Victor Orban rollt die Augen, sein Gesicht ist bedrohlich ausgeleuchtet.

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Wie die EU Orbán stoppen will, verständlich erklärt

Immer wieder verstößt Ungarn gegen gemeinsame europäische Werte. Ich erkläre dir, wie die EU sich wehrt.

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Ständig lese ich in den Nachrichten von einem Streit der EU mit Ungarn – was ist da los?

Eigentlich ist der Konflikt schon ziemlich alt: Seit Machthaber Viktor Orbán im Jahr 2010 wieder zum Premierminister gewählt worden ist, arbeiten er und seine Regierung daran, die ungarische Verfassung neu zu schreiben und das Land in eine national-konservative Autokratie zu verwandeln, scheinbar erfolgreich: im September 2022 erklärte das EU-Parlament Ungarn zu einem „hybriden Regime der Wahlautokratie“.Das politische System wurde nach und nach umgebaut, die Macht von Opposition und Regierungsgegnern systematisch geschwächt. Beim ungarischen Verfassungsgericht etwa gibt es inzwischen keine:n einzige:n Verfassungsrichter:in mehr, der oder die nicht von Orbáns Partei Fidesz nominiert wurde.

Das klingt ziemlich beunruhigend.

Allerdings. Aber das ist noch nicht alles: Auch die Nationalbank wurde umgebaut. Außerdem hat Orbán die Freiheit der Medien stark eingeschränkt. So sehr, dass die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ Orbán 2021 auf ihre Liste der „Feind:innen der Pressefreiheit“ gesetzt hat – als ersten europäischen Premierminister überhaupt.

Das alles hat also dazu geführt, dass die EU jetzt konkrete Schritte gegen Ungarn eingeleitet hat?

Jein. Wie gesagt: Der Konflikt schwelt seit Jahren. Abgesehen von den politischen Blockaden der letzten Monate hat sich die Lage vor allem durch ein Gesetz zugespitzt, das in Ungarn Ende Juni 2021 in Kraft getreten ist: Unter dem Vorwand, Kinder zu schützen, hat die ungarische Regierung darin Homosexualität kriminalisiert. Dazu kommen die Blockaden in den Beitrittsverfahren von Finnland und Schweden, der Hilfspakete für die Ukraine sowie der globalen Mindessteuer.

Wie bitte? Was ist das für ein Gesetz?

Es schränkt den Zugang zu Informationen über Trans- und Homosexualität ein, indem es verbietet, nicht-heterosexuelle Paare in Büchern, Filmen, Serien und anderen Medien abzubilden, die Kindern und Jugendlichen zugänglich sind. Auch Werbung, in der trans- und homosexuelle Menschen eine Rolle spielen, soll verboten werden. Mit anderen Worten: Eigentlich soll alles von der Bildfläche verschwinden, was von Orbáns Familienbild – Mama-Papa-Kind – abweicht. „Die Mutter ist eine Frau, der Vater ist ein Mann“, so steht es seit ein paar Monaten in der ungarischen Verfassung geschrieben.

Die Regierung betont, das Gesetz diene nur dazu, Kinder und Jugendliche vor „sexueller Propaganda“ zu schützen. Aber im gleichen Gesetz werden die geltenden Pädophilie-Gesetze verschärft – dadurch wird ein Zusammenhang mit Homosexualität hergestellt, der schlichtweg diskriminierend ist. Das drängt alle nicht-heteronormativen Menschen an den Rand der Gesellschaft, in einem Land mitten in Europa. Und das ist ein Problem für die EU. Weil eine solche Politik nicht mit den demokratischen europäischen Grundwerten einhergeht.

Verstehe. Deswegen also liegt die EU mit Ungarn im Clinch. Aber mal ehrlich: Ist es nicht allein Ungarns Sache, welche Gesetze das Land erlässt?

Nein, ist es nicht. Das Zusammenleben in der Europäischen Union beruht auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Das bedeutet: Alles, was die EU tut, basiert auf gemeinsamen Verträgen. Die die einzelnen Mitgliedsländer freiwillig unterschrieben haben. Ungarn hat sich also wie alle anderen 27 Nationalstaaten dazu verpflichtet, nach jenen Regeln zu spielen, die die EU vorgibt. Der Bruch dieses Prinzips hat dazu geführt, dass Ungarn im Dezember 2022 finanzielle Hilfen in Höhe von 6,3 Milliarden Euro gekürzt wurden.
Als Grund dafür wurde die unzureichende Bekämpfung von Korruption angeführt. Es besteht die Sorge, dass das Geld nicht sinnvoll eingesetzt werden wird.

Und was für Verträge sollen das sein?

