Der deutsche Konservatismus steckt in einer tiefen Krise. Erst hat die CDU die Bundestagswahl 2021 gegen die SPD verloren. Dann profitiert nicht CDU vom Umfrage-Rekordtief der Ampel-Koalition im Sommer 2023, sondern die AfD. Und nun hat auch noch der CDU-Parteichef Merz damit geliebäugelt, mit der AfD auf der lokalen Ebene zusammenzuarbeiten – zumindest bis er nach dem öffentlichen Aufschrei zurückruderte.
Dass sie ein Problem hat, weiß auch die CDU: Am Tag, nachdem die CDU die Bundestagswahl 2021 verloren hatte, trat Sachsens CDU-Ministerpräsident Michael Kretschmer vor die Kameras und sagte: „Die Grundhaltung, dass wir weitermachen wie bisher, muss ins Verderben führen“. Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn erklärte im Deutschlandfunk: „Wir sind jetzt in der größten Krise unserer Geschichte“. Und Friedrich Merz warnte in der Bild am Sonntag, die Partei sei „in ihrem Charakter als Volkspartei gefährdet“.
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Die drei CDU-Politiker waren sich also einig: Die Partei muss sich grundsätzlich neu erfinden, um zu überleben. Aber wie konnte es überhaupt soweit kommen? Welche Möglichkeiten hat die Partei jetzt, um wieder erfolgreich zu werden? Und wieso liebäugeln manche in der CDU jetzt mit der AfD?
Was bedeutet das eigentlich, konservativ?
Jens Spahn beschrieb Konservatismus einmal so: „Wir verlangsamen die Veränderungen so, dass sie erträglich sind.“ Ähnlich sieht das Andreas Rödder, CDU-Vordenker und Professor für Neueste Geschichte an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz. Der Liberalismus propagiere die Freiheit, der Sozialismus die Gleichheit. Der Konservatismus habe dagegen kein festes, inhaltliches Programm. „Er ist vielmehr eine bestimmte Haltung zum Wandel“, schrieb er im Spiegel. In Zeiten, in denen die Welt sich rasant wandelt, sollten Konservative die Veränderungen ausbremsen. Um den Menschen nicht zu viel zuzumuten.
„Aber Konservative wollen nicht einfach nur der Bremsklotz der Geschichte sein“, sagt Thomas Biebricher, Politikwissenschaftler an der Copenhagen Business School und Autor von „Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus“. Der Begriff Konservatismus stamme vom lateinischen „conservare“, das bedeutet „erhalten“. Der Wunsch, Teile des Status quo vor Veränderung zu bewahren, sagt Biebricher, sei ein Kernanliegen von Konservativen.
Zwei Fragen beantworten Konservative also auf eine ganz bestimmte Art:
Was sollten wir in unserer Gesellschaft erhalten?
„Typischerweise das, was man als normal, zeitgemäß oder natürlich empfindet“, sagt Biebricher.
Und wie sollten Veränderungen ablaufen?
Nicht plötzlich, sondern Schritt für Schritt, sagt Biebricher. „Kein Tabula Rasa, keine Revolutionen und keine großflächigen radikalen Transformationen“.
Weil sich aber jede Gesellschaft immerwährend verändert, liege im Konservatismus eben auch ein wiederkehrender Konflikt: Konservative befürworten heute das, was sie gestern oder vorgestern noch bekämpften.
Ein Beispiel ist die „Ehe für alle“. Jahrelang wehrte sich die Union unter Angela Merkel dagegen. Bis sie verstand, dass die Mehrheit der Deutschen diese längst befürwortete. Im Juni 2017 kündigte Merkel überraschend an, Abgeordnete sollten bei der Abstimmung über einen entsprechenden Gesetzesentwurf frei nach ihrem Gewissen entscheiden – egal wie die Partei dazu stehe. 75 Unions-Abgeordnete stimmten dafür, die „Ehe für alle“ kam.
So gehe es Konservativen ständig, sagt der Politikwissenschaftler Biebricher. „Konservative müssen andauernd Positionen räumen und sagen: Na gut, so haben wir zwar gestern gedacht, aber heute sehen wir es eben anders.“ Unter Angela Merkel musste die CDU allerdings besonders häufig zur Seite rücken. Und das habe einen Grund, sagt Biebricher.
Die Logik des Konservatismus passt nicht zu den Herausforderungen der Zukunft
Der treue konservative CDU-Wähler ist praktizierender Christ und Teil der Generation 60plus. Das Problem: Es gibt ihn immer seltener. Die konservative Stammwählerschaft schrumpft, seit Jahrzehnten. Die Gesellschaft wird immer vielfältiger, Menschen binden sich seltener an einzelne Parteien.
Weil sie mit der geschrumpften Stammklientel keine Wahlen mehr gewinnen könne, sei die Union seit der Jahrtausendwende Richtung Mitte gerückt, sagt Biebricher. Daten belegen die Kursänderung. Die Wissenschaftler:innen des „Manifesto Project“ in Berlin untersuchen, wie Parteien sich inhaltlich verändern. Auf einer Skala markieren sie, wie Wahlprogramme sich zwischen den Polen „liberal-progressiv“ und „konservativ-autoritär“ über die Jahre hin- und her bewegen. Ihre Arbeit zeigt: Seit den 1990er Jahren bewegt sich die CDU besonders in kulturellen Fragen weiter in Richtung Mitte.
Das Problem: Wenn alte Positionen schwinden, müssten eigentlich neue nachwachsen. Das sei in den letzten 20 Jahren aber kaum geschehen, sagt Politikwissenschaftler Biebricher. „Der organisierte politische Konservatismus hat in den letzten zehn Jahren einfach nur von dem Ruf gelebt, kompetent durch Krisen führen zu können“. Inzwischen sei auch das vorbei. Nach der Finanzkrise 2008 glaubten noch Anhänger:innen aller Parteien, dass Merkel und die Union am besten geeignet waren, die Krise zu bewältigen. In der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 war das anders. Die Union zerstritt sich, die AfD erstarkte. Zu Beginn der Coronakrise 2020 legte die Union in Umfragen kräftig zu. Aktuelle Wahlbefragungen zeigen, dass die Union massiv an Vertrauen der Wähler:innen verloren hat. Das gilt auch für die Klimakrise.
Die stellt die Union vor ein großes Problem. Die Logik des Konservatismus – Veränderungen verlangsamen und den Status quo bewahren – scheitert an der zentralen Herausforderung der Zukunft, der ökologischen Transformation: Zögern, Taktieren und Kompromisse verschlimmern die aktuellen Krisen. Allen voran die Klimakrise.
Den Konservativen fehlen die Feinde
Die Existenzkrise des deutschen Konservatismus, sagt Biebricher, hat aber noch einen weiteren Grund. „Konservative haben sich schon immer aus ihren Feindbildern und ihren Gegnerschaften gespeist“. Früher waren das vor allem der Sozialismus und die Grünen. Aber in den letzten 30 Jahren seien diese Feindbilder weggebrochen. Mit dem Ende der Sowjetunion war der Kalte Krieg vorbei. Und damit auch das Schreckensszenario einer sozialistischen Bedrohung, das Konservativen gerne beschworen, um für sich zu werben.
Zwar warnte die Union auch in den letzten Wochen des Wahlkampfs 2021 noch vor einem „historischen Linksruck“, doch die Realität hat sie längst überholt. Der Pragmatiker Olaf Scholz wirkt als Kanzler kaum, als würde er die sozialistische Revolution planen.
