Was ist wertvoller: die gute Frage oder die richtige Antwort?
Für mich ist es die gute Frage, denn sie funktioniert wie ein Portal zur Welt: Sie provoziert andere gute Fragen.
Die Kraft guter Fragen habe ich vor ein paar Tagen in einem Blogpost des Stripe-Gründers Patrick Collison beobachten können. Er macht darin Inventur und stellt Fragen, auf die er gerade keine Antwort weiß. Das liest sich charmant und ist eine sanfte Art, den überschäumenden Gedankenstrom zu bändigen. Weswegen es zu meinem einzigen Neujahrsvorsatz geworden ist, bis zum Ende aller meiner Fragen nun jedes Jahr so eine Liste aufzustellen.
Meine Fragen drehen sich um Hochhäuser und die Reichen, um die Zukunft der Klima- und Drogenpolitik, meinen und deinen Lohnzettel:
Wie viel Angst haben die USA wirklich vor China?
Wenn eine Großmacht dorthin strebt, wo schon eine andere Großmacht ist, kommt es zum Krieg. Das nennen Historiker und Historikerinnen die Falle des Thukydides, der in der Antike am Beispiel Athens und Sparta beschrieb, wie „der Aufstieg Athens und die Angst, die er Sparta einflößte, den Krieg unausweichlich machten“.
Kann die Menschheit am Ende des Jahrhunderts ihren kompletten Energiebedarf aus Erneuerbaren decken, ohne den Planeten auch noch dafür ruiniert zu haben?
Der globale Strombedarf wird im Jahr 2050 um 50 Prozent größer sein als heute. Am Ende des Jahrhunderts wird er wiederum nochmal deutlich darüber liegen, schließlich ist Elektrifizierung der Schlüssel der Energiewende. Gehen wir sehr konservativ geschätzt von weiteren 50 Prozent aus, also eine Verdopplung im Vergleich zu 2021. Heute liefern erneuerbare Energien weltweit circa 25 Prozent des Stroms, davon stellen Wind (5,3 Prozent) und Solar (2,7 Prozent) den kleineren Teil. Wenn also aller Strom im Jahr 2100 aus Erneuerbaren stammen soll, müssen wir sie grob gerechnet versiebenfachen. Erneuerbare Energie wächst zur Zeit mit acht Prozent pro Jahr, halten wir das Tempo, erreichen wir das Ziel. Allein: Können wir dieses Tempo wirklich halten? Wasser-, Wind-, Solarkraft und die dazu unbedingt nötigen Batterien brauchen selbst Rohstoffe und Land. Gibt es hier Grenzen? Schon heute bräuchten wir 1,75 Erden, um unseren Bedarf so zu decken, dass er sich regenerieren kann.
Wie kann eine Zivilisation aussehen, die hochtechnisiert ist und der Natur mehr gibt als sie von ihr nimmt?
Daran schließt meine nächste Frage an. In den progressivsten Teilen der Landwirtschaft wird die aufbauende Landwirtschaft immer beliebter. Sie basiert auf einem einfachen Prinzip: Gib’ (deinem Ökosystem) mehr als du nimmst. Wenn es uns gelänge, dieses Prinzip zum Herzstück aller Produktion zu machen, könnten Menschheit und Planet für Jahrhunderte in ein neues, im Großen und Ganzen stabiles Gleichgewicht zurückkehren, das dem vergangenen stabilen Holozän gleicht. Die Herausforderung ist dabei, dieses Gleichgewicht zu schaffen ohne unsere Zivilisation abzuwickeln. Denn klar, radikaler Rückbau durch Krieg, Kollaps, Katastrophe wäre auch ein Weg; beschreiten will ihn niemand.
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Wie können wirklich lebenswerte, in ihre Nachbarschaften integrierte Wohnhochhäuser aussehen?
Jeden Tag versiegeln wir allein in Deutschland eine Fläche von circa 73 Fußballfeldern. Gleichzeitig gibt es nicht genügend Wohnungen in den Großstädten. Das deutet auf ein groteskes Missverhältnis hin. Wenn wir mehr Wohnungen haben und der Natur mehr Raum lassen wollen, bleibt doch nur der Weg nach oben, oder? Aber eigentlich alle bezahlbaren Wohnhochhäuser, in denen ich bisher war, sind anonym, hässlich und geradezu stimmungsfeindlich. Dass nicht nur ich das so sehe, zeigt sich an der Beliebtheit von Altbau und Häusern in der Vorstadt.
Folgt etwas auf die repräsentative Demokratie? Wenn ja, was?
Ich bin mir relativ sicher, dass unsere Ur-Ur-Ur-Ur-Ur-Enkel nicht mehr alle vier Jahre in die benachbarte Schule gehen, um wildfremden anderen Menschen per Kuli-Kreuz ihr formelles Mitspracherecht abzutreten. Um dann vier Jahre später wieder exakt das Gleiche zu tun, obwohl man im Zweifel keine Ahnung hat, was die Gewählten im Parlament getrieben haben. Die Benutzeroberfläche der repräsentativen Demokratie ist im App-Zeitalter eine Katastrophe. Corona und Klima zeigen zudem, dass auch repräsentative Demokratien erschreckend schlecht darin sind, exponentielle Entwicklungen zu verarbeiten und dann entsprechend darauf zu reagieren. Das muss nicht an der Demokratie liegen, aber vielleicht an ihrer konkreten Gestaltung. Eng verwandt damit: Was folgt auf Parteien?
Was folgt aus der Erkenntnis, dass im Grunde keine Regierung der Welt sich legitimiert fühlt, in der Klimakrise zu tun, was nötig ist?
Noch im letzten Jahr war ich kurzfristig pessimistisch (Jahre), mittelfristig (Jahrzehnte) und langfristig (Jahrhunderte) optimistisch, was die Klimakrise angeht. Das hat sich geändert. Inzwischen – seit Wahlkampf, Klima-Gipfel und Corona – glaube ich nicht mehr, dass es auch nur mehr als fünf Länder schaffen, ihre Klimaziele für 2050 einzuhalten. Das liegt nicht daran, dass die Technologien nicht da wären, sondern daran, dass eine andere Voraussetzung fehlt: politische Legitimität. Politiker:innen scheinen sich in der Mehrzahl nicht im Stande zu fühlen, das zu tun, was nötig ist. Denn sie wissen, dass das Ende ihrer Karriere bedeutet. Mit wirklich effektivem Klimaschutz gewinnt niemand Wahlen. Diese Dynamik muss sich ändern. Wie das gelingen kann? Kann ich nur raten.
Was wird fließen: Blut oder Geld?
Kannst du dich an eine richtig große Debatte in Deutschland erinnern, in der es um die rasant steigende Ungleichheit ging? Ja, ich auch nicht. Das Thema ist emotional leer geworden; die mächtigsten Stimmen unserer Öffentlichkeit interessiert es nicht. Das wird, und da unke ich mit großer Sicherheit, nicht so bleiben. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass lange Phasen extremer Ungleichheit immer in Umverteilung endeten. So wird es auch in dieser, unseren Phase sein. Entweder werden sich die Armen das Geld der Reichen mit Gewalt und Revolution nehmen oder es gelingt friedlich, weil neue (soziale) Technologien und dezidierte politische Reformen Geld von oben nach unten umleiten.
Werden Künstliche Intelligenz, Nanotechnologie, Quantencomputer und synthetische Biologie die Produktivität heben?
Von den großen technologischen Durchbrüchen der vergangenen zwei Jahrzehnte hatten die arbeitenden Menschen erstaunlich wenig. Während die Produktivität stieg, also mit weniger oder gleichbleibenden Kosten mehr Wert geschaffen werden konnte, stagnierten die Reallöhne der breiten Masse. Die zusätzlichen Gewinne flossen in die Hände der Unternehmenseigentümer. In den Bereichen Künstliche Intelligenz, Nanotechnologie, Quantencomputer und Synthetische Biologie steht auf Sicht von Jahrzehnten die nächste Kohorte technologischer Durchbrüche an. Werden sie die Verteilungsdynamik ändern?
Sollten wir alle Drogen legalisieren?
Was eine illegale Droge ist und was nicht, ist Ergebnis sozialer Aushandlung. Kokain illegal, Nasenspray okay, MDMA verboten, Alkohol beinahe erwünscht. Es gibt mutmaßlich sehr gute Gründe für unsere jetzige Aufteilung, erkannt habe ich sie aber noch nicht. Diese rätselhafte Aufteilung führt zu einem inkonsequenten politischen Umgang mit Drogen. Und da ein Verbot aller Drogen das gute Recht des guten Menschens auf einen guten Rausch untergräbt, sprich nicht funktionieren kann, bliebe ein anderer Weg, die Inkonsequenz aufzulösen. Legalize it all. Ob das eine gute Idee ist? Weiß ich nicht.
Gibt es einen Weg, Journalismus ohne Paywalls, ohne Spenden, ohne Werbung und (un-)mittelbar vom Staat kontrollierte Gebühren zu finanzieren?
Vielen vielleicht so nicht bekannt: Bis zuerst das Fernsehen und dann das Internet kamen, war eine Printzeitung eine Lizenz zum Gelddrucken. Werbetreibende konnten nirgendwo anders Anzeigen schalten, das Publikum konnte für leichte Unterhaltung und schnelle Information nirgendwo anders hingehen und speziell im Regionalen war man oft auch die einzige Zeitung am Platz. Heute ist das Gegenteil richtig: Vor allem gedruckte Tageszeitungen sterben aus, und Journalismus konkurriert mit Netflix, Instagram, TikTok, Twitter um Aufmerksamkeit. Diesen Kampf haben die alten Medien auf struktureller Ebene verloren. Plattformen liefern mit ihren Daten den Werbetreibenden passgenauere Targeting-Möglichkeiten und dem Publikum kostenlos Information und Entertainment. Alte Medien haben so immer weniger Kontrolle über den Vertrieb ihrer Produkte und damit auch über ihr Publikum.
Darauf reagierten alte Medien, in dem sie sich Geld aus anderen Quellen beschafften: vom Staat, vom Publikum (mit Zwang oder ohne), von Gönnern und Spenderinnen. Jede dieser Methoden hat entscheidende Nachteile, die verhindern, dass sie zu universellen Modellen werden können. Wer Geld vom Staat bekommt, ist abhängig. Wer Geld von Spenderinnen bekommt, braucht ein idealistisches Element. Wer Geld per Zwang von seinen Publikum holt, muss ständig einen strukturellen Vertrauensnachteil in der Beziehung zum Publikum ausgleichen. Und wer Paywalls nutzt (wie wir bei Krautreporter), sperrt große Teile des Publikums aus und bekommt mittelfristig Skalierungsprobleme (Ausnahmen sind Medien mit globaler Reichweite wie die New York Times), weil ein Mensch nur so und so viele Medien-Abos oder Mitgliedschaften haben kann; alte Medien konkurrieren auch im Medienbudget der Menschen mit den Plattformen.
Das Internet ist kulturgeschichtlich betrachtet eine sehr junge Technologie. Ich glaube deswegen, dass wir erst am Anfang der Experimente stehen. Die vorläufig finale geschäftliche Form, die Journalismus – wenn er dann überhaupt noch so heißt – annehmen wird, haben wir noch nicht gefunden.
Redaktion: Esther Göbel; Fotoredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger