Weißt du noch, wo du am 11. September 2001 warst? Fast jeder Mensch kann sich an den Moment erinnern, in dem er oder sie die Fernsehbilder zum ersten Mal sah: Die Flugzeuge, die ins New Yorker World Trade Center krachten und riesige Löcher in die Glastürme rissen. Die Menschen, die aus den Fenstern in die Tiefe sprangen. Die Schreie derjenigen, die sich auf den Straßen in Sicherheit bringen wollten. Und schließlich der Staub. Die Feuerwehrautos. Die Asche.
Ausgerechnet der damals amtierende US-Präsident George W. Bush sah diese Bilder nicht sofort. Stattdessen saß er am Morgen in einem Klassenzimmer der Emma-Booker-Grundschule in Sarasota, Florida, und las den Schüler:innen die Geschichte „Meine kleine Ziege“ vor. So lange, bis der damalige Stabschef des Weißen Hauses, Andy Card, die Klassentür öffnete und ihm etwas ins Ohr flüsterte: „Amerika wird angegriffen.“ Kurz darauf wurde der Präsident zur Air Force One eskortiert und an den wohl sichersten Ort der Welt gebracht: in den Himmel. Acht Meilen über Amerika.
Der folgende Text rekonstruiert diese Stunden, indem er die Menschen sprechen lässt, die unmittelbar in der Nähe des Präsidenten waren oder engen Kontakt mit ihm hatten. Im Klassenzimmer, in der Air Force One und im Weißen Haus – an Orten, zu denen sonst niemand Zugang erhält. Ein Thriller, der die absurde Realität der damaligen Situation widerspiegelt.
Während das erste Flugzeug ins World Trade Center rast, sitzt Präsident Bush vor einer Grundschulklasse und ahnt: nichts. © U.S. National Archives
Aufgeregte Kinder begrüßen den Präsidenten. In New York gibt es „einen Vorfall“
Karl Rove, Chefberater, Weißes Haus: Wir standen vor der Grundschule. Mein Telefon klingelte. Es war meine Assistentin Susan Ralston, die mir sagte, dass ein Flugzeug das World Trade Center getroffen habe – es war unklar, ob es sich um ein Privat- oder ein Verkehrsflugzeug, ein Propeller- oder ein Düsenflugzeug handelte. Das war alles, was sie an Informationen hatte.
Dave Wilkonson, diensthabender Agent, Secret Service: Eddie Marinzel und ich begleiteten den Präsidenten an jenem Tag als die verantwortlichen Agenten. Der Leiter des Personenschutzkommandos war in Washington zurückgeblieben. Wir hörten: „In New York hat es einen Vorfall gegeben.“
Andy Card, Stabschef des Weißen Hauses: Wir standen an der Tür zum Klassenzimmer, als ein Mitarbeiter zu uns kam und dem Stab einfach die Meldung überbrachte: „Sir, wie es scheint, ist eine zweistrahlige Propellermaschine in einen der Türme des World Trade Center gecrasht.“ Wir sagten alle so etwas wie: „Was für eine Tragödie.“ Der Präsident hatte die Meldung nicht mitbekommen. Dann öffnete die Schuldirektorin die Tür und der Präsident marschierte ins Klassenzimmer, um die Schüler zu begrüßen.
Brian Montgomery, Direktor Veranstaltungen und Vorplanung, Weißes Haus: Mark Rosenker, der Direktor des Militärbüros im Weißen Haus, sagte zu mir: „Dr. Rice muss mit dem Präsidenten sprechen.“ Da war diese Schülergruppe, alles junge Damen in Schuluniform, und die Lehrerinnen, die von alldem überhaupt nichts mitbekamen.
Natalia Jones-Pinkney, Schülerin, Emma-Booker-Grundschule: Alle hatten sorgfältig frisierte Haare mit neuen Schleifen und allem Drum und Dran.
Sandra Kay Daniels, Lehrerin der zweiten Klasse, Emma-Booker-Grundschule: Unsere Direktorin stellte ihn den Kindern vor und er schüttelte einigen Kindern die Hände und begrüßte sie freundlich. Auf diese Weise versuchte er, die Atmosphäre im Raum etwas aufzulockern, denn sie waren in Ehrfurcht erstarrt. Sie waren wie kleine Soldaten, ganz still, ehrfürchtig ergriffen vom Anblick des Präsidenten. Er sagte: „Lasst uns mit dem Vorlesen anfangen.“ Die Geschichte hieß „Meine kleine Ziege“ und stand auf unserer Leseliste.
Brian Montgomery: Der Präsident war sehr liebenswürdig und begrüßte die Schüler, und dann sagte er: „Da ist ein wichtiger Anruf, den ich entgegennehmen muss.“ Er ging in den Nebenraum, direkt zum STU-III, dem abgesicherten Telefonapparat.
Ari Fleischer, Pressesprecher, Weißes Haus: Für den Präsidenten wird immer eine sichere Telefonleitung bereitgehalten. Aber ich glaube nicht, dass wir sie in den neun Monaten, seit er Präsident war, jemals vor einer derartigen Veranstaltung benutzt haben.
Dave Wilkinson: Wir fragten uns, besteht da irgendein Verbindungsinteresse zum Präsidenten? Das ist die Formulierung, „Verbindungsinteresse“. Oder ist das einfach ein Vorfall in New York?
Sandy Kress, leitender bildungspolitischer Berater, Weißes Haus: Ich war hinten im Medienraum. Es gab ein paar Gerüchte über das erste Flugzeug, Leute sahen sich das auf einem Fernsehgerät an. Dann kam es zu einem großen Durcheinander im Medienraum, als sie mitbekamen, wie das zweite Flugzeug einschlug.
Adam Putnam, Republikanischer Abgeordneter, Florida: Ich war ganz neu – ich war im November zum ersten Mal in den Kongress gewählt worden. Wir waren ins Medienzentrum gegangen, um darauf zu warten, dass der Präsident gemeinsam mit den Kindern im anderen Zimmer lesen würde. Wir scharten uns um den Fernseher und sahen die Bilder vom Einschlag des zweiten Flugzeugs.
Dana Lark, Leitende Nachrichtenoffizierin, Air Force One: An meinem Arbeitsplatz in der Air Force One gab es zwei TV-Tuner für den weltweiten Fernsehempfang. Das waren Antennen alter Machart, sie sahen aus wie zwei große Hasenohren. Sie konnten UHF- und VHF-Frequenzen empfangen. Wir hatten nicht die Möglichkeit, CNN, Fox oder irgendwas anderes reinzubekommen. Nur die Today Show, das war das stärkste Signal an diesem Tag. Dort zeigten sie Bilder von den Türmen, aus denen dichte Rauchwolken aufstiegen. Ich sah, wie das zweite Flugzeug einschlug. Ach, du Scheiße. Ich ließ alles stehen und liegen und lief runter, um mir Colonel Tillman zu schnappen: „Komm her, das musst du dir anschauen.“
Mark Tilman, Pilot des Präsidenten, Air Force One: Das ergab überhaupt keinen Sinn. Die Sicht am Himmel war ultraklar.
William „Buzz“ Buzinski, Sicherheitsbeamter, Air Force One: Wir beschützen das Flugzeug, die Präsidentenmaschine Air Force One, rund um die Uhr, selbst wenn der Präsident gegangen ist. Einer der Secret-Service-Agenten des Vorkommandos hatte uns vom ersten Flugzeug berichtet. Dann, etwa siebzehn Minuten später, sehe ich, wie der gleiche Typ erneut über das Rollfeld herbeirennt. Er meldete: „Noch ein Flugzeug hat die Türme getroffen.“ Ich wusste augenblicklich, dass das ein Fall von Terrorismus war. Wir haben sofort damit begonnen, die Sicherheitsmaßnahmen rund um das Flugzeug zu erhöhen – wir haben es enger abgeschirmt.
Paul Germain, Offizier für die Bordfunksysteme, Air Force One: Große Flugzeuge schlagen nicht einfach in kleine Gebäude ein. Dann, sobald dieses zweite Flugzeug eingeschlagen war, leuchtete das Vermittlungspult auf wie ein Weihnachtsbaum.
Mark Tillman: Alles kam in Fahrt. Wir wurden in das PEOC eingeklinkt, den Bunker im Weißen Haus, und in das JOC, das Joint Operations Center des Secret Service. Die sind jetzt alle in der Leitung.
Andy Card: Mir fiel ein, dass wir dort Leute aus dem Weißen Haus hatten – mein Vertreter Joe Hagin und ein Team waren zur Vorbereitung der UN-Vollversammlung nach New York gefahren. Ich dachte, dass Joe vermutlich im World Trade Center war – dort hat der Secret Service im Untergeschoss seine Büros.
Mike Morell, Berichterstatter des Präsidenten, CIA: Ich machte mir große Sorgen, dass jemand ein Flugzeug in diese Schule steuern würde. Dieser Termin stand seit Wochen im Kalender und jeder hätte davon wissen können. Eddie Marinzel, der verantwortliche Secret Service Agent, wollte auf Teufel komm raus weg von dort, so schnell wie nur möglich.
Adam Putnam: Ich höre, wie die Mitarbeiter des Präsidentenstabs darüber diskutieren, dass der Präsident eine Ansprache an die Nation halten müsse. Sie sagen: „Hier können wir das nicht machen. Das geht nicht vor einem Haufen von Fünftklässlern.“ Die Leute vom Secret Service wenden ein: „Ihr macht es hier oder ihr macht es gar nicht. Wir haben nicht die Zeit, es woanders zu machen.“
Dave Wilkinson: Wir versetzen die Fahrzeugkolonne in Bereitschaft, rufen die Polizisten auf den Motorrädern zurück auf ihre Posten, wir sind jederzeit zur Abfahrt bereit. Dann wird mir schlagartig klar: Der Präsident ist der Einzige, der nicht weiß, dass dieses Flugzeug ins zweite Gebäude eingeschlagen ist. Das bereitete uns allen Bauchschmerzen. Die Veranstaltung zog sich hin, und in diesem Moment übernahm Andy Card die Sache.
Der Stabschef flüstert zwei Fakten und einen Kommentar ins Präsidentenohr. George W. Bush verzieht keine Miene
Andy Card: Jeden Tag muss sich ein Stabschef tausend Mal die Frage stellen: „Muss der Präsident davon erfahren?“ In diesem Fall war die Frage leicht zu beantworten. So seltsam es auch klingen mag, als ich dort stand und darauf wartete, mit dem Präsidenten sprechen zu können, dachte ich über einen anderen Vorfall nach, wo es an mir war, Ruhe zu bewahren: Ich war der geschäftsführende Stabschef von Präsident George H.W. Bush gewesen, als dieser sich auf den japanischen Premierminister erbrach. Ich habe mich in diesem Augenblick ganz auf meinen Job konzentriert. Er weigerte sich, den Krankenwagen zu besteigen – er wollte nicht, dass jemand sah, wie der Präsident in einen Krankenwagen steigt –, und in der Limousine ist ihm immer noch schlecht und er übergibt sich wieder, diesmal auf mich. Im Hotel ziehe ich meine laminierte Karte raus, die überschrieben ist: „Für Notfälle“. Ich ging meine Checkliste durch. Ich sagte den Leuten: „Er stirbt nicht, er ist immer noch der Präsident.“ Meine Aufgabe an diesem Tag war es, ruhig und gefasst zu bleiben. Das war natürlich nicht die gleiche Hausnummer, aber ich wusste, dass es mein Job am 11. September war, ruhig und gefasst zu bleiben.
Chaos in der Grundschule: Was ist in New York passiert? Und wo ist der Präsident noch in Sicherheit? Der Stabschef, das FBI, Bush selbst: Alle versuchen, Infos zu kriegen. © U.S. National Archives
Karl Rove: Ich erinnere mich, wie Andy Card an der Tür innehielt, bevor er reinging. Er schien eine Ewigkeit dort zu verharren, in Wirklichkeit dauerte es aber wahrscheinlich nicht länger als ein paar Herzschläge. Ich habe nie verstanden, warum, aber er hat mir dann Jahre später erzählt, dass er einen Moment brauchte, um die Worte zu formulieren, die er verwenden wollte.
Ellen Eckert, Stenografin, Weißes Haus: Es gibt sechs Stenografen, die für das Pressebüro des Weißen Hauses arbeiten. Einer von uns reist immer mit dem Präsidenten mit. Ich habe immer gesagt, dass ich meinen Lebensunterhalt mit Schnelltippen auf der ganzen Welt verdiene. Dieser Morgen verlief ereignislos, bis Andy reinkam.
Andy Card: Mir war klar, dass ich eine Nachricht überbringen würde, die kein Präsident zu hören bekommen möchte. Ich beschloss, zwei Fakten und einen Kommentar zu übermitteln. Ich wollte keine Gesprächssituation herbeiführen, denn der Präsident saß vor der versammelten Klasse. Die Lehrerin bittet die Schüler, ihre Bücher rauszuholen, also nutze ich diese Gelegenheit, um an den Präsidenten heranzutreten. Ich flüsterte in sein Ohr: „Ein zweites Flugzeug hat den zweiten Turm getroffen. Amerika wird angegriffen.“ Ich trat ein paar Schritte zurück, damit er keine Fragen stellen konnte.
Mariah Williams, Schülerin, Emma-Booker-Grundschule: Ich erinnere mich, dass er ganz fröhlich und freudestrahlend wirkte. Dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck und er schaute plötzlich sehr ernst und besorgt.
Lazaro Dubrocq, Schüler, Emma-Booker-Grundschule: Ich kann mich daran erinnern, dass ich bemerkte, wie sich sein Gesichtsausdruck dramatisch veränderte.
Andy Card: Ich war zufrieden mit der Reaktion des Präsidenten – er tat nichts, was Angst ausgelöst hätte.
Amerika ist auf einmal im Krieg. Die Air Force One fährt ihre Maschinen hoch
Gordon Johndroe, Stellvertretender Pressesprecher, Weißes Haus: Wenn man in diesem Raum dabei gewesen war – und es war wirklich kein Thema bis zu dem Dokumentarfilm von Michael Moore „Fahrenheit 9/11“ –, dann wäre es einem seltsam vorgekommen, wenn er aufgesprungen und aus dem Zimmer gerannt wäre. Was in diesem Raum passierte, schien keine Ewigkeit zu dauern. Er beendete die Lesung aus dem Buch und ging dann zurück ins Nebenzimmer.
Karl Rove: Als der Präsident in den Raum mit seinem Mitarbeiterstab zurückkehrte, sagte er: „Wir sind im Krieg – geben Sie mir den FBI-Direktor und den Vizepräsidenten.“
Ellen Eckert: Als wir das Klassenzimmer verließen, fingen bei allen die Pager an zu piepen.
Adam Putnam: Matt Kirk, unsere Verbindungsperson zum Weißen Haus, sagte zu Dan Miller – dem anderen Kongressabgeordneten, der mit dem Tross des Präsidenten mitgereist war – und zu mir: „Es könnte sein, dass wir das einzige Flugzeug sind, das heute zurück nach D.C. fliegt.“ Wir gingen los und stiegen in unseren Wagen in der Fahrzeugkolonne. Man konnte sehen, wie sich die Fenster und Luken der Fahrzeugkolonne öffneten, ein sichtbarer Ausdruck der Bewaffnung, mit der der Präsident ständig umgeben ist.
Karl Rove: Eddie Marinzel trat auf den Präsidenten zu – er saß in einem dieser winzigen Stühle für die Grundschüler –, und Eddie sagte zu ihm: „Wir müssen Sie zur Air Force One bringen und umgehend die Maschine starten.“ Sie waren zu dem Schluss gekommen, dass es sich vielleicht um einen Versuch handeln könnte, einen Enthauptungsschlag gegen die Regierung zu führen.
Bush und sein Team verfolgen live am Fernseher die Geschehnisse in New York. © U.S. National Archives
Dave Wilkinson: Wir einigten uns auf einen Kompromiss. Andy Card sagte, dass wir eine Aula voller Leute hätten, die auf den nächsten Programmpunkt warteten. Es gab dort in Sarasota keine unmittelbare Bedrohung, also stimmten wir zu, dass der Präsident eine Erklärung abgeben könne, bevor wir losfuhren.
Brian Montgomery: Er betrat die Schulaula. Ich erinnere mich, dass ich in die Gesichter der Schüler schaute, als er sagte: „Amerika wird angegriffen.“ Und diese Mädchen, in ihren Gesichtern stand die Frage geschrieben: Was erzählt er uns da?
David Sanger, Korrespondent im Weißen Haus, New York Times: Seinen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Er war aschfahl. Er muss gewusst haben, dass sich seine Präsidentschaft gerade für immer verändert hatte und dass sie von diesem Moment an danach beurteilt werden würde, was er sagte, wie er es sagte und wie gut es ihm gelingen würde, die Nation zu beruhigen.
Andy Card: Er gab eine sehr kurze Erklärung ab. Er legte los und ich zuckte sofort zusammen: Er sagte: „Ich werde zurück nach Washington, D.C. fahren.“ Ich dachte, das wissen Sie nicht. Wir wissen das nicht.
Gordon Johndroe: Ich sagte den Pressevertretern, dass wir sofort zur Fahrzeugkolonne aufbrechen würden. Wir machten immer diesen Witz, meistens mit Fotografen – bloß nicht rennen. Bloß nicht rennen, um den Präsidenten zu erwischen. Dieses Mal sagte ich ihnen: „Leute, wir müssen uns beeilen. Wir müssen zur Fahrzeugkolonne rennen.“ Als wir den Highway entlangfuhren, konnte unser Van mit fünfzehn Personen an Bord kaum mithalten.
Dave Wilkinson: Die Fahrzeugkolonne fuhr los und wir erreichten in sehr aggressiver Manier die Maschine. Geheimdienstinformationen sind immer eher bruchstückhaft. Als wir unterwegs waren, hörten wir zum ersten Mal eine vage Information über eine Bedrohung für den Präsidenten. Das verschärfte die Lage.
Adam Putnam: Entlang der Route, die die Kolonne zurücklegte, hatten sich viele Demonstranten aufgereiht – es ging immer noch um die Neuauszählung der Stimmen – mit Schildern wie „Bush hat die Wahl gestohlen.“
Andy Card: In der Limo hingen wir beide am Mobiltelefon – er war frustriert, weil er Don Rumsfeld nicht erreichen konnte. Es war eine sehr schnelle Fahrt.
Dave Wilkinson: Wir hatten entlang der Route der Fahrzeugkolonne doppelte Blockaden an den Kreuzungen angeordnet. Doppelte und dreifache Blockaden. Dort sollten nicht nur Beamte mit ihren Motorrädern und erhobenen Armen stehen, sondern Fahrzeuge, die effektiv die Straße blockierten. Wir hatten jetzt die Sorge, dass es eine Autobombe geben könnte. Den gesamten Rückweg über benutzten wir die weiteren Limousinen zur Ablenkung, wie bei einem Hütchenspiel, um den Präsidenten zu schützen.
Mark Tillman: Als die Kolonne auftauchte, hatte ich bereits die Triebwerke drei und vier gestartet.
Andy Card: Als sich die Tür der Limousine öffnete, stellte ich mit Erstaunen fest, dass die Triebwerke der Air Force One bereits liefen. Normalerweise ist das ein protokollarisches Tabu.
Buzz Buzinski: Ich stand auf der hinteren Gangway und schaute zu, wie sie vorfuhren. Ich fragte mich: Was denkt der Präsident gerade? Was denkt Andy? Man konnte die Anspannung spüren. Wir waren auf unserem eigenen Boden angegriffen worden. Man konnte ihnen das an den Gesichtern ablesen – Andy Card, Ari Fleischer, der Präsident.
Mike Morell: Alle wurden noch einmal kontrolliert, bevor wir zurück an Bord gehen konnten, nicht nur die Pressevertreter. Sie durchsuchten Andy Cards Aktentasche, er stand direkt vor mir in der Schlange. Sie durchwühlten meine Aktentasche – die mit diesen ganzen geheimen Unterlagen angefüllt war –, aber an diesem Tag sollte ich mich nicht darüber beschweren.
Eric Draper, Fotograf des Präsidenten: Andy Card rief von der obersten Stufe der Gangway: „Nehmt die Akkus aus euren Mobiltelefonen. Wir wollen nicht verfolgt werden.“ Damit stand die Frage im Raum: „Sind wir ein Ziel?“ Daran hatte ich nicht gedacht.
Mark Tillman: Präsident Bush kommt die Gangway hoch in Sarasota. Jeden Tag sahen wir, wie er die Gangway in seinem berühmten texanischen Wiegeschritt hochlief. An diesem Tag gabs keinen Wiegeschritt. Er stampfte die Stufen rauf. Sobald alle Passagiere an Bord waren, fuhr ich die Triebwerke eins und zwei hoch.
Adam Putnam: Da war ein Van, vielleicht ein Van für die Presseleute, der zu nah am Flügel der Maschine geparkt war. Ich erinnere mich, wie ein Agent des Secret Service den Gang runterlief. Sie öffneten die Tür zur hinteren Gangway und er lief runter, um den Wagen wegzufahren. Er hat es nicht mehr zurück an Bord geschafft. Sie haben einfach nicht auf ihn gewartet.
Die Air Force One hebt ab. Niemand weiß, wohin es geht. Alle haben Angst
Andy Card: Wir fingen an zu rollen, noch bevor der Präsident die Suite betreten hatte.
Arshad Mohammed, Korrespondent im Weißen Haus, Reuters: Nach meinen Aufzeichnungen hoben wir um 9.54 Uhr vom Boden ab.
Gordon Johndroe: Das Ding hob ab wie eine Rakete. Die Lampen wackelten, weil sie die Motoren mit voller Kraft angeworfen hatten.
Karl Rove: Der Pilot stellte das Ding auf die Hinterbeine – Nase nach oben, Heck nach unten, als säßen wir in einer Achterbahn.
Ellen Eckert: Wir stiegen so hoch und so schnell in die Luft, dass ich mich fragte, ob wir Sauerstoffmasken benötigen würden.
Buzz Buzinski: Man konnte Angst in den Augen der Leute erkennen. Sie konnten nicht glauben, was sie gesehen hatten.
Andy Card: Präsident Bush hatte das Amt am 20. Januar 2001 angetreten. Aber die Verantwortung, die es bedeutete, Präsident zu sein, bekam erst in dem Moment einen konkreten Gehalt, als ich ihm die Nachricht ins Ohr flüsterte. Ich bin fest davon überzeugt, dass ihm beim Nachdenken über meine Worte Folgendes bewusst geworden ist: „Ich habe einen Eid geleistet: die Verfassung zu bewahren, zu schützen und zu verteidigen. Es geht nicht einfach um Steuersenkungen, um ‚No Child Left Behind‘, um Einwanderung. Es geht um den Eid.“ Wenn man einen Präsidenten wählt, dann will man jemanden, der in der Lage ist, mit dem Unerwarteten umzugehen. Das hier war das Unerwartete.
Eric Draper: Kurz nachdem wir an Bord gegangen waren, sehe ich, wie der Präsident für einen Moment die Kabine verlässt. Er läuft den Gang runter und sagt: „Okay, Jungs, für das hier werden wir bezahlt.“
Mark Tillman, Pilot des Präsidenten, Air Force One: Zunächst war im Gespräch, dass wir ihn zu einem Luftwaffenstützpunkt bringen würden, mindestens eine Stunde von Washington entfernt, vielleicht nach Camp David. Das änderte sich alles, als wir hörten, dass ein Flugzeug in Richtung Camp David unterwegs war. Ich startete die Maschine und stieg auf, wahrscheinlich etwa fünfundzwanzigtausend bis dreißigtausend Fuß, und übergab die Steuerung dem Reservepiloten. Ich hatte an diesem Tag drei Piloten an Bord. Ich ordnete an, weiter Richtung Washington zu fliegen.
Larry Arnold, Kommandeur der 1. Air Force, Norad, Tyndall Air Force Base, Florida: Wir redeten mit dem Secret Service und sie waren unentschlossen, was den Wunsch betraf, ob wir ihm folgen sollten. Wir hatten ein AWACS-Luftaufklärungsflugzeug, das sich vor der Ostküste auf einer Trainingsmission befand. Also leiteten wir diese Maschine nach Sarasota um, damit sie den Präsidenten nach seinem Start begleiten konnte. Die Piloten der AWACS-Maschine meldeten: „Okay, wir werden dem Präsidenten folgen. Wohin fliegt er?“ Wir antworteten: „Das wissen wir nicht.“
An Bord der Air Force One auf dem Weg zur Barksdale Air Force Base. Das größte Problem, das der Stab um den Präsidenten zu diesem Zeitpunkt hat: Wie kriegen sie ihn in Sicherheit? © U.S. National Archives
Ari Fleischer, Pressesprecher, Weißes Haus: Nach dem Start in Sarasota hatten wir etwas TV-Empfang. Es kam eine Werbepause. Ich konnte es nicht fassen. Es lief ein Werbespot für ein Mittel gegen Haarausfall. Ich weiß noch, dass ich dachte: Was, ausgerechnet jetzt schaue ich mir Werbespots gegen Haarausfall an?
Andy Card, Stabschef des Weißen Hauses: Blake Gottesman war mein persönlicher Assistent, aber an diesem Tag war er als Assistent des Präsidenten eingesprungen. Ich sagte zu ihm: „Blake, es ist dein Job, dafür zu sorgen, dass die Leute nicht in die Suite des Präsidenten kommen. Niemand kommt hier rein, es sei denn, der Präsident ruft nach ihnen.“
Karl Rove, Chefberater, Weißes Haus: Andy Card und ich waren beim Präsidenten. Er bekam einen Anruf von Cheney. Er sagte „Ja“, dann gab es eine Pause, während er zuhörte. Dann ein weiteres „Ja“. Man hatte diesen ganzen Tag lang ein nur schemenhaftes Zeitgefühl. Ich weiß nicht, ob es zehn Sekunden oder zwei Minuten dauerte. Dann sagte er: „Sie haben meine Befugnis.“ Dann hörte er noch eine Weile länger zu. Er beendete das Gespräch. Er drehte sich zu uns um und sagte, dass er gerade den Abschuss von entführten Flugzeugen autorisiert hatte.
Andy Card: Gleich nachdem er den Hörer aufgelegt hatte, bemerkte er: „Ich war Pilot bei der Air National Guard – ich wäre einer der Leute gewesen, denen dieser Auftrag erteilt wird. Ich kann mir nicht vorstellen, so einen Befehl zu bekommen.“
Dave Wilkinson: Jede Form des Funkverkehrs an diesem Tag war gestört. Selbst als der Präsident mit dem Situation Room sprach, lief das nicht reibungslos.
Dana Lark, Leitende Nachrichtenoffizierin, Air Force One: Die Leute kamen mit unterschiedlichen Anfragen zum Fernmeldedeck. Ein Agent des Secret Service kommt rein und sagt: „Der Präsident will wissen, wie es um die First Family steht.“ Ich muss ihm sagen, dass ich keine Möglichkeit habe, das herauszufinden. Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie das für den Präsidenten gewesen sein muss.
Karl Rove: Er war so ausgeglichen. Er blieb auf natürliche Weise den ganzen Tag über ruhig und besonnen.
Dana Lark: Wir hatten mehrere parallele Systeme – kommerzielle Satellitensysteme und terrestrische Systeme. Sie waren alle gestört. Ich bekam einen Tunnelblick: Was zum Teufel ist da los? Hat jemand unsere Kommunikationssysteme sabotiert? Erst später begriff ich, dass alle kommerziellen Satellitensysteme überlastet waren. Es waren dieselben Systeme, die die Flugzeugpiloten alle zur gleichen Zeit benutzten, um mit ihren Dispatchern zu reden.
Wladimir Putin macht einen guten Job. Bush wird die Rückkehr nach Washington verboten
Mark Tillman: Wir mussten dann auf die Satelliten des Militärs wechseln, deren Einsatz eigentlich nur für Kriegszeiten vorgesehen ist.
Andy Card: Einer der ersten Gedanken des Präsidenten auf dem Weg von Sarasota zum Luftwaffenstützpunkt Barksdale in Louisiana galt Wladimir Putin.
Ari Fleischer: Putin war großartig an diesem Tag. 2001 war er noch ein anderer Wladimir Putin. Amerika hätte am 11. September keinen besseren Verbündeten haben können als Russland und Putin.
Gordon Johndroe, Stellvertretender Pressesprecher, Weißes Haus: Putin war wichtig. Schließlich waren diese ganzen militärischen Systeme eingerichtet worden, um vor atomaren Angriffen zu warnen. Wenn wir sie in Alarmbereitschaft versetzten, dann mussten wir Putin wissen lassen, dass wir keinen Angriff auf Russland vorbereiteten. Er verhielt sich vorbildlich – er sagte sofort, dass Russland nicht reagieren würde.
Ari Fleischer: Ich hatte das Wort „Enthauptungsschlag“ noch nie zuvor gehört, aber Leute wie Andy, die während des Kalten Krieges aktiv waren und eine entsprechende Ausbildung erhalten hatten, wussten, was los war. Der Secret Service sagte zum Präsidenten: „Wir glauben nicht, dass es sicher für Sie ist, nach Washington zurückzukehren.“
Andy Card: Dann erfahren wir, dass Flug 93 abgestürzt ist. Wir haben uns alle gefragt: Waren wir das?
Mark Tillman: Wir sind alle davon ausgegangen, dass wir die Maschine abgeschossen hatten.
Dave Wilkinson: Als wir das alles mitkriegten, dachten wir, dass es umso sicherer für uns sei, je weiter weg wir uns von Washington entfernten.
Mark Tillman: Wir kriegen diesen Bericht, dass es da einen Anruf gegeben habe, in dem es hieß: „Angel ist der Nächste.“ Niemand weiß mehr genau, woher der Kommentar kam – er wurde irgendwo auf dem Weg zwischen dem Weißen Haus, dem Situation Room und den Bordfunkern falsch übersetzt oder entstellt. „Angel“ war unser Codename, aber die Tatsache, dass sie von „Angel“ wussten – also, dafür musste man dem inneren Kreis angehören. Das war eine große Sache für mich. Es war an der Zeit, einen sicheren Unterschlupf zu finden und sich ordentliche Bewaffnung zuzulegen.
Scott „Hooter“ Crogg, F-16-Pilot, 111. Kampfgeschwader, Houston: Ich hatte gerade meine Alarmbereitschaft in Ellington Field in Houston beendet. Normalerweise dauern unsere Alarmbereitschaftsschichten vierundzwanzig Stunden, meistens geht es um die Bekämpfung des Drogenhandels. Ich war gerade wieder ins Bett gegangen und sah im Fernsehen die Berichte über einen Flugzeugabsturz in den Turm des World Trade Center. Als das zweite Flugzeug einschlug, war jeder Zweifel ausgeräumt. Ich musste wieder zurück an die Arbeit. Auf dem Luftwaffenstützpunkt war die Stimmung düster. Wir bekamen diese kryptischen Nachrichten vom Luftverteidigungssektor Südost. Ich bat die Wartungsabteilung, die Jagdflugzeuge mit scharfen Raketen auszurüsten und die Maschinengewehre zu bestücken. Zwei infrarotgelenkte Raketen und Salven aus einem 20-mm-Geschütz sind nicht gerade viel, um ein entführtes Flugzeug zu stellen, aber mehr hatten wir nicht zur Verfügung. Wir schickten zwei Jagdflugzeuge los, um der Air Force One Schutz zu geben.
Eine F-16 -Maschine gibt der Präsidentenmaschine Air Force One Geleitschutz. © U.S. National Archives
Mark Tillman: Wir postierten einen Polizisten am Fuß der Treppe, die zum Cockpit führte. Solch eine Maßnahme hatten wir noch nie ergriffen.
William „Buzz“ Buzinski, Sicherheitsbeamter, Air Force One: Will Chandler, der leitende Luftwaffenoffizier für die Sicherheit an Bord, wurde nach vorne gerufen und blieb dort oben, um die Treppe zum Cockpit zu sichern. Das brachte uns ins Grübeln: Gibt es etwa eine Bedrohung durch Insider?
Paul Germain, Offizier für die Bordfunksysteme, Air Force One: Colonel Tillman sagte irgendwann: „Am besten, wir kreisen für eine Weile über dem Golf.“ Das hier war unser Pearl Harbor. Man bereitet sich auf den Atomkrieg vor und dann gerät man in so etwas. Das ganze Geld, das sie in unsere Ausbildung gesteckt haben, das hat funktioniert.
Dave Wilkinson: Colonel Tillman brachte uns auf eine Flughöhe, wo wir wussten, dass es kein Zufall sein würde, wenn sich dort ein Flugzeug näherte. Ich war überzeugt, dass wir in der Luft sicherer waren als irgendwo am Boden.
Mark Tillman: Ich brachte uns auf eine Höhe von fünfundvierzigtausend Fuß. Das ist etwa die maximale Flughöhe, die eine 747 erreichen kann.
Ann Comptom, Reporterin, ABC News: Wir standen in der Pressekabine. Ein Agent des Secret Service stand im Gang. Er zeigte auf den Monitor und sagte: „Sieh mal dort, Ann. Wir sind auf fünfundvierzigtausend Fuß und wir können nirgendwo hin.“
Condoleezza Rice, Nationale Sicherheitsberaterin, Weißes Haus: Ich telefonierte mit dem Präsidenten und er sagte: „Ich komme zurück.“ Ich antwortete: „Sie bleiben, wo Sie sind. Sie können nicht hierher zurückkommen. Washington wird angegriffen.“
Karl Rove: Es herrschte eine verbitterte Stimmung. Präsident Bush wird nicht laut. Er haut nicht auf den Tisch. Aber als wir die Halbinsel von Florida überquert hatten, erhoben Andy Card und der Militärberater des Präsidenten Tom Gould immer wieder Einwände gegen eine Rückkehr nach Washington. Irgendwann riefen Cheney und Rumsfeld an und sagten dasselbe.
Dave Wilkinson: Er hat sich den ganzen Tag über mit Händen und Füßen gewehrt, um nach Washington zurückzukehren. Wir haben uns im Grunde genommen geweigert, ihn zurückzubringen. Aus unserer Sicht ist der Secret Service laut Bundesgesetz dazu verpflichtet, den Präsidenten zu schützen. Die Wünsche dieser Person an diesem Tag sind zweitrangig gegenüber dem, was das Gesetz von uns erwartet. Theoretisch ist es nicht seine Entscheidung. Es ist unsere Entscheidung.
Eric Drapper, Fotograf des Präsidenten: Er war sichtlich frustriert und sehr wütend. Ich war nur ein paar Schritte von ihm entfernt und es wirkte, als würde er durch mich hindurchschauen. Er drehte sich erzürnt weg.
Karl Rove: Gould kam rein und sagte: „Mr. President, unsere Tanks sind nicht voll gefüllt. Wir haben zu viele zusätzliche Leute an Bord. Wir können nicht über Washington kreisen, falls das erforderlich werden sollte.“ Er schlug vor: „Lassen Sie uns eine Militärbasis ansteuern, die überflüssigen Passagiere absetzen, auftanken und die Lage neu bewerten.“
Sonya Ross, Reporterin, AP: Wir wussten nicht, wohin es ging, aber sie müssen gekreist sein, denn wir bekamen immer wieder mal eine lokale Fernsehstation aus Florida rein. Das war unser winziges Fenster zur Außenwelt.
Ari Fleischer: Wir hatten kein Satellitenfernsehen an Bord. Der Empfang der Nachrichten brach immer wieder ab, was sehr frustrierend war. Ich war mir nicht bewusst, welche negative Berichterstattung der Präsident dafür bekam, dass er nicht nach Washington zurückkehrte. Die Moderatoren fragten alle: „Wo ist Bush?“ Sie haben ihn sofort dafür kritisiert.
Die Türme des World Trade Center fallen. Jemand sagt den Namen Osama bin Laden
Karen Hughes, Kommunikationsdirektorin, Weißes Haus: Da ich zu Hause war, bekam ich ziemlich viel von der Fernsehberichterstattung mit, so wie der Rest der amerikanischen Bevölkerung, und mir wurde klar, dass es so aussah, als ob die amerikanische Regierung wankte. Ich telefonierte mit meiner Stabschefin im Weißen Haus, als sie zur Evakuierung aufgefordert wurde. Ich konnte sehen, wie das Pentagon brannte. Aber ich wusste, dass viele Regierungsstellen funktionierten – Flugzeuge wurden zurück zum Boden geleitet, Notfallpläne wurden umgesetzt. Ich dachte, jemand sollte das dem amerikanischen Volk mitteilen, also wollte ich mit dem Präsidenten sprechen. Als ich die Vermittlungsstelle anrief, um zu versuchen, die Air Force One zu kontaktieren, meldete sich der Telefonist zurück in der Leitung und sagte: „Ma’am, wir können die Air Force One nicht erreichen.“ Mary Matalin hatte weitergegeben, dass es eine Bedrohung gegen das Flugzeug gab. Es war erschreckend. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich äußerst besorgt.
Sonya Ross: Ann Compton von ABC News und ich versuchten, eine Chronik der Ereignisse zu rekonstruieren – zu welcher Uhrzeit war Andy Card reingekommen und hatte dem Präsidenten ins Ohr geflüstert. Über Kopfhörer lauschten wir dem Fernsehprogramm, aber wir schenkten ihm nur wenig Beachtung. Dann hörte ich, wie ein Reporter sagte: „Der Turm stürzt ein.“ Ich sah zum Fernseher und reagierte völlig fassungslos.
Eric Drapper: Wir waren in der Kabine des Präsidenten, als die Türme fielen. Es war klar, dass das einen katastrophalen Verlust an Menschenleben bedeutete. Im Raum herrschte absolute Stille. Einer nach dem anderen schlich sich davon, und der Präsident stand alleine da und sah zu, wie sich die Wolke ausdehnte.
Andy Card: Ich fragte die Militärberater: „Wo gehen wir hin? Ich will Optionen. Ich will eine lange Landebahn, einen sicheren Ort, gute Funkverbindungen.“ Sie kamen zu mir zurück und nannten die Barksdale Air Force Base. Ich sagte zu ihnen: „Sagt niemandem, dass wir kommen.“
Dave Wilkinson: Es war der perfekte Kompromiss – nahe gelegen und sicher, und wir konnten dort viele Passagiere absetzen. Wir brauchten einen Ort mit gepanzerten Fahrzeugen.
Andy Card: Ich ging in die Kabine des Präsidenten und teilte ihm mit: „Wir landen in Barksdale.“ Er antwortete: „Nein, wir kehren zurück zum Weißen Haus.“ Er war ziemlich ungestüm zu mir. Ich sagte immer wieder: „Ich glaube nicht, dass Sie diese Entscheidung jetzt so treffen wollen.“ Er überlegte hin und her. Wir führten nicht nur ein Gespräch, sondern das waren bestimmt sechs, sieben Gespräche.
Mark Tillman: Wir baten um Unterstützung durch Kampfjets. Wir hörten: „Sie haben Jagdflugzeuge auf sieben Uhr.“ Es waren zwei mit Überschallgeschwindigkeit fliegende F-16 aus der Präsidentengarde. Sie begleiteten uns beim Anflug auf Barksdale.
Scott „Hooter“ Crogg, F-16-Pilot, 111. Jagdgeschwader, Houston: Auf dem Ellington Field in Houston ging der Alarm wieder los, und der F-16-Pilot Shane Brotherton und ich sind gestartet. Wir hatten keine Ahnung, was die Mission war. Man sagte uns: „Sie müssen den ‚Angel‘-Flug abfangen.“ Wir hatten keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Wir hatten noch nie gehört, dass die Air Force One so genannt wird.
Adam Putnam, Republikanischer Repräsentant, Florida, an Bord der Air Force One: Der Abgeordnete Dan Miller und ich gingen zur Kabine des Präsidenten und er briefte uns. Er sagte uns, dass „auf die eine oder andere Art“ der Status aller Flugzeuge bis auf wenige Ausnahmen geklärt worden sei. Das war seine Formulierung. „Auf die eine oder andere Art.“ Er teilte uns mit, dass die Air Force One auf dem Weg nach Barksdale sei und uns dort absetzen würde. Als wir die Kabine verließen, drehte ich mich zu Dan um und sagte: „Fandest du diese Formulierung nicht auch seltsam?“ Aber er schien es nicht bemerkt zu haben. Ich sagte: „Auf die eine oder andere Art, das klingt, als ob mehr dahintersteckt.“ Ich führte den Gedanken fort: „Meinst du, es kann sein, dass wir sie abgeschossen haben?“ Die Frage blieb für uns ungeklärt.
Gordon Johndroe: Ich saß in der Kabine für die Mitarbeiter Mike Morell gegenüber, dem CIA-Berichterstatter des Präsidenten. Ich fragte ihn: „Mike, geht noch etwas anderes vor sich?“ Er antwortete: „Ja.“ Das war ein echter Schlag in die Magengrube.
Brian Montgomery, Direktor Veranstaltungen und Vorplanung, Weißes Haus: Ich fragte Mike Morell, wer das seiner Meinung nach war. Er sagte „UBL“. Ohne einen Augenblick zu zögern. Wer ist UBL? Diejenigen unter uns, denen der Jargon von Langley nicht geläufig war, hatten keinen blassen Schimmer.
Mike Morell, Berichterstatter des Präsidenten, CIA: Der Präsident rief mich zu sich in die Kabine. Sie war vollgepackt mit Leuten. Die Demokratische Front für die Befreiung Palästinas hatte sich zu dem Angriff bekannt. Der Präsident fragte mich: „Was wissen Sie über diese Leute?“ Ich erklärte ihm, dass sie seit langer Zeit in Terroranschläge verwickelt waren, aber nicht in der Lage seien, so etwas zu tun. Unter Garantie nicht. Als ich ging, sagte er zu mir: „Michael, noch etwas. Rufen Sie CIA-Direktor George Tenet an und sagen Sie ihm, wenn er irgendetwas über die Täter herausfindet, dann will ich es als Erster erfahren. Verstanden?“
Sonya Ross: Ich war nervös. Ich dachte – das klingt jetzt wirklich makaber – aber ich dachte: Was ist, wenn sie es auf den Präsidenten abgesehen haben? Dann werden wir alle zu „und ein Dutzend weitere Opfer“. Niemand kennt deinen Namen, wenn du zusammen mit dem Präsidenten verunglückst. Aber Eric Washington, der Tonmann von CBS, hatte seinen Sitz in Liegeposition gebracht und die Füße hochgelegt. Er sagte: „Worüber machst du dir Sorgen? Du bist hier im sichersten Flugzeug der Welt.“
Gordon Johndroe: Die Air Force One war zur gleichen Zeit der sicherste und der gefährlichste Ort der Welt.
Karen Hughes: Als ich schließlich zur Air Force One durchkam und mit dem Präsidenten sprechen konnte, sagte er als Erstes zu mir: „Meinen Sie nicht, dass ich zurückkommen muss?“ Er war ganz versessen darauf, zurückzukommen. Ich sagte ihm: „Ja, so schnell Sie können.“ Jeder spielt unterschiedliche Rollen, und ich dachte nicht an den Aspekt der nationalen Sicherheit, sondern betrachtete die Lage aus der PR-Perspektive.
Bush unterhält sich mit (von links) Karl Rove, Andy Card, Dan Bartlett und Ari Fleischer, bevor er auf dem Luftwaffenstützpunkt Barksdale in Louisiana eine Rede hält. © U.S. National Archives
Andy Card: Mark Tillman sagte: „Es ist mir egal, was er sagt. Ich trage hier die Verantwortung für das Flugzeug.“
Dave Wilkinson: Der Präsident hat mir mal erzählt, der wichtigste Ratschlag, den er von seiner Mutter bekommen hatte, als er Präsident wurde, sei gewesen, immer zu befolgen, was der Secret Service sagt. An diesem Tag erinnerte ich ihn mehrmals daran. Der Präsident und ich kannten einander ziemlich gut – wir hatten viele Stunden gemeinsam auf seiner Ranch verbracht – und im Scherz sagte ich mehrfach an diesem Tag: „Denken Sie daran, was Ihre Mutter gesagt hat.“
Dana Lark: Es kamen so viele Leute auf das Oberdeck, weil wir unten nicht an die Telefone gingen. Es wurde zu voll. Schließlich kam jemand rauf und bat alle, rauszugehen. Die einzige Stabsmitarbeiterin, die mit uns oben blieb, war die Stabssekretärin des Weißen Hauses Harriet Miers. Sie saß auf einem der Plätze für die Nachrichtenoffiziere mit einem Notizblock und nahm alles zu Protokoll.
Andy Card: Der Präsident machte sich Gedanken über seine Frau, seine Kinder, seine Eltern. Dann fragte er sich: Wird noch eine Stadt zur Zielscheibe? Was kommt als Nächstes? Wir alle dachten: Wir können nichts dagegen tun. Wir sitzen hier in einem Flugzeug, acht Meilen hoch am Himmel.
Dave Wilkinson: Wir riefen Mark Rosenker, den Direktor des Military Office im Weißen Haus, in den vorderen Teil des Flugzeugs und baten ihn, uns telefonisch mit dem Kommandeur in Barksdale zu verbinden. Er gab uns die feste Zusicherung, dass der Stützpunkt abgeriegelt sein würde.
Andy Card: Es beruhigte mich, dass Barksdale bereits in Alarmbereitschaft versetzt war. Es würde dort sicher sein. Kein Terrorist würde damit rechnen, dass der Präsident Barksdale als Zufluchtsort aufsuchen würde.
Tom Keck, Kommandeur, Barksdale Air Force Base: Wir hatten bereits im Übungsmodus THREATCON Delta ausgerufen, die höchste Bedrohungsstufe. Ich gab die Anweisung, die Basis nun für den Ernstfall abzuriegeln. Mein Stellvertreter sagte mir, dass unter THREATCON Delta die Offiziere des Generalstabs Handfeuerwaffen tragen müssen. Ich versuchte, mich zu weigern, aber er bestand darauf. Also trug ich meine Handfeuerwaffe, was ich sonst nie tue. Wir erhielten diesen Funkspruch – Code Alpha – ein Flugzeug hoher Priorität im Anflug. Sie wollten hundertfünfzigtausend Pfund Treibstoff, vierzig Gallonen Kaffee, siebzig Lunchboxen und fünfundzwanzig Pfund Bananen. Sie wollten ihre Identität nicht preisgeben. Es war eindeutig ein großes Flugzeug. Wir kapierten schnell, dass es sich bei Code Alpha um die Air Force One handelte.
Ann Comptom: Als wir uns im Landeanflug auf Barksdale befanden, kam Ari zurück in die Pressekabine und sagte: „Das ist jetzt off the record, aber der Präsident wird evakuiert.“ Ich sagte: „Das können Sie nicht als vertrauliche Information behandeln. Das ist eine historische und erschreckende Tatsache.“
Diese Oral History ist ein exklusiver Auszug aus dem Buch „Und auf einmal diese Stille“ von US-Autor Garrett M. Graff. Übersetzt ins Deutsche wurde Graffs Text von Philipp Albers und Hannes Meyer. In den USA ist das Buch unter dem Titel „The Only Plane in the Sky“ veröffentlicht worden. Die deutsche Übersetzung ist 2020 im Suhrkamp Verlag erschienen.
Redaktion: Esther Göbel und Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Iris Hochberger