Alice Weidel spricht auf dem Bundesparteitag.

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Interview: So durchschaust du, wie Populist:innen diskutieren

Die Diskursforscherin Ruth Wodak untersucht, wie Rechtspopulist:innen sprechen. Ich habe sie gefragt, wie wir uns vor deren Rhetorik schützen können und was das mit toten Katzen zu tun hat.

Profilbild von Interview von Benjamin Hindrichs

Dieser Bundestagswahlkampf hat etwas Schönes: Es geht kaum um die AfD. Doch in den Umfragen zur Bundestagswahl liegt die Partei stabil bei etwa elf Prozent. Auch wenn viele Medien den populistischen Parolen bei dieser Wahl weniger verfallen, eines hat die AfD geschafft: Sie hat sich bei den Wähler:innen etabliert.

Die derzeitige Ruhe überschattet, wie sehr Rechtspopulist:innen die Art und Weise verändert haben, wie über Politik debattiert wird, welche Themen gesetzt werden. Die Expertin Ruth Wodak hat sich mit dieser Entwicklung beschäftigt. Sie ist eine der bekanntesten Diskursforscher:innen Europas und emeritierte Professorin für angewandte Sprachwissenschaft der Universität Wien und der Lancaster University. Dort forschte sie unter anderem zu Populismus, Identitätspolitik und politischer Kommunikation. Ihr zuerst 2016 veröffentlichtes Buch „Politik mit der Angst“ gilt als Standardwerk der Analyse rechtspopulistischer Diskursstrategien. Vor Kurzem erschien eine völlig neu bearbeitete Auflage, die den Entwicklungen der letzten Jahre Rechnung trägt. Ich habe mit ihr über die Instrumentalisierung von Angst, den „Mythos 2015“ und die vermeintliche Bedrohung eines „Linksrutsches“ gesprochen. Außerdem hat sie mir erklärt, warum Rechtspopulist:innen aus Pandemie und Klimakrise nicht zwingend Kapital schlagen können.


Im Wahl-O-Mat zur Bundestagswahl werden Wähler:innen gefragt, ob Beamt:innen ein Kopftuch tragen dürfen sollten und welche Meinung sie zum Gendern haben. Was sagt das über den Zustand der öffentlichen Debatte in Deutschland aus?

Ruth Wodak: Das „Kopftuch“ oder gendergerechte Sprache sind hoch emotionalisierte Themen, die einen Zwischenraum zwischen Information und Entertainment ausmachen. Jeder glaubt, dazu etwas sagen zu können und darüber zu wissen. Beide Themen werden in Deutschland intensiv diskutiert und gehören zum Bereich der Symbolpolitik. Sie behandeln bloß die Spitze des Eisbergs sehr komplexer Themen, lassen die großen Fragen nach Ungleichheit und Gerechtigkeit aber außen vor.

Weibliche Person mit Brille gehobenes mittleres Alter

Ruth Wodak © Privat

Inwiefern ist die Genderdebatte nur Symbolpolitik? Für was steht sie?

Bei gendergerechter Sprache geht es um die Gleichbehandlung und Sichtbarmachung aller Geschlechter. Inzwischen wird das Thema jedoch von konservativen und rechtspopulistischen Stimmen kolonisiert. Sie behaupten, es gäbe eine Gedanken- und Sprachpolizei und sprechen von Zensur. Wir debattieren also über Sternchen oder Bindestriche, nicht aber über Ungleichheit, gerechte Löhne, Sexismus oder Gewalt gegen Frauen. Insofern ist das Symbolpolitik.

Wie ist es mit dem Kopftuch?

Das Kopftuch wird zum Symbol einer unterstellten Unterdrückung von Frauen. Obwohl es zahlreiche Gründe gibt, ein Kopftuch zu tragen oder eben nicht zu tragen, wird getan, als gehe es immer um Unterdrückung. Das Interessante ist: Die Gleichbehandlung von Frauen an sich wird dabei nicht diskutiert – sondern nur die unterstellte Unterdrückung der Frau im Islam.

Nun haben wir es quasi mit einer Allgegenwärtigkeit dieser symbolischen Debatten zu tun. Ist das der Beweis dafür, dass die AfD und andere rechtspopulistische Gruppen die öffentliche Debatte so stark beeinflusst haben, dass sie die heimlichen Gewinner des Wahlkampfes sind?

Nicht unbedingt. Die Debatten um Sprache und Kopftuch sind älter als die AfD, Pegida oder die Identitäre Bewegung. Beide Themen werden schon lange diskutiert. Rechtspopulisten schlachten die Themen jedoch aus, weil sie anschlussfähig sind. Der Diskurs insgesamt hat sich damit nach rechts verschoben, ich nenne das die schamlose Normalisierung rechtspopulistischer und rechtsextremer Diskurse. Tabus wurden verletzt, Konventionen außer Kraft gesetzt, vor allem was Respekt gegenüber Minderheiten, dem Parlament, der Pressefreiheit und der liberalen Demokratie insgesamt betrifft. Damit gewinnen sie vielleicht keine Wahlen, aber sie sind vom Rand der Gesellschaft in der Mitte angelangt und prägen vielfach unser Denken und Sprechen – was vielleicht noch viel schlimmer ist.

Populistisch ist prinzipiell jeder Politiker zu bestimmten Zeiten.
Ruth Wodak

Populistisch, das sind ja immer die anderen. Was ist Populismus?

Populistisch ist prinzipiell jeder Politiker zu bestimmten Zeiten.

Wann?

Zum Beispiel in Wahlkampfzeiten. Immer, wenn es diese Unterscheidung zwischen „uns“ und „den anderen“ gibt und jemand behauptet, für „das Volk“ zu sprechen, wie auch immer „das Volk“ definiert wird. Populismus ist nicht nur Rhetorik oder Performance, sondern eine Vermengung von Form und Inhalt, Methode und Ideologie.

Und welche zentralen Merkmale machen den Kern des Rechtspopulismus aus?

Ich halte vier Dimensionen für wichtig, die je nach Kontext unterschiedlich stark besetzt werden können. Erstens betonen Rechtspopulisten das Völkische. Sie haben das Bild eines homogenen, also gleichförmigen Volkes, das oft mit einer Blut-und-Boden-Rhetorik einhergeht: Man muss hier von „echten“ deutschen oder österreichischen Eltern geboren sein, um dazuzugehören. Das kann variieren, ist aber in jedem Fall antipluralistisch.

Zweitens geht es gegen „die da oben“, gegen Eliten. Auch diese können unterschiedlich definiert werden, mal geht es gegen Manager, dann gegen Intellektuelle oder Wissenschaftler:innen. Das ist je nach Bedarf anders. Diese Eliten werden dem sogenannten Volk gegenübergestellt.

Drittens gibt es oft eine charismatische Führungspersönlichkeit, die sich als Retter des Volkes inszeniert. In wirklichen oder konstruierten Krisen versprechen sie, das Volk zu retten. Dazu gehört eine Law-and-Order-Rhetorik, also die starke Betonung von Recht und Ordnung.

Das vierte wichtige Element ist der Werte-Konservativismus, insbesondere der der Familienwerte. Es ist eigentlich ein Wunsch, die Uhr zu einer Zeit zurückzudrehen, in der Diversität noch kein Thema war, Frauen noch nicht gleichberechtigt sein sollten und das absolute Recht der Mehrheit galt. Das geht Hand in Hand mit Mythen, die über die eigene Vergangenheit erzählt werden. Geschichte wird umgeschrieben.

Und je nachdem, auf welches Land wir schauen, gewichten Rechtspopulist:innen die verschiedenen Punkte unterschiedlich?

Genau, Kontext und die jeweilige nationale Geschichte sind entscheidend. Man würde in Schweden nicht unbedingt mit einer Abtreibungsdebatte eine Wahl gewinnen, in den USA möglicherweise schon.

Dieses bedrohliche Linksszenario gibt es so eigentlich gar nicht.
Ruth Wodak

In rechtspopulistischen Erzählungen ist die Bedrohung zentral. Ihr Buch heißt „Politik mit der Angst“. Warum können Rechtspopulist:innen aus diesem Gefühl so viel Kapital schlagen?

Angst ist ein wichtiges Gefühl, weil wir als Kinder schon lernen, uns in der Welt zurechtzufinden und Situationen zu vermeiden, die uns schaden können. Und Krisen sind etwas Bedrohliches. Sie rufen Unsicherheit hervor. Unsicherheit macht Angst, denn man weiß nicht, was passiert.

Solche Ängste sind ja erst einmal nichts Ungewöhnliches.

Nein. Aber Rechtspopulisten bieten einfache Lösungen für diese Bedrohungsszenarien an. Sie zeigen einen einfachen Weg, um mit diesen Ängsten umzugehen. Sie machen Sündenböcke aus, meist eine Minderheit oder „die da oben“, denen sie die Schuld für die komplexen Probleme zuschieben. Und sie machen sich die Hoffnung zunutze: Sie versprechen, dass sie die geeignete Person oder Partei sind, um „das Volk“ von ihrer Angst zu befreien und ihnen Sicherheit anzubieten – meist, indem sie versprechen, die vorher ausgemachten Sündenböcke zu „entfernen“.

Das heißt, wer die ultimative Bedrohung an die Wand malt, buhlt um ein Mandat, um sie mit allen Mitteln abzuwenden?

Wenn wir uns in einer Situation der Unsicherheit befinden und jemand behauptet, es sei ganz einfach und er oder sie wisse, wo es langgehe und wer schuld sei, und dass es ganz einfach zu lösen sei, indem man die Sündenböcke entferne, dann ist das eine Story, die leicht geglaubt wird. Und die durch Mythen und Verschwörungserzählungen weiter untermauert werden kann.

Ist das hysterische Warnen konservativer Kräfte im aktuellen Wahlkampf vor einem „historischen Linksrutsch“ eine konstruierte Bedrohung?

Auf jeden Fall. Dieses bedrohliche Linksszenario gibt es so gar nicht. Es wird also ein Strohmann aufgebaut, die kollektive Erinnerung an Ostblock, Kommunismus und die DDR geweckt und unterstellt, dass es etwa unter einer rot-rot-grünen Regierung Sozialismus in Form des DDR-Kommunismus geben wird, auch wenn das nicht direkt so ausgesprochen wird. Dieses Bedrohungsszenario wird als Assoziationsraum zur Verfügung gestellt.

Als Assoziationsraum – was heißt das?

Die Assoziationen, die diese konstruierte Bedrohung des Linksrutsches hervorruft, gehen mit großen Ängsten vor staatlich gelenkter Wirtschaft, Zensur und der Stasi einher. Gleichzeitig können diejenigen, die diese Rote-Socken-Kampagne fahren, sich darauf berufen, es „eigentlich“ nie gesagt zu haben: „Das haben Sie jetzt so verstanden! Das habe ich nicht so gemeint!“

Aber letztlich ist es ein bewusstes Gleichsetzen von Sozialismus, Sozialdemokratie, Progressivität und Kommunismus, inklusive Assoziationen zur DDR. Es ist interessant, wie sich das wiederholt.

Vorsicht, liebe Wählerinnen und Wähler, wenn ihr euer Kreuz bei der SPD macht, könntet ihr in einem Linksbündnis aus SPD, Grünen und damals noch PDS landen.

Sie meinen, Rechtspopulist:innen nutzen schon immer das Feindbild des Kommunismus, um sich selbst als Partei der Mitte zu tarnen?

In Deutschland ist es die Rote-Socken-Kampagne, in Österreich hatten wir in der Nachkriegsgeschichte öfter eine Rote-Katzen-Kampagne, fast immer gegen die Sozialdemokratie gemünzt. Es heißt dann, die Steuern würden unglaublich steigen, eure Häuser würden euch weggenommen werden, es komme die absolute Umverteilung. Es sind geschickte Strohmann-Argumente und irreale Bedrohungsszenarien, die Assoziationsräume anbieten und Ängste schüren.

Die allgemeine Angst vor Fremden ist nicht per se schlecht. Die Frage ist aber, wie man dieses Gefühl instrumentalisiert.
Ruth Wodak

Sie sagen, dass Rechtspopulist:innen sich zur Rechtfertigung ihrer Positionen auch auf Mythen berufen. Als Kabul im August 2021 fiel und Tausende Afghan:innen verzweifelt versuchten, das Land zu verlassen, hörte man von vielen Politiker:innen, 2015 dürfe sich nicht wiederholen. Ist die sogenannte Flüchtlingskrise ein solcher Mythos?

Wer sagt, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, schafft ein solches Bedrohungsszenario. Erstens wird hier ganz allgemein das Phänomen „Flucht“ als Bedrohung dargestellt und umgedeutet. Zweitens wird argumentiert, dass sich die Situation von 2015 wiederholen könne, obwohl das gar nicht möglich ist, weil die Umstände ganz andere sind. Drittens sind die damit assoziierten Flüchtlinge noch nicht da. Viertens weiß man auch nicht, ob sie überhaupt kommen werden. Es ist ein Szenario, das so nicht besteht, mit dem man aber instrumentalisiert, um zu begründen und zu legitimieren, warum die Grenzen geschlossen werden sollen.

Warum ist dieser Mythos 2015 so erfolgreich?

Das Jahr 2015 war ein Tipping-Point, ein Umschlagpunkt. Es war ja eine vorhersehbare Flüchtlingsbewegung, die aber lange Zeit geleugnet wurde. Als die Flüchtlinge in Mitteleuropa angekommen waren, war das einerseits für viele Menschen ein überwältigendes, solidarisches Erlebnis. Es gab ein positives Gemeinschaftsgefühl. Andererseits wurde dieser Moment von Parteien, die gegen Einwanderung waren, zur Angsterzeugung benutzt.

Angst vor Fremden?

Genau. Es ist interessant: 1989, nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, haben wir eine große Studie darüber gemacht, wie über die Öffnung der ehemaligen Grenzen zum „Ostblock“ berichtet wurde. Und nach 2015 wieder. Die Muster waren recht ähnlich. Es ging eigentlich nicht darum, woher die Leute kamen oder welche Religion sie hatten, es ging um den Faktor Fremdheit an sich, um die allgemeine Angst vor Fremden. Diese Angst ist verständlich. Die Frage ist aber, wie man dieses Gefühl instrumentalisiert. Nach 2015 ist der positive Mythos der Solidarität in einen negativen umgeschlagen, vor allem nach der Silvesternacht von Köln.

Es geht darum, eine sehr gezielte Provokation strategisch in den Raum zu stellen, wenn die Diskussion ansonsten kritisch und unangenehm werden könnte.
Ruth Wodak

Rechtspopulist:innen bringen uns Journalist:innen in eine schwierige Situation: Berichten wir nicht über ihre Provokationen, kann das als Billigung ausgelegt werden. Schreiben wir darüber, reproduzieren wir die Aussagen und verbreiten sie weiter. Wir geben ihnen Raum.

Richtig, damit geben Journalisten den Populisten die Möglichkeit zur Täter-Opfer-Umkehr oder der „Dead-Cat-Strategy“ – ein altes rhetorisches Verfahren. Es geht darum, eine sehr gezielte Provokation strategisch in den Raum zu stellen, wenn die Diskussion ansonsten kritisch und unangenehm werden könnte.

Was hat es mit der toten Katze auf sich? Haben Sie ein Beispiel?

Blicken wir nach Österreich, dort kenne ich mich besser aus. Angenommen, man beschließt ein Gesetz, das unangenehm wäre, etwa die Erhöhung der Arbeitszeit auf sechzig Stunden. Davon will man ablenken, indem man ein anderes Thema einbringt. Das wird, metaphorisch gesprochen, so gemacht, dass man plötzlich eine tote Katze auf den Tisch fallen lässt. Jeder starrt auf diese, sich ganz überraschend dort befindende, tote Katze – und vergisst das andere Thema. Immer wenn es unangenehm wird in der österreichischen Innenpolitik, wird plötzlich über die Schließung muslimischer Kindergärten oder das Tragen des Kopftuchs muslimischer Mädchen gesprochen.

Warum funktioniert dieses Ablenkungsmanöver?

Man versucht, die Aufmerksamkeit der Medien zu binden. Einfach, indem man ihnen Schlagzeilen bietet. Dafür werden aber immer größere Tabubrüche gebraucht, man gewöhnt sich ja an vieles. Aber wenn der Skandal groß genug ist, reagieren alle darauf, und man treibt die anderen vor sich her. Es geht Rechtspopulisten um dieses In-Atem-Halten durch ununterbrochene Provokation und Skandalisierung.

Halten wir fest: Strohmänner, tote Katzen, Provokation und Skandalisierung, die Konstruktion von Sündenböcken, Täter-Opfer-Umkehr und Verschwörungserzählungen sind wesentliche Bestandteile des rechtspopulistischen Werkzeugkastens. Welche weiteren gibt es?

Rechtspopulisten bedienen sich oft einer kalkulierten Ambivalenz.

Was heißt das?

Sie tätigen bewusst vage Aussagen, die mehrdeutig sind und Raum für unterschiedliche Interpretation lassen. Das schützt die Sprecher. Am Ende können sie immer behaupten, es nicht so gemeint so haben. Das Interessante ist, dass es inzwischen weniger häufig passiert. Man kann sich heute je nach Kontext und Land wesentlich sexistischer, homophober, rassistischer oder antisemitischer ausdrücken und wird nicht mehr dazu gezwungen, sich zu entschuldigen.

Quasi-Entschuldigungen finden wir nicht nur bei Populisten, sondern bei allen Politikern.
Ruth Wodak

Sie sagen, Rechtspopulist:innen schaffen es, eine sich selbst erhaltende Maschine der Aufmerksamkeit zu kreieren. Dieser ewige Kreislauf beginnt mit einer Grenzüberschreitung oder Provokation. Anschließend rudern die Provokateur:innen zurück, oder behaupten, es nicht so gemeint zu haben. Dann berufen sie sich auf das Recht auf freie Meinungsäußerung …

… und inszenieren sich als Opfer einer Zensur oder Kampagne. Klassische Täter-Opfer-Umkehr. Im nächsten Schritt kommt dann die Verschwörungstheorie, indem man vermeintlich Schuldige ausmacht, die Sündenböcke, die dem Volk gegenübergestellt werden. Früher war es dann so: Wenn anschließend ein Fakt, also ein Gegenbeweis in Form eines Videos oder einer Aufnahme auf dem Tisch lag, musste sich der Sprecher zumindest formal entschuldigen, bevor die nächste Provokation lanciert wurde und es von vorne begann.

Was heißt das, sich nur formal zu entschuldigen?

Es sind Quasi-Entschuldigungen, sogenannte Nonpologies. Die sind recht einfach zu erkennen: Oft werden sie von Disclaimern eingeleitet, also von Sätzen wie: Sie wissen ja, ich habe nichts gegen Juden. Es sind Behauptungen wie diese, dass eigentlich jeder wisse, was man für eine gute Person sei und deswegen könne man das ja auch nicht gemeint haben – ein Missverständnis also.

Quasi-Entschuldigungen finden wir aber nicht nur bei Populisten, sondern bei allen Politikern. Politiker werden naturgemäß ununterbrochen angegriffen und wissen um die vielen Möglichkeiten, sich durch verschiedene Strategien einer Schuld zu entledigen. Es gibt quasi einen ganzen Werkzeugkoffer zur „Schuldvermeidung“.

Sie könnten sich doch einfach entschuldigen?

Das kommt aber ganz selten vor. Stattdessen rechnen sie auf. Sie sagen etwa: Das passiert woanders auch. Das macht es zwar nicht besser, wird aber ständig hervorgebracht. Oder sie starten einen Gegenangriff. Es gibt viele Möglichkeiten, in dieses Blame-Game einsteigen.

Sie sagten aber, das sei heute gar nicht mehr notwendig?

Meine These ist, dass es inzwischen nicht mal mehr eine Entschuldigung braucht. Lügen gab es immer in der Politik, aber inzwischen haben wir es mit derart dreisten und schamlosen Lügen zu tun. Und das in einer Zeit, in der man Fakten so leicht überprüfen kann! Dafür wird sich nicht entschuldigt, das wird aufgerechnet: Woanders passiert das ja auch. Und es macht nichts, wenn der Politiker oder die Politikerin, ob Rechtspopulist oder nicht, einfach wieder zur Tagesordnung übergehen kann – und die Medien ziehen mit. Da hat sich der Diskurs massiv verschoben.

Können sich ehrliche Politiker:innen nicht durch eine richtige Entschuldigung von Populist:innen abheben?

Das passiert sehr selten. Ein Beispiel ist die Entschuldigung Angela Merkels, nachdem die Bundesregierung den zuvor beschlossenen Oster-Lockdown wieder rückgängig hat. Das war eine rundherum ehrliche Entschuldigung, Merkel hat die Schuld komplett auf sich genommen.

Es gibt noch etwas, das sich verschoben hat: Früher waren rechtspopulistischer Stil und Rhetorik in Europa eher nur in der Opposition zu finden, heute auch in verschiedenen Regierungsparteien.

Richtig. Lange Zeit gab es solche Rechtspopulisten nur in der Opposition, und wir dachten, sie wären unprofessionell, wenn sie an die Macht kommen. Das stimmt so aber nicht. Ungarn, Polen oder die Türkei sind inzwischen letztlich autoritäre Staaten, die die Demokratie langsam unterminieren. Rechtspopulisten sind Machtpolitiker, die äußerst professionell arbeiten und klare Ziele haben. So etwas gab es zu Beginn der Rechtspopulismus-Forschung nicht. Aber mit Orbán, Kaczynski oder dem Brasilianer Bolsonaro erlebt man, wie aus einer rechtspopulistischen Partei ein autoritäres Regime werden kann.

Rechtspopulisten werden von der Realität überholt.
Ruth Wodak

Wagen wir einen Blick in die Zukunft. Sie sagen, dass reale oder konstruierte Krisen besonders wichtig für Populist:innen sind. Nun leben wir in einer Zeit des permanenten Ausnahmezustandes, Stichwort: Klimakrise. Wenn die permanent instrumentalisiert wird, stehen wir dann vor einem Goldenen Zeitalter des Populismus?

Nein. Es gibt zwar durchaus große, durch die Wissenschaft faktisch belegte Krisen. Es gibt Ereignisse, die Angst machen, bedrohlich sind und Unsicherheit verbreiten. Einerseits ist das ein Nährboden für vereinfachende Erklärungen, Leugner und Populisten. Andererseits sieht man aber gerade in der Corona-Krise, dass die Anfälligkeit für diese Art von Instrumentalisierung relativ klein ist.

Eine inszenierte Angst bringt Populist:innen also Aufschwung, eine echte Krise hingegen schwächt sie?

Die AfD schlägt aus der Krise kaum Profit, weil klar geworden ist, dass man für solche Herausforderungen sachliche Lösungen braucht. Rechtspopulisten werden von der Realität überholt. Das ist bei der Klimakrise ganz ähnlich. Die Realität, zum Beispiel in Form der Überschwemmungen in Deutschland, die unglaublichen Klimaveränderungen, die wir alle erleben, kann man nicht einfach wegleugnen.

Was aber, wenn die Politik nicht angemessen auf diese Realität reagiert? In Deutschland reicht kein einziges der Wahlprogramme zur Bundestagswahl, um das Pariser Klimaabkommen einzuhalten. Und viele Politiker:innen reden noch immer über Klimaschutz, als sei das ein Luxusproblem, keine Notwendigkeit. Wenn die Politik nun nicht angemessen auf eine solche Realität reagiert, stärkt das nicht das Feindbild der abgehobenen Eliten? Und bereitet so einer höheren Anfälligkeit für mehr Populismus den Weg?

Es führt eher dazu, dass andere Bewegungen mobilisiert werden und es zu mehr Partizipation von unten kommt. Möglicherweise auch populistisch, aber nicht ethno-national oder völkisch, sondern im Sinne einer solidarischen Mobilisierung zur Rettung unsere Umwelt. Das sehen wir an Fridays for Future. Es wird notwendig sein, dass sich die Zivilgesellschaft mobilisiert, dass neue Bewegungen von unten entstehen. Diese können Druck auf die Politik ausüben, sich mit diesen brennenden Problemen zu beschäftigen. Die Frage ist: Werden sie damit Erfolg haben?


Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

So durchschaust du, wie Populist:innen diskutieren

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