Im Moment ist der wichtigste der Vertrag von Lissabon. Er gilt seit dem 1. Dezember 2009 und beinhaltet den sogenannten Vertrag über die Europäische Union und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Hinzu kommen der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atomgesellschaft und die Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Um Himmels willen! Mein Kopf fällt gleich auf die Tischplatte!

Muss er nicht. Grundsätzlich reicht es, sich Folgendes zu merken: Die verschiedenen EU-Verträge regeln das Zusammenleben in der Europäischen Union, indem sie die Beziehungen zwischen den EU-Organen und ihren 27 Mitgliedsstaaten koordinieren. Wie bei allen Verträgen funktioniert das aber nur, wenn sich beide Seiten daran halten. Diese vier Verträge sind das sogenannte Primärrecht der Europäischen Union. Basierend auf den Verträgen verabschieden die zuständigen EU-Organe eine ganze Menge Richtlinien und Verordnungen, an die sich die Mitgliedsstaaten ebenfalls halten müssen, beziehungsweise die sie in ihrem Land umsetzen müssen, indem sie nationale Gesetze erlassen. (Mein Kollege Rico Grimm hat hier mal erklärt, welchen Einfluss die EU auf die nationale Gesetzgebung hat).

Okay, die einzelnen Staaten der EU verpflichten sich also vertraglich. Und bei einem Verstoß gegen diese Verträge muss die EU eingreifen. Verstanden. Was genau tut sie, um Orbán etwas entgegenzusetzen?

Das Gleiche, was sie bei jedem anderen Staat auch tun würde: Sie leitet ein sogenanntes EU-Vertragsverletzungsverfahren ein (ja, es ist wirklich ein schreckliches Wort!). Das kann die EU immer dann tun, wenn sie den Eindruck gewinnt, einer der Mitgliedsstaaten verstößt gegen die Spielregeln. Seit 2022 können außerdem finanzielle Leistungen bei Nichteinhaltung der Rechtsstaatlichkeit gekürzt werden.

Demonstrierende auf der Gay Pride in Budapest halten ein Schild mit Victor Orban als Dämon hoch, der LGBTQIA+ Kinder bedroht.

Jedes Land der EU einigt sich durch seine Mitgliedschaft auf gemeinsame demokratische Werte. In Ungarn aber werden Personen aus der LGBTQ-Community diskriminiert. © Getty Images / Janos Kummer

Wer genau leitet dieses Verfahren ein?

Die EU-Kommission, also die Kommissar:innen aus den 27 Mitgliedsstaaten.

Warum dürfen die das?

Weil die Kommission in der EU die Rolle der Exekutive innehat. Wäre die Europäische Union ein Staat, wäre die Kommission die Regierung. Außerdem nennt man die EU-Kommission auch die „Hüterin der Verträge“: Es ist ihre Aufgabe aufzupassen, dass EU-Recht korrekt angewandt wird. Grundsätzlich kann aber auch ein Mitgliedsstaat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen einen anderen Mitgliedsstaat vor dem Europäischen Gerichtshof anzetteln.

Vertragsverletzungsverfahren, das klingt nach einem krassen Schritt. Kommt es oft dazu?

Diese Verfahren sind nicht unüblich: Allein 2019 wurden 797 neue Verfahren in die Wege geleitet, insgesamt waren Ende 2019 damit noch 1.564 Verfahren offen (die EU-Kommission veröffentlicht dazu jedes Jahr einen Bericht, den ihr hier lesen könnt.

So viele?! Wie läuft so ein Verfahren ab, ist das kompliziert?

Die Verfahren laufen in mehreren Stufen ab, nur ein ganz kleiner Teil von ihnen erreicht die letzte dieser Stufen. Bis es soweit ist, kann es zudem mehrere Jahre dauern.

Dachte ich mir schon: total kompliziert!

Schauen wir uns den Ablauf doch mal Schritt für Schritt an:

  1. Jedes Vertragsverletzungsverfahren beginnt mit einem Schreiben der EU-Kommission. Wenn die den Eindruck hat, dass ein Mitgliedsstaat eine EU-Richtlinie nicht vernünftig umsetzt oder gegen EU-Recht verstößt, schickt sie dem betroffenen Land zunächst ein sogenanntes Aufforderungsschreiben. Darin erkundigt sie sich, was los ist und bittet um nähere Informationen. Der betroffene Mitgliedsstaat hat dann in der Regel zwei Monate Zeit, ein ausführliches Antwortschreiben zu übermitteln.

  2. Die Kommission bewertet diese Antwort: Wenn sie entscheidet, dass die Erklärungen des Mitgliedsstaates nicht ausreichen, schreibt sie eine offizielle Stellungnahme. Darin begründet sie die Einleitung des Verfahrens und fordert den betroffenen Mitgliedsstaat auf, Übereinstimmung mit dem geltenden Recht herzustellen. In der Regel gibt sie dem Land zwei Monate Zeit, von seinen getroffenen Maßnahmen zu berichten. Spätestens nach dieser Stufe werden eigentlich die meisten Fälle geklärt und abgeschlossen, weil die Mitgliedsstaaten nachbessern. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) käme erst bei der nächsten Stufe ins Spiel – und das auch nur, wenn die Kommission sich entscheidet, das Verfahren weiterzuführen.

  3. Führt sie es weiter, wendet sich die Kommission also an den EuGH: Die Richter:innen befassen sich mit dem Fall und entscheiden, ob die EU-Kommission oder der Mitgliedsstaat Recht bekommt. Erst, wenn der beschuldigte Mitgliedsstaat auch dem Urteil des EuGH nicht Folge leistet, wird die letzte Eskalationsstufe erreicht:

  4. Die EU-Kommission kontaktiert den EuGh erneut. Diesmal bittet sie ihn, Strafzahlungen gegen den Mitgliedsstaat zu verhängen.

Also an dem Punkt wirds jetzt teuer?

Jein. Wie hoch diese Strafzahlungen sind, ergibt sich aus Berechnungen, in die verschiedene Faktoren einfließen: Unter anderem, wie wichtig die Richtlinie, Verordnung oder der Artikel im EU-Vertrag ist, gegen die verstoßen wurde und über welchen Zeitraum sich der Verstoß gezogen hat. Auch das Bruttoinlandsprodukt des Mitgliedsstaates wird berücksichtigt, um sicherzugehen, dass das betroffene Land die Strafzahlungen stemmen kann. Die Strafzahlungen sollen zwar durchaus eine „abschreckende Wirkung“ haben, aber natürlich ist es auch nicht im Interesse der EU-Kommission, wenn ein Land an der Zahlung zu hoher Summen scheitert.

Es kommt aber, wie gesagt, nur in sehr wenigen Fällen tatsächlich zu dieser letzten „Eskalationsstufe“: Eine Untersuchung hat ergeben, dass 2016 zum Beispiel 986 Aufforderungsschreiben an Mitgliedsstaaten verschickt worden sind, zu Strafzahlungen aber kam es nur in zwei Fällen. Du siehst: Die überwiegende Mehrheit der Vertragsverletzungsverfahren werden geklärt, bevor es zu Strafzahlungen kommen muss.

Moment mal: So viel Stress – und am Ende passiert gar nichts? Dann kann man es doch gleich lassen!

Nein, kann man nicht. Die EU braucht Mechanismen wie das Vertragsverletzungsverfahren, damit sich die Mitgliedsstaaten an Regeln halten. Das Zusammenleben von 27 eigenen Staaten muss schließlich irgendwie koordiniert und zusammengehalten werden.

Für mich klingt das einfach nur nach wahnsinnig viel Aufwand – bringen diese Vertragsverletzungsverfahren überhaupt irgendetwas?

Das lässt sich so pauschal nicht beantworten. Denn es kommt tatsächlich in erster Linie auf die Beweggründe der Mitgliedsstaaten an, wieviel die Vertragsverletzungsverfahren letztendlich bringen.

Wie das?

Für jeden Staat ist ein solches Verfahren unangenehm: Es bringt negative Presse, die Regierung muss sich vor der Zivilgesellschaft und der Opposition rechtfertigen, die dadurch eventuell noch Aufwind bekommt, nicht zu vergessen die erwähnten Strafzahlungen. Das sind alles Dinge, die nationale Regierungen in der Regel vermeiden möchten, weswegen sie den Aufforderungen der EU-Kommission meistens schnell nachkommen. Viele Vertragsverletzungsverfahren erledigen sich außerdem mehr oder weniger von allein: Wenn ein Nationalstaat nur die Frist versäumt hat, eine Richtlinie umzusetzen, zum Beispiel. Man kann also sagen: Die Vertragsverletzungsverfahren sind einfach nur der Mechanismus, der die EU-Mitgliedsstaaten daran erinnern soll beziehungsweise dazu zwingt, EU-Recht umzusetzen. Und damit sind sie meistens sehr erfolgreich.

Aber Ungarn hat ja nicht einfach „vergessen“, irgendeine Richtlinie fristgerecht umzusetzen.

Richtig. Und das macht die beschriebene Situation so besonders: Im Falle von Ungarn wird ganz bewusst gegen das Rechtsstaatlichkeitsprinzip der Europäischen Union verstoßen. Hier gerät das Vertragsverletzungsverfahren dann auch an seine Grenzen. Denn natürlich können Kommission und EuGH am Ende „nur“ mit Strafzahlungen drohen, die in ihrer Höhe auch noch durch die Berechnungsmethode gedeckelt sind. Und natürlich weiß das Ungarns Premierminister Viktor Orbán. Der Konflikt um das undemokratische, diskriminierende Verhalten der ungarischen Regierung ist viel politischer, als es Vertragsverletzungsverfahren normalerweise sind. Das macht Orbán sich zunutze.

Doppelbelichtung, Victor Orban der sich mit dem Mittelfinger am Auge kratzt überlagert von einer EU-Flagge

Victor Orbán und die EU: ein schwieriges Verhältnis © Getty Images / via LightRocket/SOPA Images/Omar Marques

Also kann die EU gegen Orbán gar nichts ausrichten?!

Naja, nicht nichts. Der neue Rechtsstaatsmechanismus könnte die Sachlage ziemlich verändern.

Der was bitte? Komm mir doch jetzt nicht mit noch so einem Horror-Wort!

Nur kurz, versprochen! Vielleicht erinnerst du dich noch an den sehr langen EU-Gipfel im Sommer 2020. Bei dem wurde der größte gemeinsame Haushalt in der Geschichte der Europäischen Union beschlossen und zudem, dass sich die EU für den Corona-Wiederaufbaufonds erstmals gemeinsam verschuldet. Der Gipfel dauerte auch deswegen so lange, weil diskutiert wurde, ob man die Auszahlung von EU-Geldern, unter anderem aus dem Corona-Fonds, in Zukunft an die Einhaltung von rechtsstaatlichen Prinzipien koppeln sollte. Und jetzt rate mal, wer da ziemlich protestiert hat.

Ungarn!

Ganz genau. Die ungarische Regierung wusste nämlich schon, was auf sie zukommen würde, wenn ihr in Zukunft EU-Subventionen gekürzt werden können, weil sie diskriminierende Gesetze erlässt.

Und wann kommt dieser Rechtsstaatsmechanismus jetzt endlich?

Er ist tatsächlich schon in Kraft getreten und zwar zum 1. Januar 2021. Daraufhin haben Polen und Ungarn eine Klage beim EuGH eingereicht, um prüfen zu lassen, ob der Mechanismus rechtskonform ist. Seit Anfang des Jahres 2022 steht fest, dass er rechtens ist. Das ist auch die Grundlage, auf der die Zahlung von 6,3 Milliarden Euro an Ungarn gekürzt wird und möglicherweise auch die Leistungen aus dem Corona-Aufbaufonds ausgesetzt werden.

Mir schwirrt jetzt etwas der Kopf. Kannst du mir das nochmal zusammenfassen?

Grundsätzlich kannst du dir Folgendes merken:

  1. Vertragsverletzungsverfahren sind ein sehr üblicher und wichtiger Mechanismus, um die Einhaltung von EU-Recht in den Mitgliedsstaaten durchzusetzen. Die meisten dieser Verfahren können erfolgreich abgeschlossen werden, ohne dass es zu Strafzahlungen kommen muss. Das liegt daran, dass viele Verfahren auf Form- oder inhaltlich wenig umstrittenen Umsetzungsfehlern basieren, die schnell korrigiert werden können. In der Regel sind die Mitgliedsstaaten ja kooperativ.

  2. Die Situation in Ungarn weicht davon stark ab. Die aktuellen Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn sind deutlich politischer, was eher untypisch ist. Der ungarische Premierminister Viktor Orbán legt es praktisch auf die Eskalation an, auch, weil er weiß, dass die EU mit dem Verfahren hier nur eingeschränkte Möglichkeiten hat. In diesem Fall stößt der Mechanismus tatsächlich an seine Grenzen.

  3. Seit 2021 ist in der EU der Rechtsstaatsmechanismus in Kraft und zeigt bereits Wirkung: Bei einer Inflationsrate von 21 Prozent sah sich Orbán dazu gezwungen, zwei seiner Blockaden aufzugeben. So machte Ungarn heute den Weg für 18 Milliarden Euro Hilfe für die Ukraine sowie die globale Mindeststeuer frei. Damit konnte Orbán die empfohlene Kürzung von 7,5 Milliarden Euro auf 6,3 Milliarden runterhandeln.


Redaktion: Esther Göbel; Bildredaktion: Till Rimmele; Schlussredaktion: Susan Mücke; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert

Dieser Text wurde am 13. Dezember 2022 von Mariya Merkusheva aktualisiert.

Wie die EU Orbán stoppen will, verständlich erklärt

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