Dieser Text ist erstmals im Mai 2020 im Schweizer Magazin Reportagen erschienen.
Frühling 2019: Gemeinsam mit ihrem Kleinkind betritt eine Frau im Chaderi, wie die Afghanen eine Burka nennen, die Praxis. Ihr ist übel. Sayed Shah Mehrzad begrüßt sie klassisch afghanisch mit der rechten Hand am Herz und führt sie in den Behandlungsraum, der mit einem Vorhang vom Rest der kleinen Praxis getrennt ist. Währenddessen sitzen einige Männer in der Warteecke. Hajii Niazi, ein greiser Paschtune mit Turban, wurde soeben untersucht. Jetzt hält er eine Tüte Medikamente in der Hand, wirft zum Abschied ein zahnloses Lächeln in die Runde der Wartenden, wünscht allen einen schönen Tag und verlässt die Praxis.
Doktor Sayed Shah, wie er von den meisten genannt wird, ist kein Arzt im Nirgendwo, sondern in der nordafghanischen Provinz Baghlan, die zu den unruhigsten Gebieten des Landes gehört. Sie grenzt an die Provinz Kunduz, in Deutschland bekannt aufgrund jener Luftangriffe, die 2009 vom damaligen Oberst Georg Klein befehligt wurden und über 150 Zivilisten das Leben kosteten. Nach den Angriffen hieß es noch, dass die Opfer Taliban-Kämpfer gewesen seien. Damals wie heute wurde ein Schwarz-Weiß-Bild des Krieges gemalt: auf der einen Seite die gute Nato und die Kabuler Regierung, auf der anderen die bösen Taliban.
Mehrzad kann mit derartigen Konstrukten wenig anfangen. Er weiß, dass sie mit seiner Realität nur oberflächlich zu tun haben. Seit Jahren behandelt der Arzt regelmäßig sowohl Taliban-Kämpfer als auch Soldaten der afghanischen Armee. Es ist ein Krieg unter Brüdern, oftmals im Wortsinne – und Mehrzad steht zwischen den Fronten. „Es gab oft Situationen, in denen Talib und Soldat nebeneinanderlagen und verletzt aufeinander losgehen wollten“, sagt Mehrzad, hält dabei sein Markenzeichen in der Hand, ein englisches Arbeiterkäppchen, und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Was bedeutet die Taliban-Herrschaft für die Menschen in Afghanistan? Diese Frage versucht Emran Feroz in seinem Text zu beantworten. Feroz hat einen engen Bezug zu Afghanistan: Seine Eltern stammen von dort. Immer wieder bereist er das Land, berichtet regelmäßig aus Afghanistan. Gerade ist sein Beststeller „Der längste Krieg – 20 Jahre War on Terror“ erschienen. Sayed Shah hätte im Zuge der aktuellen Krise gern das Land verlassen, „egal wohin“, wie Feroz uns berichtet hat, „doch daraus wurde nichts.“ Sayed Shah ist nach wie vor in Baghlan und versucht, weiter als Arzt zu arbeiten. Seine Familie ist in Kabul.
Mehrzad hat einen braunen Vollbart und sieht jünger aus, als er mit 46 Jahren tatsächlich ist. Unter seinen Freunden gilt er als fröhlicher Charakter, Mehrzad ist einer, der gern mit jedem ein Schwätzchen hält. Seine Familie stammt aus Kabul. Nach dem Sturz der Taliban Ende 2001 wollte sich der junge Arzt in der Hauptstadt ein neues Leben aufbauen. Es waren die ersten Amtsjahre des frisch gekürten Präsidenten Hamid Karzai, und in vielen Teilen Afghanistans, vor allem in den Städten, herrschte ein gewisser Optimismus, der auch Mehrzad ansteckte. Doch er wurde schnell enttäuscht. „Man braucht in Kabul ein deutlich höheres Startkapital, um eine Praxis mitsamt Apotheke zu eröffnen.“
In der Provinz Baghlan herrscht richtiger Krieg
Damals, im Jahr 2005, lagen die Kosten bei ungefähr 20 000 Dollar. „Ich konnte mir das schlichtweg nicht leisten, und daran hat sich bis heute nicht viel geändert“, erinnert sich Mehrzad, dessen Ehefrau und Kinder weiterhin in der Hauptstadt leben. Er besucht sie in unregelmäßigen Abständen. „Ich liebe Baghlan, doch ich kann all dies meiner Familie nicht zumuten. Es ist anders als in Kabul. Hier herrscht richtiger Krieg. Außerdem gibt es keine guten Schulen oder Universitäten für meine Kinder“, sagt er. Und dann ist da noch ein anderer Grund, warum Mehrzad die Provinz Baghlan der afghanischen Hauptstadt vorzieht: Die Menschen hier lebten wie eine große Familie, man schätze und helfe sich, sagt der Arzt, oftmals seit Jahrzehnten – trotz oder vielleicht auch gerade wegen des Krieges. In der Anonymität Kabuls könne er nicht leben, sagt der Arzt.
Die Fahrt von Kabul nach Baghlan dauert rund vier Stunden und führt über den Salang-Pass. Die Strecke gehört zu den schönsten des ganzen Landes. Wer Kabul über die nördliche Route verlässt, fährt vorbei an grünen Tälern mit kristallklarem Wasser. In dieser Region liegt auch das Pandschschir-Tal, Heimat des berühmten Mujahedin-Kommandanten Ahmad Shah Massoud.
„Der Mann, der den Kalten Krieg gewann“, titelte einst das Time-Magazin über Massoud, der als Liebhaber persischer Poesie galt und unter anderem Französisch sprach. In den Bürgerkriegsjahren der 1990er überrannten seine und andere Mujahedin-Milizen Kabul und töteten Tausende von Zivilisten. Zwei Tage vor den Anschlägen des 11. September wurde der Warlord von Attentätern der Al Kaida getötet, die sich als Journalisten ausgegeben hatten.
Im Frühjahr 2019 ist nahezu die gesamte Fahrroute in den Norden mit den Bildern und Plakaten Massouds und anderer getöteter Kämpfer seiner Miliz geschmückt. „Shaheed“, also Märtyrer, ist überall zu lesen und zu einem allgegenwärtigen Begriff in Afghanistan geworden. Kaum verwunderlich, denn Märtyrer gibt es hier viele. Zu viele.
Doch während das verarmte, dafür wenigstens relativ sichere Panjshir zu einer Art Erholungsort für manche Menschen aus Kabul geworden ist, verschlägt es kaum jemanden nach Baghlan. Die Provinz gilt vor allem als gefährliche Transitstrecke für jene Reisenden, die nach Mazar-e Sharif wollen, die Hauptstadt der Provinz Balkh, wo auch die deutsche Bundeswehr stationiert ist. Wer mehr Geld hat als die meisten im Land und es sich leisten kann, nimmt das Flugzeug nach Mazar. Nach Baghlan kommt nur, wer muss, so wie Mehrzad. Denn bei aller Liebe zu Baghlan ist es auch die wirtschaftliche Abhängigkeit, die ihn zwingt, zu bleiben. „Ich habe mir hier alles aufgebaut. Das meiste Geld schicke ich meiner Familie nach Kabul. Ohne mein Einkommen könnten sie dort nicht leben“, sagt er.
Baghlan ist in mehrere Distrikte und Regionen aufgeteilt. In der Provinzhauptstadt Pol-e Khumri findet sich der große Basar mit all dem dazugehörigen Durcheinander einer afghanischen Stadt. Es gibt Obststände mit den berühmten, saftigen Äpfeln aus dem naheliegenden Distrikt Andarab, Bananen, Rosinen, Mandeln und Tee. Junge Schulmädchen kaufen Heft und Stift, während ihre Mütter sich nach dem besten Fleisch fürs Abendessen umsehen. Manche Frauen auf dem Markt sind im Chaderi unterwegs, andere tragen Kopftuch, manchmal locker und offen. Einige Polizisten patrouillieren, während Kinder umherlaufen und Plastiktüten an die Kunden verkaufen. Der Geruch von frischem Brot und rohem Fleisch vermischt sich mit dem von Rauch und Abgasen. Die meisten Busse und Taxis aus der Hauptstadt halten hier, wer umgekehrt eine Fahrt nach Kabul sucht, kann ebenfalls einsteigen.
Um zu Doktor Mehrzads Praxis zu gelangen, braucht es von Pol-e Khumri weitere zwanzig Minuten Autofahrt. Der Arzt arbeitet in einer Gegend, die Einheimische „Fabrik“ nennen. Und das aus gutem Grund: In den vierziger Jahren wurde in dieser Gegend mithilfe deutscher Ingenieure eine Zuckerfabrik errichtet. Zum damaligen Zeitpunkt entwickelte sich Baghlan zu einem industriellen Zentrum, das viele Arbeitsplätze schuf und deshalb viele Menschen aus der Region anlockte. Ganze Familien zogen aufgrund der Fabrik, die heute noch intakt ist, nach Baghlan. Für den verarmten und von der urbanen Machtelite vernachlässigten Norden des Landes war dies ein großer Schritt in Richtung Modernisierung. Der zunehmenden Prosperität stand nichts im Wege – bis der Krieg ausbrach.
Ende der Siebzigerjahre wurde der damalige Präsident Mohammad Daoud Khan von den afghanischen Kommunisten geputscht und mitsamt seiner Familie ermordet. Wenige Monate darauf intervenierte die Sowjetunion und marschierte pünktlich zu Weihnachten 1979 ins Land ein. Der Bürgerkrieg entwickelte sich schnell zu einem Stellvertreterkrieg: Während ein kommunistisches Marionettenregime in Kabul regierte, wurden die verschiedenen Rebellengruppen – die Mujahedin – von den USA und ihren Verbündeten unterstützt. Was das bedeutete, wurde bereits damals schnell in Baghlan deutlich, wo entweder die Rebellen oder die damalige Kabuler Regierung weite Teile der Bevölkerung kontrollierten.
Doktor Mehrzad betrachtet Lemar nicht in erster Linie als Taliban-Kämpfer, sondern als seinen Patienten, den er von klein auf kennt
Egal ob Nachbarn, Freunde oder Verwandte: Jeder konnte in den Augen der Kontrolleure auf einmal ein Spion sein, ein Mörder oder ein Folterer. In vielen Familien fand man sowohl Mujahedin-Kämpfer als auch kommunistische Offiziere. Einer glaubte an Allah und den Dschihad – der andere an Lenin und die Revolution. Der Krieg hatte die ganze Gesellschaft gespalten.
Einen Tag, nachdem Doktor Mehrzad den alten Paschtunen und die Frau im Chaderi in seiner Praxis behandelt hat, sitzt er bei frühsommerlichem Wetter am Ufer des Kunduz-Flusses, der durch Baghlan fließt und für seine prächtigen Hechte bekannt ist. Man isst sie hier zum Frühstück, serviert mit Brot und Tee. Mehrzads Praxis liegt nur ein paar Minuten entfernt von diesem Ort, manchmal kommt er her, um die Stille zu genießen. Heute aber ist er nicht allein. Neben ihm parkt ein Motorrad. Ein junger Mann steigt ab, lange Haare, Bart, eine Kalaschnikow um die Schulter. Er begrüßt den Arzt herzlich, man kennt sich. Der junge Mann heißt Lemar, ist dreiundzwanzig Jahre alt, ein Taliban-Kämpfer, und er macht keinen Hehl daraus.
„Wir sind auf Erfolgskurs, und mit Gottes Hilfe werden wir gewinnen“, sagt Lemar einige Minuten später. Mit „wir“ meint Lemar die Taliban oder wie sich die Bewegung selbst nennt, das „Islamische Emirat Afghanistan“. Vor ihm steht ein Teller mit Reis und Fleisch. Wie alle anderen Anwesenden isst auch der Taliban-Kämpfer mit der Hand. Das Essen schmeckt ihm. Abdul Ghani, ein Einwohner Baghlans und Freund von Mehrzad, schenkt ihm Wasser ein und bietet Gemüse und Obst an.
Auf der anderen Seite des Disterkhans, so heißt im Afghanischen die Tischdecke, die zu Essenszeiten auf dem Boden ausgebreitet wird, sitzt Mehrzad. Während Lemar vom „heiligen Krieg“ spricht und nicht verstehen will, warum die Soldaten der afghanischen Armee gegen die Taliban kämpfen, wirkt Mehrzad nachdenklich und abwesend. Er teilt die Ansichten des jungen und seiner Meinung nach total verblendeten Kämpfers nicht, doch er widerspricht ihm auch nicht. Der Arzt weiß, dass die Verhältnisse in Afghanistan zu komplex sind für einfache Antworten.
Manche jungen Männer gehen zur Armee, während andere sich den Taliban anschließen. Dann richtet sich Lemars Blick auf Mehrzad. „Der Herr Doktor gehört zu unseren Freunden. Er hilft und versorgt uns. Das wissen wir – das Emirat – sehr zu schätzen“, sagt Lemar. Mehrzad sagt nichts, wirkt etwas verlegen. Der junge Talib ist überzeugt, böse und gottlose Menschen zu bekämpfen. In den allermeisten Fällen sind diese allerdings nicht einmal ausländische, nichtmuslimische Soldaten, sondern seine afghanischen Landsleute. Einer von Lemars älteren Brüdern ist ein Regierungsangestellter. Er arbeitet für den Gouverneur von Baghlan, wie Mehrzad später erzählen wird. Die Familie hat mehrmals versucht, Lemar nach Hause zu holen – ohne Erfolg.
Sayed Shah Mehrzad betrachtet Lemar in erster Linie nicht als Taliban-Kämpfer, sondern als jenen kleinen Jungen, den er schon seit Langem kennt. Außerdem gehören Lemar und einige andere Kämpfer zu seinen Patienten. „Das sind alles junge Burschen, die nun verzweifelt versuchen, diesen brutalen Krieg zu romantisieren. Sie lassen sich eine lange Mähne wachsen und einen Bart, der manchmal aufgrund ihrer Jugendlichkeit kaum vorhanden ist. Doch natürlich helfe ich ihnen, wenn sie krank oder verletzt sind und behandelt werden müssen. Das ist meine Aufgabe. Ich kann nicht anders“, sagt Mehrzad.
Auf seinem Smartphone zeigt er die Bilder einiger anderer Kämpfer im Alter Lemars. Sie alle posieren mit ihren langen Haaren und teilweise jugendlichen Bärten. Bisweilen gewinnt man den Eindruck, dass der Krieg für sie ein aufregendes Facebook-Drama ist, in dem sie ihre Männlichkeit beweisen müssen. Einige der jungen Männer leben nicht mehr.
Der hippokratische Eid bringt die Helfenden selbst in Lebensgefahr
Elias, Mehrzads ältester Sohn, wohnt in Kabul und studiert Medizin. Auch er ist Anfang zwanzig. Manchmal grübelt der Arzt, ob auch sein Sohn sich radikalisiert und den Taliban angeschlossen hätte, wenn er in Baghlan aufgewachsen wäre. Verwundert hätte es ihn nicht. Der Status quo in der Region ist die beste Saat für Extremismus und Radikalisierung.
Ärzte und anderes medizinisches Personal stehen in Afghanistan immer wieder unter Druck und werden oftmals auch zu Zielscheiben. Der Grund: Sie behandeln alle Seiten gleich. Das sehen vor allem die lokalen Sicherheitskräfte ungern – und manchmal kann der Eid des Hippokrates die Helfenden selbst in Lebensgefahr bringen. So wie 2016 in Kunduz, als ein Krankenhaus der Organisation Ärzte ohne Grenzen vom US-Militär bombardiert wurde. Bei dem Angriff starben insgesamt über vierzig Menschen, allesamt medizinisches Personal sowie Patienten.
Das amerikanische Pentagon stand im Anschluss in großer Erklärungsnot. Fast alle Beobachter des Krieges, einschließlich der Vereinten Nationen, sprachen von einem Kriegsverbrechen. Denn Ärzte ohne Grenzen hatte bereits vor Beginn der Kämpfe, die damals in der Stadt ausbrachen, die Koordinaten des Krankenhauses mit allen Kriegsparteien geteilt. Sowohl die afghanische Armee als auch das US-Militär behaupteten im Nachhinein, dass sich Taliban-Kämpfer in der Klinik aufgehalten hätten – was Ärzte ohne Grenzen vehement verneinte. Nachdem die Amerikaner ihre Version der Dinge mehrmals geändert hatten, schoben sie letztlich jegliche Schuld auf ihre afghanischen Alliierten und behaupteten, diese hätten den Angriff angeordnet. Gleichzeitig wurde bekannt, dass die Klinik bereits mehrere Monate zuvor zum Ziel afghanischer Spezialeinheiten geworden war. Das Gebäude wurde durchsucht, Personal eingeschüchtert. Auch damals stand der Vorwurf im Raum, die Klinik habe Taliban-Kämpfer behandelt.
„Der ganze Vorwurf ist falsch. Selbst wenn ein afghanischer Arzt Taliban behandelt, kann das nicht als Verbrechen bezeichnet werden. Es ist unsere Pflicht, Menschen zu helfen“, sagt Mehrzad, während er sich, wieder zurück in seiner Praxis, um seine Patienten kümmert. In den letzten Wochen und Monaten wurde ihm bereits mehrmals vermittelt, dass er aufpassen müsse. Es hätte sich herumgesprochen, dass auch er Taliban-Kämpfer behandelt – und womöglich sogar selbst einer sei.
Man merkt dem Doktor an, dass die Drohgebärden ihn belasten. Mehrzads sonst so lockere und witzige Art scheint wie verflogen. Er beißt sich auf die Lippen, wirkt leicht unkonzentriert. „Was wollen die von mir?“, murmelt er vor sich hin, während er den Blutdruck eines älteren Mannes misst. Dieser spürt den Unmut des Arztes und versucht, ihn zu beruhigen: „Mach dir keine Sorgen. Jeder hier kennt und respektiert dich. Wir lieben dich alle. Dir wird nichts passieren!“
Mittlerweile ist es November geworden, in Baghlan zieht die Kälte übers Land. Die alltägliche Unruhe herrscht weiterhin, doch in Doktor Mehrzads Praxis scheint immer noch alles in bester Ordnung zu sein: Die Medikamente stehen geordnet in den Regalen. Der Tresen mit dem Glaskasten wirkt wie neu. Die Möbel glänzen. Auf dem Vorhang, der ins Behandlungszimmer führt, lässt sich kein einziger Fleck finden. Alles wirkt sauber und unverändert. Der einzige große Unterschied zu früher ist eine massive Eingangstür mit einem dicken Schloss, das sich nicht leicht aufbrechen lässt. „Früher“ – das war die Zeit vor dem Anschlag.
Ende September wurde Sayed Shah Mehrzads Praxis angegriffen. Er hat die Szene mit seinem Smartphone dokumentiert. Im Video sieht man die ausgebrannten Möbel und Arzneipackungen. Unbekannte Täter brachen die Tür auf und warfen mehrere Brandsätze in die Räume. Niemand war anwesend. Zeugen gab es keine. Mehrzad stand inmitten seiner zerstörten Existenz. Voller Wut und Trauer schwor er sich in diesem Moment, seinem Baghlan den Rücken zu kehren. Er kann nicht mehr, und er will auch nicht mehr – dachte er nach dem Anschlag. Wie konnten die Menschen aus der „Fabrik“, die er nun seit Jahren kennt und denen er stets geholfen hat, ihm so etwas antun?
Plötzlich wurde Mehrzads Praxis zur Front
Natürlich sind nicht alle schuldig, doch einige von ihnen sind es sehr wohl, denkt er. Waren es die Soldaten, die ihn respektierten und gleichzeitig verachteten? Oder waren es die Taliban, denen er trotz zahlreicher Risiken stets half? Eine Antwort lässt sich bis heute schwer finden. „Unbekannte Täter“ gehört mittlerweile zu den meistbenutzten Begrifflichkeiten in der afghanischen Berichterstattung.
Mehrzads Schock wandelte sich in Gleichgültigkeit. Lange stand er zwischen den Fronten. Damit konnte er irgendwie leben. Doch dann wurde seine eigene Praxis zur Front, zum Ziel eines Angriffs. Das war zu viel. Ärztliches Pflichtgefühl und finanzielle Abhängigkeit hin oder her, er wollte weg. Zuerst nach Kabul zu seiner Familie und dann – im besten Fall – raus aus Afghanistan. Vielleicht nach Europa, wo viele andere Afghanen gelandet sind. Die Zukunft, sie fand für ihn woanders statt, so dachte er zumindest.
Jetzt, rund acht Wochen nach dem Anschlag, sitzt Mehrzad im Gästezimmer eines langjährigen Freundes Farzad Sattar, eines Ingenieurs, und spricht über die anhaltende Gewalt in Baghlan. Die kurze Strecke zwischen Pol-e Khumri und der „Fabrik“ wird regelmäßig zum Ziel von Angriffen. Immer wieder tauchen entlang des Weges ausgebrannte Fahrzeuge auf. Während in diesen Tagen Soldaten an der Straße patrouillieren, verstecken sich Taliban-Kämpfer hinter den Bäumen. „Sie schießen, wann sie wollen. Und wen trifft es? Natürlich Zivilisten“, meint Ahmad Agha, ein Freund des Arztes, der mit in der Runde sitzt und ebenfalls aus Baghlan kommt. Vor ihm und den anderen Anwesenden stehen Tassen voll mit schimmerndem Grüntee, getrocknete Früchte und frisches Obst.
Aus Mehrzads Flucht ist nichts geworden. Stattdessen ist er in Baghlan geblieben und hat mit der Hilfe von Freunden, Verwandten und Patienten seine Praxis wieder aufgebaut. „Sie haben mir alle geholfen. Bei allem“, sagt er. „Natürlich haben sie das. Doktor Sayed Shah ist auf Facebook mit ganz Baghlan befreundet“, sagt Ingenieur Sattar lachend.
Nur mit Mehrzads letzten Ersparnissen wäre eine derartige Sanierung der Praxis nicht möglich gewesen. Es waren die Einwohner von Baghlans „Fabrik“, die ihm unter die Arme griffen und ihren Arzt nicht gehen lassen wollten. Bis heute weiß niemand, wer die Brandstifter waren. Seitdem Lemar und seine Taliban-Kumpanen erfahren haben, dass Mehrzads Praxis angegriffen wurde, besuchen sie ihn nicht mehr. Der Arzt weiß allerdings stets über alle seine Patienten Bescheid, auch über die unerwünschten. „Ihre Familien kommen regelmäßig vorbei. So erfahre ich dennoch, wie es um sie steht. Manchmal schicke ich ihnen Arzneimittel“, sagt er.
Währenddessen läuft im afghanischen Fernsehen ein kurzer Beitrag über die Auswirkungen der sogenannten „Mutter aller Bomben“, der größten nichtnuklearen Bombe des US-Militärs, die im April 2018 über den Distrikt Achin in der ostafghanischen Provinz Nangarhar abgeworfen wurde. Wer genau die Opfer waren, ist bis heute unklar. Kurz nach der Detonation wurde das Gebiet weiträumig von amerikanischen und afghanischen Soldaten abgesperrt. Nach offiziellen Angaben wurden lediglich „IS-Terroristen“ getötet. Der TV-Beitrag über die Bombe befasst sich mit deren gesundheitlichen Auswirkungen. In Achin klagen Kinder und Jugendliche seit mehreren Monaten vermehrt über Hautkrankheiten, wie Einwohner berichtet haben. Mehrzad ist darüber alles andere als überrascht. „Ich kenne diese Krankheiten sehr gut. Sie sind auch in Baghlan im Umlauf. Unser Land ist von Bomben verseucht“, sagt er. Das einzige Mittel, das einigermaßen wirkt und von Mehrzad oft verschrieben wird, ist eine Salbe. „Etwas anderes haben wir hier auch nicht.”
Doktor Mehrzad weiß, dass sich in Baghlan und wohl auch im Rest Afghanistans in nächster Zeit nicht viel ändern wird. Die Friedensgespräche zwischen Washington und den Taliban sieht er skeptisch, genauso wie das Verhalten der Kabuler Regierung, die den Krieg im Land ebenso erbarmungslos fortführt wie die Extremisten. Mehrzad macht trotzdem weiter. Auch heute steht er wieder in seiner Praxis. Da kommt ein neuer Patient zur Tür herein, ein befreundeter Polizist. „Na, Herr Doktor. Wo bleibt mein Medikament?“, posaunt er herum. Der Arzt lacht und wirft ihm ein Arzneimittel zu. „Ist für seine Mutter“, kommentiert er.
Mehrzad wird weiterhin beide Seiten behandeln. Bald in seiner Praxis, bald einige Kilometer entfernt, wenn er wieder einmal Lemar und seine Kumpanen aufsuchen muss. Dafür ist er nun einmal da – ob es manchen missfällt oder nicht.
Redaktion: Esther Göbel; Bildredaktion: Till Rimmele; Schlussredaktion: Susan Mücke; Audioversion: Christian Melchert