Jekaterinburg- Eine verschneite Urbane Landschaft mit zugefohrenem Fluss und rauchendem Schornstein.

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Nachrichten, erklärt

Bei meiner Reise durch Russland lernte ich: Die Angst wächst

Ich habe ein halbes Jahr in Russland gelebt, die Menschen dort haben mir erklärt: Es wird immer ungemütlicher. Und Putin? Verliert an Rückhalt – auch unter den eigenen Landsleuten.

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Wir paddeln an den Hügeln vorbei, an denen früher die Baracken des Gulag standen. Ich, die einzige Ausländerin, und 20 Russ:innen auf einer Bootstour durch den Ural. Wir bewegen uns die Tschussowaja entlang, einen Fluss, der sich mehrere Hundert Kilometer durch das Uralgebirge schlängelt. Das Wasser wirft das Bild der umliegenden Hügel zurück: kahle Birken und immergrüne Fichten. Um diese Jahreszeit – es ist Mitte Oktober – streifen wahrscheinlich mehr Bären als Menschen durch diese Wälder. Handys sind nutzlos, denn hier, etwa fünf Autostunden von Perm entfernt, gibt es keinen Empfang. Das einzige Geräusch ist das Gurgeln des Flusses.

Wieso ich bei Nieselregen und ein paar Grad über Null durch den Ural schippere? Eingepackt in ein Top, zwei Pullis, drei Hosen, darüber einen Anorak und eine überdimensionale Anglerhose, die an den Hosenbeinen in zwei Gummistiefel übergeht? Weil ich mein Auslandssemester in Russland verbringe. Genauer gesagt in Nischni Nowgorod, einer Millionenstadt 400 Kilometer östlich von Moskau entfernt. Dort lebe ich in einer russischen Gastfamilie, aber dazu später mehr.

Ich wollte für mein Auslandssemester nicht nach Portugal oder in die USA so wie die meisten meiner Kommiliton:innen, ich wollte nach Russland. Weil dieses Land mit Deutschland eine jahrhundertelange Geschichte verbindet. Weil Russland eine Weltmacht ist, die entscheiden kann, ob es Krieg oder Frieden gibt. Weil Russland uns Gas verkauft und wir Russland Autos. Ich will dieses Land verstehen – oder es zumindest versuchen. Und ich will darüber schreiben, allerdings anonym. Denn für Journalist:innen wird es in Russland immer gefährlicher.

Schon seit Jahren sprechen Journalist:innen und Politiker:innen von einer „Eiszeit“ zwischen Russland und „dem Westen“. Doch gerade bildet sich ein dicker Permafrost, der sich nur schwer wieder auftauen lässt. Menschenrechtler:innen, zum Beispiel Irina Scherbakowa, und Medien wie der Economist warnen: Russland wird gerade zur Diktatur.

Stimmt das? Dieser Frage werde ich in meinem Text nachgehen. Ich habe Statistiken gelesen, mit Expert:innen gesprochen. Und mit einigen jener Menschen, die ich in Russland kennengelernt habe.

Auf der Bootstour friere ich noch immer, während sich vor meinem inneren Auge links und rechts des Flusses die alten Gulag-Baracken erheben. Am Abend zuvor hatte mir meine Bootsgruppe davon erzählt. Jetzt schüttet Alexej mir ein Glas Wodka ein. Er rudert rechts neben mir, zeigt auf die Hügel und sagt: „Dort standen sie.“

Viele Russ:innen wollen mehr als nur ihre Ruhe

Alexej ist das, was ich insgeheim einen „Outdoor-Russen“ nenne. Er geht in seiner Freizeit angeln, verbringt die Wochenenden am liebsten auf der Datscha und postet auf VK, dem russischen Facebook, Fotos von sich in Tarnkleidung. Seine Arbeit ist ihm nicht wichtig und seine Frau nennt er „Sönnchen“. Wir haben nicht viel gemeinsam. Doch der Zufall hat dazu geführt, dass ich vorne links rudere, er rechts daneben, und deshalb unterhalten wir uns. „Ich habe Putin für Stabilität gewählt“, erzählt er mir.

Die Schrecken und Unsicherheiten der Sowjetunion, die chaotischen Neunzigerjahre, der Wunsch nach einem starken Mann, der alles in Ordnung bringt – es ist zigfach erzählt worden, wieso Russ:innen Putin unterstützen. Doch Menschen wie Alexej werden immer weniger. Russ:innen, die sich mit Datscha, Angeln und dem Einlegen von sauren Gurken beschäftigen, solange die Politik sie in Ruhe lässt.

Nicht nur in Nischni Nowgorod, auch auf verschiedenen Reisen sind mir Russ:innen begegnet, die mehr wollen, als nur in Ruhe gelassen zu werden. Sie sind unzufrieden mit dem Stillstand der Wirtschaft, mit der Inflation, der Armut und der Korruption, mit Hilfe derer sich eine kleine Gruppe bereichert. Und immer mehr tun ihren Unmut darüber offen kund.

Anfang 2021 demonstrierten landesweit Zigtausende gegen Putin und die Festnahme des Oppositionsführers Alexej Nawalny. Es waren die größten Proteste seit den Unruhen von 2012. Sie beschränkten sich nicht auf die regierungskritischen Metropolen Moskau und Sankt Petersburg: Auch in Wladiwostok, Tomsk und sogar bei -50 Grad in Jakutsk gingen Menschen auf die Straße.

Vladimir Putin trägt Outdoorkleidung und lehnt an einem Baum, lasziv in die Sonne schauend

Das denkende Staatsoberhaupt in warmem Licht: So präsentiert der Kreml Putin gern, wie auf diesem offiziellen Pressebild. Die eigenen Landsleute aber mögen ihn anders sehen. © Getty Images / via Kremlin Anadolu Agency/Press Office/Handout

Putin schlägt zurück

Mit ihrer Unzufriedenheit nimmt aber auch die Repression des Staates zu. Putin schlägt zurück. Und zwar mit allen Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen: Die Polizei wird brutaler, die Gesetze werden schärfer und für Journalist:innen wird es immer schwerer zu berichten. „Die letzten 500 Tage waren ein beispielloser Angriff der Behörden auf die unabhängigen russischen Medien“, schreibt die Nowaja Gaseta, eine der renommiertesten unabhängigen Zeitungen des Landes.

Die Zahl der politischen Gefangenen steigt in der jüngsten Zeit rasant. Laut der Menschenrechtsorganisation Memorial befinden sich aktuell mindestens 420 Menschen in politischer Haft. Vor einem Jahr waren es noch 362. Vor fünf Jahren weniger als 100. Die tatsächliche Zahl ist zweifellos höher, schreibt Memorial, und sei vergleichbar mit der Zahl der Gefangenen in der späten Sowjetunion.

Die Menschen spüren das. Laut Umfragen ist die Angst vor Repressionen in der Bevölkerung historisch hoch. 2015 hatten noch 17 Prozent Angst vor einem härteren politischen Regime – 2021 sind es mehr als doppelt so viele, nämlich 41 Prozent. Vor sechs Jahren fürchteten 20 Prozent der Menschen eine Rückkehr zu Massenrepressionen – 2021 sind es mehr als die Hälfte.

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„Es gibt kaum noch Möglichkeiten für legale oppositionelle Tätigkeiten“, schreibt mir ein Freund. Ein anderer will das Gespräch lieber auf Telegram führen, als ich ihn vor den Parlamentswahlen frage, was er wählen wird. Whatsapp ist ihm zu unsicher. Eine weitere Freundin dreht sich unwillkürlich um, als ich sie in einem Café auf Nawalny anspreche. „Es ist gruselig, hier darüber zu reden“, sagt sie.

Wer jung ist, hat was gegen Putin

Schon lange vor Corona war Spazierengehen nationale Lieblingsbeschäftigung in Russland. Wer sich in Deutschland zum Kaffeetrinken trifft, verabredet sich in Russland auf einen Spaziergang. Spazierengehen kann bedeuten, dass man gemeinsam Tee trinkt oder bis frühmorgens von einer Kneipe zur nächsten zieht. Meistens bedeutet es tatsächlich, dass man ziellos durch die Straßen streift, vorbei an Cafés, Blumenläden und Plattenbauten. In einem halben Jahr in Russland bin ich mehr spaziert als in eineinhalb Jahren Pandemie in Deutschland.

Eine meiner Spazier-Freund:innen ist Darja, die anders heißt, aber in diesem Text nicht mit ihrem echten Namen genannt werden will. Wir kennen uns aus einem Kunst-Club: Wenn ich mit Darja in eine Ausstellung gehe, lerne ich von ihr mehr als in zwei Jahren Kunstunterricht. Mit ihrer Mutter hat sie Westeuropa bereist, Marokko, sogar in Thailand war sie. Das ist ungewöhnlich für eine Russin Anfang zwanzig. Die meisten in diesem Alter haben Russland kein einziges Mal verlassen.

Es ist November 2021 und die russische Regierung hat gerade einen einwöchigen Lockdown ausgerufen. Cafés und Läden sind geschlossen, weshalb wir einen corona-konformen Spaziergang machen und in den Straßen von Nischni Nowgorod nach Street Art suchen. „Es ist schwierig, sich eine Meinung zu bilden, wenn jeder etwas anderes sagt“, erklärt mir Darja. Ein Satz, den ich schon oft von Russ:innen gehört habe und den ich ziemlich unsinnig finde. Als ich ihr das sage, lacht sie nur und fragt: „Wie lange gibt es die Demokratie schon in Deutschland? Und wie lange in Russland?“

Die junge Generation war noch nie ein Fan von Putin, das zeigen Umfragen, die sich in jedem beliebigen Gespräch mit Russ:innen unter 30 bestätigen lassen. Doch inzwischen hat Putin ein ernsthaftes Problem. Je weniger die Leute fernsehen, desto größer ist die Abneigung gegen ihn und sein Regime. Das hängt auch mit der zunehmenden Bekanntheit von Nawalny zusammen.

Vor knapp einem Jahr veröffentlichte der bekannteste Kreml-Gegner einen Film mit dem Titel „Ein Palast für Putin“. Darin zeigt er einen eine Milliarde Euro teuren Palast inklusive Kasino, Kirche und vergoldete Klobürsten, den Putin mit Bestechungsgeldern gebaut haben soll. Der Film hat 119 Millionen Aufrufe. Zum Vergleich: In Russland leben knapp 144 Millionen Menschen.

Auch Umfragen zeigen, dass dieses Video beispiellos in der russischen Öffentlichkeit eingeschlagen hat: Allein in den Wochen nach der Veröffentlichung hatte mehr als ein Viertel aller Russ:innen den Film gesehen. Das ist viel mehr als sonst: Drei Jahre früher hatten nur sieben Prozent das damals aktuelle Nawalny-Video geklickt. Bei 17 Prozent der Befragten hat sich in den Wochen nach der Veröffentlichung des Videos die Meinung zu Putin verschlechtert.

Gleichzeitig wird das Team Nawalny immer brutaler bekämpft: Noch vor der Veröffentlichung des Palast-Films überlebte Nawalny einen Giftanschlag mit dem Nervenkampfstoff Nowitschok. Als Verantwortlicher steht der russische Geheimdienst FSB im Verdacht. Seit Anfang des Jahres sitzt Nawalny im Straflager, seine Organisationen sind seit Juni verboten und arbeiten vom Ausland aus.

Alte Unterstützer:innen wenden sich ab

„Ich hasse Putin nicht“, sagt Kolja und klingt selbst ein bisschen überrascht. Wir kommen gerade von einem Konzert und trinken in einer Bar einen Cocktail namens „Transsibirische Eisenbahn“. Kolja, 29 Jahre alt, ist nonbinary, fühlt sich also keiner Geschlechtsidentität eindeutig zugehörig. Regelmäßig macht sich Kolja mit dem Lockenstab Wellen in die schulterlangen, dunklen Haare, schminkt sich die Lippen, schlüpft in eng anliegende Kleider und verlässt als „Karina“ das Haus.

Russland ist ein Land, in dem 69 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass man nicht mit einer Person gleichen Geschlechts zusammen sein sollte. Einmal gehen Karina und ich in ein indisches Restaurant. Gedimmtes Licht, leise Musik, doch der Mann am Nebentisch starrt uns an. Noch bevor unsere Getränke kommen, verlassen wir das Restaurant wieder. Karina hat oft Angst vor Männern.

Dennoch hasst Kolja/Karina Putin nicht, hatte sogar in dessen ersten Amtszeiten überhaupt nichts gegen ihn. Das hat sich zwar inzwischen geändert, liegt aber an wirtschaftlichen und sozialen Problemen und nicht an eigener Diskriminierungserfahrung. „Das Land entwickelt sich nicht so, wie es könnte“, schreibt Kolja/Karina mir später, als ich noch einmal nachfrage. „Gerade ist es ein Rückschritt in jeder Hinsicht.“

Viel Geld fließe ins Militär und in die Rüstungsindustrie anstatt in den sozialen Bereich. „Wir brauchen Bewegung und keine Stagnation, keinen Krieg und archaische Bedrohungen.“

Viele, die Putin früher ganz okay fanden, sind inzwischen bereit für einen Machtwechsel. Die viel beschworene Stabilität zieht nicht mehr. Die Wirtschaft stagniert seit 2014, was schlecht ist für Putins Zustimmungswerte. Die Corona-Krise und eine Inflation von zuletzt 8,4 Prozent geben keine Sicherheit, sondern machen vor allem Sorgen. Die Annexion der Krim hat kurzfristig zu patriotischer Begeisterung geführt, ist aber inzwischen einer allgemeinen Ernüchterung gewichen.

In den Wahlen spiegelt sich das nur bedingt wider. Putins Partei Einiges Russland hat zwar bei den letzten Parlamentswahlen im September ein paar Prozentpunkte verloren, ist aber immer noch im Besitz einer Zwei-Drittel-Mehrheit. Allerdings wird der Sieger-Partei massive Wahlfälschung vorgeworfen, die Wahlbeteiligung war mit rund 45 Prozent gering. Wenn ich Russ:innen frage, warum sie nicht wählen gehen, antworten die meisten, dass das Ergebnis eh schon vorher entschieden sei.

Soljanka und Staatsfernsehen

Während der Widerstand wächst, wird Putin aggressiver. Mir ist erst in Russland klar geworden, wie krass die Propaganda ist. Wie sehr gegen die Ukraine gehetzt wird. Wie die westliche Gesellschaft als instabil und dekadent dargestellt wird. Wie die NATO von vielen als Bedrohung wahrgenommen wird. „Wir gegen die“, das ist die Parole, die der Kreml verbreiten will. Wer seine Informationen nur aus dem Staatsfernsehen bezieht, der glaubt das. Einer von ihnen ist mein Gastvater Pawel.

Er begrüßt mich jeden Tag auf Deutsch mit „Guten Morgen“, wobei es eher wie „Gutten Morrrgen“ klingt. Wenn ich auf eine Reise gehe, drückt er mir für den Weg ein Tütchen mit Süßigkeiten und Obst in die Hand. Er ist einer dieser Menschen, der sich auf der ganzen Welt mit jedem unterhalten kann, obwohl er nur Russisch spricht. Er und seine Frau lieben Reisen. „Die einfachen Menschen sind überall gut“, sagt Pawel immer.

Abends, wenn er von seiner Arbeit bei Gazprom wiederkommt, sitzen wir oft zusammen an einem winzigen Tisch in der winzigen Küche. Auf dem Tisch steht ein Schüsselchen mit Suschki, russischen trockenen Keksen, auf dem Herd ein mit Blumenmuster bedruckter Wasserkessel. „Verstehst du“, sagt Pawel dann, schöpft meinen Teller mit Plov oder Soljanka voll, und erklärt mir, was er vom Weltgeschehen hält. „Wenn der Westen zufrieden ist, heißt das, dass es schlecht ist für uns. Und wenn dem Westen etwas nicht gefällt, dann ist es gut für uns.“

Eine Polizeikette sperrt eine Straße. Im Hintergrund ist eine Mittelalterliche Verteidigungsanlage zu sehen.

Einsatzkräfte sollen die Demonstranten zurückhalten, als im Januar 2021 hunderte von ihnen in Nischni Nowgorod gegen die Verhaftung von Alexej Nawalny protestieren. © Getty Images / via Aleksey Fokin/SOPA Images/LightRocket

Russland kämpft allein gegen den Westen

Früher dachte ich, dass sich Russland und der Westen einfach nur besser verstehen müssen, um gemeinsam Lösungen für die unzähligen Krisen dieser Welt zu finden. Auch deshalb wollte ich mein Auslandssemester in Russland machen und bei einer normalen Familie leben. Mein kleiner Beitrag zur Völkerverständigung, so dachte ich.

Ich habe in Russland großartige Menschen kennengelernt: herzliche, neugierige, am Austausch interessierte Menschen. Aber seit ich hier bin, glaube ich auch, dass Dialog auf politischer Ebene nichts bringt. Der Kreml hat kein Interesse an Dialog. Putin will nicht reden. Der ultimative Gegensatz zwischen West und Ost, die angebliche Bedrohung des Westens sind elementarer Bestandteil seiner Propaganda.

Seit etwa einem Jahr führt Putin einen regelrechten Krieg gegen unabhängige Medien, Journalist:innen und NGOs, indem er sie zu „ausländischen Agenten“ erklärt. Organisationen, die „politisch aktiv“ sind und Geld aus dem Ausland erhalten, müssen sich beim Justizministerium registrieren und über jede einzelne Ein- und Ausgabe dem Ministerium berichten. Außerdem müssen sie jede Veröffentlichung, jeden Artikel, jeden Instagram-Post mit dem Schriftzug versehen, dass sie „ausländischer Agent“ sind. Diese Kennzeichnung – man könnte es auch Brandmarkung nennen – führt dazu, dass Medien Anzeigekunden verlieren und den NGOs die Kooperationen aufgekündigt werden.

Allein 2021 wurden mindestens 21 Organisationen als ausländische Agenten eingestuft, darunter auch die bekannte Internetzeitung Meduza. In einem Statement schreibt der Chefredakteur, dass dies der Tod sei für das bisherige Meduza. Und er stellt klar: „Das Ziel der Behörden ist es, Meduza zu töten.“

Wer nicht folgt, wird aufgelöst

Was droht, wenn man gegen die Auflagen verstößt, zeigt der dramatische Fall der Menschenrechtsorganisation Memorial, eine der größten und renommiertesten Menschenrechtsorganisationen des Landes. Memorial dokumentiert zum Beispiel die grausamen Verbrechen der Stalinzeit oder zählt, wie viele politische Gefangene derzeit in Russland inhaftiert sind. Auch ich habe mich in diesem Text schon auf ihre Zahlen berufen. Seit 2016 ist Memorial als „ausländischer Agent“ eingestuft, Ende Dezember 2021 löste ein Gericht den Internationalen Dachverband von Memorial auf. Die Begründung, unter anderem: Auf alten Büchern fehle das Siegel „Ausländischer Agent“.

Memorial gilt als das historische Gedächtnis Russlands, eine Organisation, die die sowjetische Vergangenheit nicht verherrlicht, sondern ihre grausamen Seiten dokumentiert. Der Kreml hat der Zivilgesellschaft die Macht über diese Erinnerung entrissen.

Wie soll ein Dialog stattfinden, wenn Putin so gegen die eigene Zivilgesellschaft vorgeht? So ziemlich jedes unabhängige Medium, jede kritische NGO befinden sich inzwischen auf der Liste der „ausländischen Agenten“.

Doch nicht nur im eigenen Land zieht Putin die Schrauben an. Seit einigen Wochen sind auf Satellitenbildern und Videos massive Truppenbewegungen zu beobachten: Bis zu 100.000 russische Soldaten sollen sich an der Grenze zur Ukraine befinden. Die Ukraine befürchtet eine Invasion, die G7-Staaten reagieren alarmiert, der Kreml fühlt sich wie immer zu unrecht als Aggressor dargestellt. Ob Russland wirklich in die Ukraine einmarschieren wird, weiß am Ende nur Putin selbst. Tatsache ist jedoch, dass er die Situation nutzt, um ein ganzes Paket an sogenannten Sicherheitsgarantien einzufordern, zum Beispiel, dass die Ukraine niemals der NATO beitreten soll.

Wenn schon mehr reden, dann mit mehr Konsequenzen

Es ist eine sehr brachiale Art der Diplomatie. Eine, die vielleicht eine ähnliche Antwort erfordert. Anstatt immer nur reflexhaft „mehr Dialog“ zu fordern, wie es in regelmäßigen Abständen Politiker:innen tun, könnten strikte Antworten mehr bewirken. „Diplomatie kann sehr restriktiv sein“, sagt mir Tatiana Golova vom Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin. Einen Stopp der Gaspipeline Nord Stream 2 findet sie zum Beispiel sinnvoll.

Meine Zeit in Russland hat mich desillusioniert: Tief sind manchmal die Gräben zwischen unseren Werten, zwischen dem, was wir für richtig und falsch halten.

Sie hat mir aber auch Hoffnung gegeben. Solange Alexej und ich noch ein Gesprächsthema haben, wenn wir durch den Ural schippern, und solange Pawel mir abends in der Küche etwas erzählt, solange gibt es noch eine Brücke zwischen zwei Welten, die sich voneinander entfernen.

Es ist das Einzige, was bleibt, gegen ein Regime, das immer radikaler wird.


Der Name der Autorin sowie ihre Identität sind der Redaktion bekannt. Da die Autorin sich aber ohne Journalisten-Visum in Russland aufhält, haben wir ihren Namen anonymisiert.

Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger

Bei meiner Reise durch Russland lernte ich: Die Angst wächst

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