO ist in erster Linie ein Militärbündnis.
Was ist das heutige Ziel der NATO?
Die heutige NATO ist eine andere als die, die in der Zeit des Ost-West-Konflikts gegründet wurde. Man könnte sie als eine Art Sicherheitsagentur bezeichnen.
2010 definierte die NATO in Lissabon eine neue Strategie. Kernaufgaben sind seither die Wahrung der Freiheit und Sicherheit der Mitgliedstaaten mit politischen und militärischen Mitteln in den drei Bereichen kollektive Verteidigung, Krisenmanagement und kooperative Sicherheit.
Aber: „Angesichts der Krim-Krise und des Konflikts in der Ost-Ukraine seit dem Frühjahr 2014 ist die klassische Funktion als transatlantisches Verteidigungsbündnis wieder in den Mittelpunkt gerückt.“ Das hat der Politikwissenschaftler Johannes Varwick schon 2015 geschrieben.
Zuletzt attestierte der französische Präsident Macron der NATO 2019 noch den „Hirntod“. Das gilt seit dem Angriff der russischen Armee auf die Ukraine nicht mehr. Alle Folgen für die westliche Außen- und Sicherheitspolitik sind aktuell noch nicht absehbar. Aber Fakt ist: Die NATO kehrt wieder zu ihrem Ursprung als klassisches, defensives Verteidigungsbündnis zurück.
Es geht vorwärts in die Vergangenheit.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert