Im September 2001 war ich zehn Jahre alt und besuchte wie jeden Tag nach der Schule meine Freundin Lejla. Wir hörten ihre Mutter im Flur des Plattenbaus mit einem Nachbarn reden: In New York seien viele Menschen gestorben, sagte sie. Also ging ich nach Hause, um den Fernseher anzuschalten und die Nachrichten zu sehen. Vorbei an Minenfeldern, blutroten Bombenkratern, an im Angriffskrieg zerstörten Gebäuden.
Der Anblick war für mich normal. Doch normal war an diesem Anblick nichts. Die Stadt, in der ich aufwuchs, heißt Sarajevo. In diesen Straßen wurden meine Nachbarn vergewaltigt, gefoltert und ermordet, nur weil sie bosnische Muslime waren. Ich dachte damals, wir hätten bereits das Maximum an Hass und Gewalt überlebt, es könne ab jetzt immer nur besser werden. Naives Kind.
Natürlich war klar, dass Christen und Muslime nach dem Genozid in meiner Heimat nicht plötzlich Freunde sein würden. Aber wir hatten zumindest gehofft, dass es besser werden würde. Friedlicher.
Es kam anders: Der 11. September war ein Brandbeschleuniger. In den darauffolgenden Jahren erlebten wir weitere Erniedrigungen, Gewalt und Rassismus. Jahren? Schon 40 Tage nach dem Anschlag wurde einer meiner Nachbarn gefangen, gefesselt, dann nach Guantanamo verschleppt.
Unschuldig, niemals auch nur angeklagt, doch sieben Jahre lang gefoltert. Sein Fall ist bekannt, es gab in Sarajevo Demonstrationen für ihn und die restlichen Gefangenen. Eine davon war die erste Demo, die ich je besuchte. So hat der 11. September mich politisiert. Mein Nachbar war einer von Hunderten, die nach den Anschlägen eingesperrt wurden, ohne dass jemand je ihre Schuld bewiesen hat. Und Dutzende sind auch heute, 20 Jahre später, noch in Guantanamo gefangen.
Sogar in Sarajevo, fast ausschließlich unter Muslimen, waren wir nicht sicher. Eine Milliarde Muslime standen von nun an unter Generalverdacht – weil eine Handvoll saudischer Extremisten Menschen am anderen Ende der Welt angriff. Was hatte das mit mir zu tun? Doch eigentlich nichts? Und doch war es ein seelenzermürbendes Gefühl.
Auf der ganzen Welt wurden Muslime zu Gejagten: Genau sieben Tage nach dem Anschlag in New York entdeckte die Kommunistische Partei Chinas eine neue Ausrede für die jahrzehntelange Unterdrückung von Uiguren. Terrorismus wurde zur Dauerausrede für Angriffe gegen Muslime weltweit: Uiguren, Rohingya, Geflüchtete – Gewalt gegen Muslime wird vielerorts toleriert, wenn Regierungen den Kampf gegen sie mit dem Kampf gegen den Terror begründen. In Jemen. In Pakistan. In Afghanistan. Sogar retroaktiv nutzten Rechtsradikale diese Taktik: Der Genozid an Bosniaken wäre passiert, weil Serben tapfer gegen Terroristen kämpften, sagen sie. Aber eine bosniakische Terrorgruppe gab es nie. Und auch keinen von ihr verübten Anschlag.
Kein Terrorist und keine Terrorgruppe in Europa kommen dem Genozid in Bosnien auch nur nahe
Die größten Terroristen Europas sind gar keine Muslime, sondern zwei europäische Christen: Radovan Karadžić, Präsident der selbsternannten bosnischen Serbenrepublik, und Ratko Mladić, General in der dazugehörigen Armee. Der Internationale Strafgerichtshof verurteilte Mladić 2017 zu lebenslanger Haft wegen Genozids, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Er ging in Berufung – doch die wurde im Juni dieses Jahres endgültig abgewiesen. Dass Mladić und Karadžić Terroristen waren, ist heute unbestritten. Terror, das sind eben nicht nur Selbstmordanschläge. Terroropfer sind eben auch die 11.541 Menschen, die Mladićs Armee in meiner Heimatstadt Sarajevo ermordet hat. Kein Terrorist und keine Terrorgruppe in Europa kommen diesem Ausmaß auch nur nahe.
Hinzu kommen die Menschen im Rest Bosniens – über 100.000 Tote. Doch das Wenigste davon gehört zum kollektiven europäischen Allgemeinwissen. Ausgerechnet Karadžić behauptete vor dem UNO-Kriegsverbrechertribunal, das ihn des Völkermordes schuldig sprach, er hätte Europa vor „Terroristen“ geschützt. Mit solchen Aussagen findet er Zustimmung bei deutschen und österreichischen Genozidleugnern, Rechtsradikalen und auch vielen Linken. Rassismus verbindet.
Ihnen schenkte der 11. September eine willkommene Möglichkeit für die sogenannte Täter-Opfer-Umkehr, die alle Muslime, auch verfolgte, als gefährlich darstellt und gleichzeitig zu wehrlosen Zielscheiben macht.
Sind wir denn jeglichen Schutzes unwürdig? Jeglichen Mitgefühls? In den USA gab es einen Anschlag, der die Welt berührte – im Gegensatz zu unzähligen Anschlägen, Kriegen und Völkermorden an Muslimen wurde er gehört und gesehen. Der Westen erinnert an die Anschläge. Jedes Jahr. An den letzten Genozid an Bosniaken erinnert er nicht. Ja, viele Menschen hierzulande wissen um die fünf Julitage von Srebrenica, doch nicht mal ein Zehntel der Opfer wurde dort ermordet. Allein schon die ständige Reduzierung auf Srebrenica ist erniedrigend für Opfer und Überlebende aus dem Rest des Landes – diese Verkleinerung gilt als dritte Stufe der Leugnung des Genozids an Bosniaken.
Wo warst du, als du von den Anschlägen vom 11. September hörtest? Ich war damals zu Hause. Aber ich bin noch heute überall: im Jobinterview, am Flughafen, auf WG-Partys und im Wartezimmer. Als ich gefragt wurde, ob ich in meinen Beiträgen „kritisch oder wohlwollend“ mit Al Qaida umgehen würde. Als trotz Partystimmung Abschiebungen von Bosniaken mit „gut so“ kommentiert wurden, da es ja gefährlich wäre, wenn so viele Muslime hier leben würden. Der Rassismus ist konstant, unerbittlich. Wie die meisten Muslime wurde ich gezwungen, zu einer PR-Sprecherin für mehr als 1,6 Milliarden Menschen zu werden, irreleitende Statistiken, „die Scharia“ und komplexe theologische Konzepte zu erklären. Ich wurde vorwurfsvoll angestarrt, mit rassistischen Fragen gelöchert und aufgefordert, mich von saudischen Terrorgruppen, türkischen Politikern, iranischen Traditionen, afghanischen Gesetzen und obskuren Youtube-Videos aus Pakistan zu distanzieren. Weil es ja normal und zu erwarten ist, dass eine türkishaarige, vegane Punkerin aus Bosnien Al-Qaida-Unterstützerin sein könnte, nur weil sie muslimisch ist.
„Jede Religion hat ihre Mörder“
Aber merkt ihr, was gerade passiert? Ich nutze meine Haarfarbe und meinen Musikgeschmack, um zu zeigen, wie absurd solche Anschuldigungen sind. Doch bei Musliminnen mit Kopftuch oder Niqab sind sie genauso absurd. Bei zu vielen Leuten kommt das nur nicht an.
Damit das klar ist: Auch ich hasse Al Qaida, die Taliban und all die anderen machtversessenen, extremistischen Terrorgruppen. Doch in dieser Situation richtet sich meine Wut gegen „den Westen“. Denn jede Religion hat ihre Mörder – und Al Qaida darf keine Ausrede sein, um Muslime zu drangsalieren.
Trotz mehr als 100.000 Toten und all dem Grauen, das uns serbische Christen im Namen ihrer Religion und mit Segen ihrer Kirche angetan hatten, kam ich nie im Leben auf die Idee, Christen zu hassen. Oder Milliarden Christen überhaupt mit den Tätern in Verbindung zu setzen. Doch uns Muslimen wurde dieses Privileg nicht gegeben. Stellt euch vor, man würde deutsche Christen, egal wie ungläubig sie sind, verantwortlich machen für Joseph Konys Kindersoldaten in Uganda.
Für Miloševićs Völkermorde. Für Kindervergewaltigungen in Kirchen, homofeindliche Morde in Russland, brutale Abtreibungsverbote in den USA oder dafür, dass auf den Philippinen Scheidungen illegal sind. Klingt absurd? Wird Muslimen aber täglich angetan. Wenn irgendwer in einem abgelegenen Dorf in Tunesien ein brutales Verbrechen begeht, trifft es alle Muslime, als wäre das Verbrechen islamische Tradition und als wären wir nicht genauso schockiert darüber, wie Deutsche von sexuellem Missbrauch durch Geistliche an Kindern. Und wenn saudische Sekten-Ärsche New Yorker ermorden, müssen Millionen Irakis sterben.
Wo warst du, als du von den Anschlägen vom 11. September hörtest? Allein schon die Tatsache, dass fast alle Europäer diese Frage beantworten können, aber nicht mal wissen, wie viele Menschen in den 1990er Jahren in Bosnien, nur fünf Stunden Autofahrt von Wien oder Venedig entfernt, ermordet wurden, sagt sehr viel.
Der 11. September ist tief eingraviert ins kollektive Bewusstsein Europas. Doch über 100.000 tote Menschen in Bosnien und Zehntausende in Kosovo werden oft vergessen. Auch an die 360.000 ethnischen Türken, die 1989 aus ihrer Heimat Bulgarien vertrieben wurden, denken Westeuropäer nur selten. Die Millionen Iraker, Jemeniten und Pakistaner, die wegen Bushs selbsternannten „Kreuzzügen“ starben, ihnen wird ebenfalls nicht gedacht. Genauso den Afghanen, die in einem Krieg starben, an dem auch Deutschland beteiligt war, bevor es zeigte, dass Bierdosen ihnen offenbar mehr wert sind als afghanische Leben. Und die Millionen Uiguren, die heute unter Zwangsarbeit, Zwangssterilisierung und Folter leiden? Sie sind nicht mal vergessen – ihr Schicksal wurde lange einfach ignoriert.
Es ist richtig, dass die 2.977 US-amerikanischen Opfer des 11. September verdienten Respekt bekommen. Aber es ist doch Mindfuck, dass Millionen tote Muslime nur Kollateralschaden sind. Der 11. September hat die Welt verändert, den 11. Juli muss man erstmal googeln.
Antimuslimischer Rassismus existiert seit Jahrhunderten. Der Anschlag in New York hat Rassisten aber neuen Treibstoff und breite Akzeptanz gegeben. Als Muslim hat man kaum eine Chance, konservativ zu sein, ohne als „rückständig“ oder direkt als „Islamist“ dargestellt zu werden. Aber CDU-Politiker können aus religiösen Gründen gegen die Ehe für alle stimmen und niemand denkt auch nur im entferntesten daran, sie des „Christismus“ zu beschuldigen. Muslime werden wegen des „politischen Islams“ diffamiert – oft ausgerechnet von CDU-Leuten, die selbst Anhänger des politischen Christentums sind. In deutschen Medien, Unis und Kneipen wird diskutiert, ob Muslime überhaupt zu Deutschland gehören. Ob wir hier existenzberechtigt sind. In Talkshows führen Populisten ergebnisoffene Streitgespräche über rassistische Verschwörungsmythen und nennen sie „Islamisierung“. Wer sich traut, antimuslimischen Rassismus anzusprechen, wird oft überschüttet mit Referenzen zu Al Qaida oder den Anschlägen am Breitscheidplatz.
Ohne mit der Schulter zu zucken, verkünden mehrere europäische Staaten, sie wollen ausschließlich christliche Flüchtlinge aufnehmen. Und das Extremste: Menschen, die den Genozid an bosnischen Muslimen leugnen – sich also daran beteiligen –, sitzen in Parlamenten, Redaktionen, Universitäten und Preisjurys. Die Hilfeschreie der Bosniaken hört ihr nicht.
Alle Muslime sind gleich, sie sind gefährlich, rückständig, alle Teil „des Problems“, wobei das Problem für viele Rechte unsere bloße Existenz ist. Wenigstens geben es seit 2001 mehr Leute zu: Populisten, Rassisten, Genozidleugner, auch hierzulande. Aber wir sind nicht das Problem. Das Problem ist das Problem.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Iris Hochberger