Gleichzeitig rückten die Grünen ins bürgerliche Lager vor, mäßigten sich in ihren Auftritten und arbeiteten an ihrem Image: Von der Fundamentalopposition zur Regierungspartei. Ihnen spielt in die Karten, dass der Kampf gegen die Klimakrise längst kein Nischenthema mehr ist. Er lässt sich sogar prima mit dem Wunsch verbinden, die Schöpfung zu erhalten. So lockt die Partei auch konservative Wähler:innen an, denen die Union nicht genug für das Klima tut. Und bei einigen der wichtigsten verblieben progressiven Projekten von Grünen und SPD blockiert der Koalitionspartner FDP.
Die Frage, gegen wen man die eigene Politik richtet, sei inzwischen also schwieriger zu beantworten, sagt Biebricher. „Besonders, wenn man nicht sofort in einem Boot mit Rechtspopulisten sitzen will“. Ausgerechnet darin sehen aber viele Konservative weltweit einen möglichen Ausweg aus der eigenen Krise.
Viele konservative Parteien Europas sind nach rechts gerückt
Mit ihrer Midlife-Crisis ist die CDU nicht allein. Von den Niederlanden bis Italien, in vielen westlichen Demokratien kämpfen konservative Parteien ums Überleben. Die Strategien sind unterschiedlich. Aber die Versuchung, die inhaltliche Lücke einfach mit Positionen von weiter rechts zu füllen, ist groß. In den USA, Ungarn, Polen, Österreich und in Brasilien haben Konservative diesen Weg eingeschlagen. Wie kam es dazu?
„Man begibt sich auf die Suche nach etwas Neuem. Und dieses Neue ist autoritärer und polarisierter“, sagt Natascha Strobl. Die Politikwissenschaftlerin beobachtet diese Entwicklung schon seit Jahren. In ihrem Buch „Radikalisierter Konservatismus“ analysiert sie, wie Konservative weltweit Sprache, Strategien und Inhalte der Neuen Rechten übernehmen. Dem radikalisierten Konservatismus, sagt sie, gehe es nicht mehr darum, den Status quo zu bewahren, sondern ihn zu überwinden. Er breche mit der alten Logik des Abmilderns und Moderierens. Und ersetzte sie mit rechter Stimmungsmache. In Zeiten des Wandels verspricht er den Wähler:innen Sicherheit.
Der radikalisierte Konservatismus, erklärt Strobl, verhalte sich ständig wie im Wahlkampf. Statt gemeinsam mit anderen Parteien über Inhalte zu streiten und Lösungen zu finden, wolle er den politischen Gegner provozieren und einen Aufreger nach dem anderen produzieren.
Auseinandersetzungen folgten einer Kampf-Logik: Es gibt nur Gewinner und Verlierer. Politik werde so stark emotionalisiert, dass Inhalte kaum noch eine Rolle spielten.
Der politische Gegner werde so auf Trab gehalten. Konservative selbst könnten sich durch Grenzüberschreitungen, Polarisierung und Stimmungsmache als Alternative zur „langweiligen“ Politik des Establishments inszenieren. Obwohl sie selbst Teil davon sind.
Ein Paradebeispiel dafür ist der österreichische Ex-Kanzler Sebastian Kurz. Er hatte die konservative Volkspartei ÖVP radikal umgebaut und auf seine Person zugeschnitten, sich dabei an Sprache und Vorgehen an der extremen Rechten orientiert – und Wahlen gewonnen.
Radikalisierte Konservative, sagt Strobl, haben oft eine einzige, charismatische Führungsperson. Einen Märtyrer für Land und Partei. Der bricht bewusst Regeln und kämpft gegen alle, die ihm die Gefolgschaft verweigern. Und wiederholt Lügen so lange, bis die eigenen Anhänger:innen sie als Wahrheit betrachten. Trump sei dafür das beste Beispiel. Einer Umfrage zufolge glaubte im Mai 2021 jede:r zweite Anhänger:in der Republikaner an die Lüge, dass die Demokraten Trump um den Wahlsieg betrogen hätten. Die Gefahr, die Strobl darin sieht: Wenn eine politische Gruppe die Wirklichkeit einfach nicht mehr anerkennt, könnten Anhänger:innen anderer Parteien sich mit ihnen auch kaum noch einigen. Das entziehe einer liberalen Demokratie ihre Grundlage: Die Möglichkeit zum Kompromiss.
Und in Deutschland? Die Versuchung eines Rechtsrucks sei auch für die CDU da. „Es war eine Kränkung, dass eine langweilige sozialdemokratische Partei unter Olaf Scholz die Union geschlagen hat. Da kommen Emotionen ins Spiel.“
Nach der Wahlniederlage der Union schlug der CDU-Politiker Tilman Kuban vor, die CDU könne sich in ihrer Neuausrichtung auch an Sebastian Kurz orientieren.
„Wer polarisiert, trägt nicht zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei, sondern sorgt dafür, dass sie in Lager zerfällt“
Manche Konservative in Deutschland versuchen bereits, den Weg der Radikalisierung einzuschlagen, wie die Oppositionsarbeit der Union zeigt: Etwa, wenn Jens Spahn bei Markus Lanz behauptet, Grüne Politiker:innen wollten Einfamilienhäuser verbieten – obwohl die Grünen das nie gefordert hatten. Oder wenn der thüringische CDU-Chef Mario Voigt erklärt, Habeck wolle mit dem Heizungsgesetz eine Energie-Stasi einsetzen. Und in manchen Kommunen arbeiten AfD und CDU längst zusammen. In Limbach-Oberfrohna stimmten sie zum Beispiel gemeinsam gegen neue Stolpersteine.
Johannes Hillje ist Politikberater und Autor und hat auch schon für die Grünen und die SPD gearbeitet. Konservative Strateg:innen, sagt er, hätten von der AfD gelernt, wie eine Partei die politische Agenda allein durch Polarisierung, Provokation und Stimmungsmache beeinflussen könne. Sich daran zu orientieren, sei ein kurzsichtiger Reflex. Kurzfristig könne das vielleicht helfen, der Union wieder ein Profil zu geben.
Aber rechtspopulistische Methoden und Feindbilder widersprechen eigentlich konservativen Werten: „Wer polarisiert, trägt nicht zum Zusammenhalt der Gesellschaft bei, sondern sorgt dafür, dass sie in Lager zerfällt.“ Hillje glaubt nicht, dass ein scharfer Rechtskurs der CDU langfristig Erfolg bringen würde.
Bei der Bundestagswahl verlor die Partei die meisten Stimmen an SPD, FDP und Grüne, nicht an die AfD. Und bei den vier Landtagswahlen 2022 gewann die CDU am deutlichsten in Schleswig-Holstein: also mit dem liberalen Kandidaten Daniel Günther, der Merz für seinen populistischen Oppositionskurs kritisiert. Die Union müsste sich deshalb fragen, was ein moderner Konservatismus überhaupt ist. Wie steht er zu Klimakrise, Digitalisierung und europäischer Sicherheitspolitik?
Die Frage soll eigentlich das neue Grundsatzprogramm der CDU für die nächsten zehn Jahre beantworten. Die CDU begann 2018 mit der Arbeit daran, heute ist es immer noch nicht fertig. Ein solcher Prozess dauert lange. Die Grünen arbeiteten knapp drei Jahre lang an ihrem neuen Grundsatzprogramm. Und die CDU steht unter Druck: Die Landtagswahlen in Bayern und Hessen 2023 dürften laut aktuellen Umfragen zwar glimpflich für sie ausgehen. Aber 2024 stehen Landtagswahlen im Brandenburg, Sachsen und Thüringen an. In allen drei Bundesländern liegt die AfD in Umfragen aktuell vor der CDU, teilweise mit mehr als zehn Prozentpunkten. Sollte die AfD diese Wahlen gewinnen, dürfte das nicht nur die Krise des Konservatismus weiter verschärfen.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger