Im Keller kommen die Erinnerungen zurück. Dionissij Wassyljew blickt sich um. Die Wandfarbe hat Blasen geschlagen und hängt in Fetzen von der Decke, die Holzdielen sind ausgetreten und in den Ecken haben sich Spinnen eingenistet. Die Blutlachen allerdings sind verschwunden. Auch der stechende Geruch nach Urin hat sich mit den Jahren verflüchtigt – und doch fühlt sich Wassyljew zurückversetzt an sein erstes Mal in diesem Keller. „Wenn ein Arzt hier wäre, würde er merken, dass mein Herz schneller schlägt“, sagt er.
Drei maskierte, bewaffnete Männer holten Wassyljew am 13. Juni 2014 in seinem Haus in Druschiwka ab. Wassyljew bat noch um einen Moment, um sich umzuziehen und sein Haus abzuschließen. Zeit, um sich von jemandem zu verabschieden, blieb ihm nicht. „Dann haben sie mir gesagt, ich werde mein Haus in Zukunft nicht mehr brauchen, griffen unter meine Arme und schleppten mich ins Auto“, erzählt er.
Die Männer brachten Wassyljew in den Keller neben der heutigen Polizeistation von Druschiwka im Verwaltungsbezirk Donezk. Schon während des Zweiten Weltkriegs hielt die Gestapo in diesen Räumen Menschen gefangen. Später folterten hier Vertreter des sowjetischen Innenministeriums politische Gefangene. Im Sommer 2014 hatten prorussische Separatisten den Keller übernommen. Er wurde zum Gefängnis für Menschen wie den ukrainisch-orthodoxen Priester Dionissij Wassyljew. Die Separatisten warfen ihm vor, für die ukrainische Revolution zu werben.
Aus seiner Zelle sah Wassyljew, wie im Hof Menschen erschossen wurden
Heute, knapp sieben Jahre später, an einem Herbstabend im Oktober, ist der Priester zurück in den Folterkeller gekommen, um eine Besuchergruppe durch die Räume zu führen. Es ist dunkel, nur das große goldene Kreuz, das Wassyljew an einer Kette um den Hals hängt, schimmert fahl im Licht der Taschenlampen. Der Keller sieht für ihn ohne das Blut, die Mitgefangenen und die Angst ganz anders aus – und ist ihm dennoch vertraut.
Wassyljew ist hier, weil er eine Initiative unterstützt, die den ehemaligen Folterkeller in ein Museum umwandelt. Denn das, was während der Besatzung passiert ist, darf nicht vergessen werden, glaubt Wassyljew – auch wenn es so viel leichter wäre, sich nicht mit diesen Erinnerungen zu beschäftigen. Deshalb sind auch wir heute hier: um ihm zuzuhören.
Fälle wie den von Dionissij Wassyljew gab es während der Anfangszeiten des Russisch-Ukrainischen Kriegs auf dem Donbass immer wieder, dokumentierten die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Watch. Auf beiden Seiten der Frontlinie verschwanden Menschen und wurden gegen ihren Willen verschleppt. Bei Wassyljew waren es nur drei Tage, andere Vermisste tauchten erst Monate später auf internationalen Druck hin wieder auf. Eine Aufarbeitung von Folter, Verschleppungen und Tötungen allerdings hat bis heute nicht stattgefunden. Wie auch: Beide Konfliktparteien befinden sich noch immer mitten in einem Krieg – obwohl es scheint, als hätte die Weltöffentlichkeit das vergessen. Wir sind hier, um wieder hinzuschauen. Wie geht es den Menschen heute, wie ist die Lage vor Ort? Und was hat der Krieg mit den Menschen gemacht, die er gegen ihren Willen mitgerissen hat?
Wassyljew landete in der ersten Zelle, gleich rechts neben dem Kellerabgang, hinter einer himmelblauen Tür, die der Rost zerfressen hat. Durch das vergitterte Fenster knapp unter der Decke der Zelle hat der Wind braunes Laub in den Raum hineingeweht. Zwischen den Gitterstäben lässt sich ein Stück Himmel sehen, der Eingang zum Keller und der asphaltierte Hof, der von grauen Backsteinwänden und einem blauen Tor begrenzt ist. Von hier aus, erzählt Wassyljew, habe er beobachtet, was geschah: In drei Tagen zählte er 30 Menschen, die im Hof erschossen worden seien. „Die meisten von ihnen gelten bis jetzt als vermisst“, sagt er.
Sie alle sind Opfer eines Krieges, der seit sieben Jahren im Osten Europas herrscht. Der Auslöser für den Krieg liegt hunderte Kilometer von Druschiwka entfernt und zum Zeitpunkt von Wassyljews Verhaftung bereits einige Monate zurück, im November 2013. Damals weigerte sich der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch, ein Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union zu unterschreiben. Janukowitsch wollte lieber noch enger mit Russland zusammenarbeiten. Daraufhin erhoben sich die ukrainischen Bürger, strömten zu Hunderttausenden auf den Maidan, den zentralen Platz in Kiew, und lieferten sich blutige Straßenschlachten mit der Polizei und Armee. Am Ende der sogenannten Revolution der Würde starben über 100 Menschen, Präsident Viktor Janukowitsch musste fluchtartig das Land verlassen und das ukrainische Volk machte deutlich, wen es sich in Zukunft als Partner wünscht. Seitdem ist der EU-Beitritt das oberste Ziel aller nachfolgenden Regierungen.
Aber auch der Krieg zwischen Russland und der Ukraine wird als direkte Folge der Revolution gewertet. Denn während in Kiew der Präsident gestürzt wurde, bildeten sich in den beiden Verwaltungsbezirken Donezk und Luhansk prorussische Milizen, die für eine Abspaltung von der Ukraine kämpften – und Menschen verschleppten, folterten und töteten. Auch wenn die russische Regierung ihre Beteiligung leugnete, ist heute klar, dass Russland die chaotischen Zustände im Land ausnutzen wollte und die Unruhen im Osten der Ukraine von Anfang an mitorganisierte. In den darauffolgenden Jahren unterstützte der russische Staat die Separatisten in ihrem Krieg mit dem ukrainischen Militär mit Söldnern und Waffen. Nur so konnte sich ein Krieg entwickeln, der bis heute mehr als 13.000 Todesopfer forderte.
Wassyljew war 2013 nach Druschiwka gezogen, um Vorsteher der ukrainisch-orthodoxen Kirche der 60.000-Einwohner-Stadt zu werden. Doch der Zeitpunkt seines Umzugs wurde ihm zum Verhängnis. „Die Separatisten hatten den Eindruck, dass ich absichtlich hierher geschickt wurde, um für den Maidan zu werben, damit Leute sich der Revolution der Würde anschließen“, sagt er.
„Ich hatte Angst, dass ich einfach eine Kugel in den Rücken kriege“
Während seiner Gefangenschaft wird Wassyljew alle zwei Stunden zum Verhör geschleppt, in das Zimmer Nummer sechs am Ende des Gangs, wo in der Ecke schon ein blutbefleckter Stuhl steht. Er wird erniedrigt, zusammengeschlagen, seine Peiniger drohen, ihn zu erschießen, wie die Menschen im Hof, die er vom Zellenfenster aus beobachtet hat. Während er das erzählt, klingt Wassyljew Stimme voll und fest, nur an seinen Fingern, die er immer wieder zusammenballt, sieht man, wie sehr es in ihm arbeitet. Wassyljew fürchtete um sein Leben. Doch nach drei Tagen Folter war es plöztlich vorbei. Der Priester muss einen Vertrag unterschreiben, in dem er versichert, Druschiwka innerhalb von 24 Stunden zu verlassen, dann lassen ihn die Separatisten gehen. „Der schrecklichste Moment war für mich, als ich aus dem Haus bis zum Tor ging, wo ich abgebogen bin. Ich hatte Angst, dass ich einfach eine Kugel in den Rücken kriege“, erzählt Wassyljew mit seltsam ruhiger Stimme. Aber die Kugel kommt nicht. Wassyljew ist tatsächlich frei. Er versteckt sich im Gartenhaus eines Freundes vor den Toren der Stadt und wartet. Einen Monat später erobert die ukrainische Armee Druschiwka wieder zurück.
Seit Juli 2020 gilt in der Ostukraine eine Waffenstillstandsvereinbarung. Doch es kommt noch immer zu taktischen Winkelzügen, Verschärfungen und Eskalationen. Anfang November äußerte sich das US-amerikanische Verteidigungsministerium besorgt über russische Truppenbewegungen nahe der ukrainischen Grenze. Russland sagte daraufhin, sie hätten eine Truppenübung durchgeführt. Doch das ukrainische Verteidigungsministerium berichtete, dass rund 90.000 russische Soldaten in einer Entfernung von rund 260 Kilometern um die Grenze verblieben sind. Schon im März hatte ein ähnlicher Aufmarsch, den Russland ebenfalls als Übung bezeichnet hatte, die Ukrainer fürchten lassen, dass bald russische Soldaten einmarschieren würden. Doch auch die ukrainische Seite sorgt für Schlagzeilen: Sie setzte zum ersten Mal eine türkische Kampfdrohne ein – was ein klarer Verstoß gegen den vereinbarten Waffenstillstand ist.
Doch scheinbar kann man sich sogar an Krieg gewöhnen. Etwa 50 Kilometer nördlich von Druschiwka, im Ort Majorska, haben sich die Bewohner zumindest mit ihm arrangiert. In Majorska liegt einer von sieben Grenzübergängen zwischen der russischen Besatzungszone und ukrainischem Staatsgebiet. „Zu Hochzeiten haben hier bis zu 13.000 Menschen am Tag die Grenze passiert“, sagt Igor Sarudniew, Oberstleutnant der Grenztruppe Kramatorsk. Damals überquerten Menschen die Grenze, um Verwandte oder den Friedhof zu besuchen, ihre Rente abzuholen oder um sich Dokumente ausstellen zu lassen. Doch seit dem 18. März 2020 ist der Grenzübergang von russischer Seite geschlossen. Also gibt es wenig zu tun: Die schwer bewaffneten Soldaten vertreten sich die Beine, reden miteinander und rauchen.
Offiziell sind die Grenzen dicht, um Corona einzudämmen
Vor der Corona-Pandemie passierten fast eine Millionen Menschen im Monat einen der sieben Grenzübergänge. Heute ist nur noch ein einziger geöffnet. Offiziell ist das ein Teil der russischen Strategie, um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen. Denn dass die Menschen hier ein und aus gingen, passte nicht zum russischen Narrativ einer Region, die eine vollständige Abspaltung wünscht.
Die Beschränkungen der De-facto-Behörden in Donezk seien „willkürlich“, schreibt Amnesty International. Grenzübertritte seien zudem nur mit vorherigen Anträgen möglich, die oft abgelehnt werden. Verwaltungsmitarbeiter:innen im besetzten Gebiet müssen inzwischen sogar Klauseln unterschreiben, die ihnen das Betreten der Ukraine verbieten.
Da man hier gerade weder rein-, noch rauskommt, kommen nur noch wenige Menschen überhaupt zum Grenzübergang. Menschen wie Rayissa Griegoriwnna. Die ältere Frau geht gebückt, ihr Mundschutz ist ihr unter die Nase gerutscht. In der Hand trägt sie eine Plastiktüte mit Rosenmuster, an ihrer roten Wollmütze funkelt eine bronzene Brosche mit leuchtenden Steinchen. Griegoriwnna lebt auf der ukrainischen Seite. Heute will sie zur Stadtverwaltung von Majorska. Griegoriwnna hat sich gegen Corona impfen lassen und will sich hier ihr Zertifikat abholen. „Ich brauche das Zertifikat, um mit dem Bus zu reisen“, sagt sie.
Dafür muss sie den ersten Teil der Grenze passieren, denn die Verwaltung liegt hinter dem ukrainischen Grenzposten – aber noch vor der Front und damit vor der russisch kontrollierten Seite. Das ist die sogenannte Graue Zone. Rechts und links des Weges warnen große Schilder mit Totenköpfen vor Minen, von denen immer noch Tausende in der Erde versteckt liegen. Griegoriwnna beachtet sie nicht: „Ich zeige einfach meinen Personalausweis vor, und das war es schon“, sagt sie fast beiläufig und trottet weiter in Richtung Front.
Knapp 500 Meter hinter dem ukrainischen Grenzposten, rund anderthalb Kilometer vor der Front, biegt sie ab und verschwindet in einer kleinen Nebenstraße. Neben der Stadtverwaltung stehen Häuser, teilweise sind sie noch bewohnt. Einzelne Fenster sind mit Holzplatten verrammelt, auf einem Balkon flattert zum Trocknen aufgehängte Wäsche im Wind. Die Menschen, die hier leben, können den Rest ihrer Stadt nur von 8 bis 16 Uhr betreten, nur dann hat der ukrainische Grenzposten geöffnet. Trotz aller Unwägbarkeiten bleiben sie. Wo sollen sie auch hin? Es ist ihr Zuhause.
In der Grauen Zone zu leben, ist schwierig. Wenige Meter weiter, in dem von Russland kontrollierten Gebiet, dürfte es allerdings noch schlimmer sein. Dort müssen die Menschen mit hohen Lebensmittelpreisen, niedrigen Gehältern und schlechter Infrastruktur leben. Weil die Einreise und Arbeit von Journalisten stark eingeschränkt ist, mangelt es jedoch an unabhängigen Informationen. Seit April 2014 ist dieser Teil von Donezk eine eigenständige Volksrepublik, genau wie Teile von Luhansk. Allerdings nicht offiziell. Die De-facto-Regime sind international nicht anerkannt. Völkerrechtlich gehören sie nach wie vor zur Ukraine. Dennoch haben mehr als 600.000 ihrer Einwohner mittlerweile einen russischen Pass. Im September nahmen ein Drittel von ihnen an der russischen Parlamentswahl teil. Doch nicht alle wollen zu Russland gehören: Bereits 1,5 Millionen Menschen sind aus den besetzten Gebieten in Donezk und Luhansk sowie aus der von Russland annektierten Krim in die Ukraine geflüchtet.
In der Ukraine liegt die Impfquote derzeit bei rund 20 Prozent
Amnesty International klagt an, dass in den besetzten Gebieten „alle Formen von Dissens“ unterdrückt werden, mittels Verhaftungen und Folter durch die De-facto-Behörden. Zudem kritisierte die NGO, dass es immer weniger unabhängige Informationen aus dem Gebiet gäbe, was auch auf die Einreisebeschränkungen zurückzuführen sei. Im Oktober veröffentlichte ein Telegram-Kanal Bilder aufgehäufter Leichensäcke in einem Donezker Krankenhaus. Die Corona-Lage schien außer Kontrolle. Verschiedene Medien, unter anderem die ARD, gehen davon aus, dass das Video echt ist.
In Kramatorsk teilen sich derweil verrostete Ladas die Straßen der Stadt mit den weißen SUVs von NGOs und internationalen Beobachtungsmissionen, die von hier aus die Region unterstützen und beobachten. Kramatorsk ist die neue Hauptstadt des ukrainischen Teils von Donezk, denn die alte Hauptstadt, die wie das Gebiet ebenfalls Donezk heißt, liegt mittlerweile im von Russland kontrollierten Gebiet. Hier hat Pavlo Kyrylenko, der Gouverneur des Oblast Donezk, nun sein Büro. Vor dem Krieg, erzählt Kyrylenko, lebten in der gesamten Verwaltungszone gerade einmal vier Millionen Einwohner. Heute müssen Wohnungen für die zahlreichen Binnenflüchtlinge geschaffen werden. Kyrylenko gibt zu, dass deshalb auch auf der ukrainischen Seite des Oblasts Donezk nicht alles perfekt läuft. Zur Zeit erkranken im Verwaltungsdistrikt Donezk jeden Tag etwa Tausend Menschen an Corona. In der gesamten Ukraine ist nur jede:r Fünfte vollständig gegen Corona geimpft, im Verwaltungsdistrikt Donezk sind es sogar nur zwölf Prozent der Menschen. Und die Geflüchteten müssen nicht nur mit Impfstoff, sondern mit grundlegenden Dingen wie Nahrung, Kleidung und Jobs versorgt werden.
Lange hat sich die Region gewehrt, aus dem Übergangs- einen Dauerzustand zu machen. Nun kann sie nicht mehr warten und gießt die Situation wortwörtlich in Beton: Kyrylenko berichtet von Bauprojekten, durch die nun endlich mehr Wohnraum in der Region geschaffen werden soll. Die Wohnungen würden allerdings nur an die Binnenflüchtlinge vermietet und nicht verkauft werden, schränkt er ein, denn eigentlich sollen diese ja irgendwann wieder zurück in ihre Heimat.
Weitermachen, nach vorne blicken, sich mit der Situation arrangieren, das hat sich auch Dionissij Wassyljew nach seiner Haft vorgenommen. Als Druschiwka einen Monat nach seiner Freilassung wieder in ukrainische Hand fällt, entscheidet er sich zu helfen. Er kocht große Schüsseln mit Borschtsch für das Militär, flechtet Tarnnetze, später entscheidet er sich, an die Front zu gehen. Als Geistlicher möchte er nicht zu Waffen greifen, sagt er, aber er glaubt, über eine ebenso wichtige Macht zu verfügen: „Von den Männern, die mit Waffe an der Front stehen, ist keiner Atheist.“
Bis heute ist Wassyljew Militärgeistlicher der ukrainischen Streitkräfte. Er betet mit Soldaten, hilft ihnen, das Erlebte zu verarbeiten – und sie ihm: „Die Soldaten haben mir geholfen, meine Posttraumatische Belastungsstörung zu überwinden – denn ihre schwierige Lage, ihre Sorgen und ihre Ängste halfen mir, mit meinen eigenen Erfahrungen fertigzuwerden“, sagt der Priester.
Diese Reportage ist mithilfe eines Reisestipendiums der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) entstanden. Während ihrer Reise im Oktober 2021 wurden Astrid Benölken und Tobias Zuttmann von einem Dolmetscher und Mitarbeiter:innen der FES begleitet. Eine inhaltliche Einflussnahme der politischen Stiftung fand zu keinem Zeitpunkt statt.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger