In Deutschland herrscht Wechselstimmung. Nach 16 Jahren Angela Merkel als Bundeskanzlerin haben viele Menschen genug und wünschen sich einen Machtwechsel. Eine ähnliche Stimmung gab es schon einmal: 1969 als Willy Brandt der erste SPD-Bundeskanzler wurde. Nach 20 Jahren konservativer Regierung trauten viele Menschen der Union nicht mehr zu, auf die neuen Entwicklungen in der Welt reagieren zu können.
Wer sich mit den Wahlkämpfen aus dieser Zeit beschäftigt, merkt schnell: Geschichte wiederholt sich doch.
Genau wie damals gibt es eine große Lust auf Ablösung einer langjährigen Regierungspartei, die unfähig scheint, auf Probleme zu reagieren. Damals gab es einen jungen Kandidaten aus einer misstrauisch beäugten Partei, der für einen Wechsel stand. Heute gibt es eine junge Kandidatin. Beide waren und sind ständig persönlichen Angriffen und Beleidigungen ausgesetzt, ihre Biographie wird auseinandergenommen. Gleichzeitig zeigen die Wahlkämpfe der 1960er Jahre aber auch: Für die Demokratie kann es besser sein, wenn Politik langweilig ist.
Ich habe mit dem Historiker Bernd Rother gesprochen, der über 20 Jahre lang bei der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung gearbeitet hat, bei der Wahl von Willy Brandt zum Bundeskanzler gerade 15 Jahre alt war und selbst im Ruhestand nicht aufhört, über den ehemaligen Bundeskanzler zu forschen.
1969 konnte die SPD nach 20 Jahren CDU das erste Mal den Bundeskanzler stellen. Wie hat sie das geschafft?
Eine Frage hat viele Menschen im Wahljahr 1969 beschäftigt: Ist Deutschland auf die modernen Zeiten vorbereitet? Über CDU und CSU sagten viele Leute: „Nein, die schaffen das nicht!“
1957 hatte die CDU noch mit dem Wahlslogan „Keine Experimente!“ die absolute Mehrheit bekommen. Aber die beiden Unionsparteien leugneten, im Wesentlichen, dass ein Wandel nötig sei – egal wo. SPD und FDP standen dagegen für diese modernen Zeiten mit einer neuen Wirtschafts- und Ostpolitik. Ähnliche Bewegungen gab es auch in den USA, in Frankreich und Großbritannien. Die Haltung der Union war überholt.
Die Mehrheit der Bevölkerung war unzufrieden. Es gab eine Wechselstimmung.
Woher kam diese Wechselstimmung?
Es begann mit dem Sputnik-Schock. Der Sowjetunion war es 1957 als erstem Land gelungen, einen Satelliten in die Erdumlaufbahn zu schicken. Danach waren sich viele im Westen nicht mehr sicher, ob die Sowjetunion nicht technologisch und damit dann auch wirtschaftlich die Chance hätte, stärker, innovativer, leistungsfähiger als der Westen zu werden. Daraus ergab sich eine Frage: Wie reagiert man auf diese neuen Herausforderungen?
Zudem war der Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg im Wesentlichen abgeschlossen. Man brauchte eine neue Wirtschaftspolitik, die der beginnenden Globalisierung gewachsen war. Die Entwicklung der Computer – damals nannte man das noch Kybernetik – ging schnell voran.
Damals schien die Atomkraft auch noch als Verheißung einer unendlichen Energieressource. Es gab Phantasien, dass man mit dieser Technologie die Sahara begrünen könnte.
Die Menschen hatten also Lust auf Zukunft?
So kann man es zusammenfassen. Außerdem trat auch eine neue Generation von politisch Aktiven auf die Bühne der Bundesrepublik. Zum Beispiel die APO (außerparlamentarische Opposition), eine Bewegung von Studierenden, die sich als Gegenbewegung zur ersten Großen Koalition etablierte.
Das mag zwar nur eine kleine Avantgarde gewesen sein. Aber sie stand stellvertretend für viele, die nicht ganz so radikal, aber doch tendenziell in der Richtung dachten, dass es etwas Neues brauchte. Die neue Forderung war damals: Die Nachkriegsrealitäten sollten endlich anerkannt werden. Die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs – also den Verlust der Ostgebiete – wollten viele Menschen nicht mehr rückgängig machen, sondern konstruktiv damit umgehen.
Und Willy Brandt war der richtige Kandidat für einen Wechsel.
Willy Brandt war so etwas wie der deutsche John F. Kennedy – zumindest hat die SPD versucht, ihn im Wahlkampf 1961 so darzustellen. Überhaupt hat sich der Wahlkampf in dieser Zeit massiv gewandelt. Die SPD hatte mit Klaus Schütz 1960 einen Beobachter in den Präsidentschaftswahlkampf der USA geschickt, der mit vielen Anregungen wiederkam. Zum Beispiel hat Brandt teilweise vier Wahlkampfauftritte am Tag in 20.000-Einwohner-Städten absolviert. In Orten, die seit den 1930er Jahren keinen Wahlkämpfer mehr gesehen hatten. Da ist er dann durchgestylt in einem offenen Mercedes-Cabrio hingefahren und hat mit den Leuten gesprochen.
Brandt war auch gut dafür geeignet. Jung, gutaussehend, mit einer noch besser aussehenden Frau. Es gibt ein Foto von einem Presseball, auf dem die beiden in Smoking und Abendkleid zu sehen sind. Das machte Furore, weil die Frage im Raum stand, ob ein sozialdemokratischer Genosse so etwas darf. Adenauer hat Brandt auch als Gegner sehr ernst genommen. Deswegen gab es ja auch die sehr harten persönlichen Angriffe.
Was für Angriffe meinen Sie?
Was heute im Wahlkampf für Tricks benutzt werden, ist im Vergleich Kindergartenniveau. Adenauer hat Brandt zum Beispiel immer wieder seine Vergangenheit als Antifaschist vorgehalten: „Herr Brandt alias Frahm“, war die Chiffre, mit der Adenauer Brandt zu diskreditieren versuchte. Es stand für: „Dieser Mann ist der uneheliche Sohn einer Proletarierin, der Frau Frahm, und wechselt seinen Namen, bevor er 1933 aus Deutschland flieht.“ 1972 schürte die CDU mit dem Slogan „Moskau wählt Brandt … und Sie?“ Angst vor dem Kandidaten der SPD.
Oder man hat ihm unterstellt, der eigentliche Grund für sein Exil sei die Beteiligung an einem Mord an einem Mitglied der Sturmabteilung (SA), der paramilitärischen Truppe der Nazis, gewesen. Obwohl das Gerücht aus dem Leserbrief eines psychisch kranken Mannes stammte, wurde das noch Jahre danach verbreitet.
Ihm wurde aber auch unterstellt, mit der Waffe gegen deutsche Soldaten gekämpft zu haben. Was nicht zutraf.
Es mag für uns heute unverständlich sein, aber Willy Brandt ist zum Vorwurf gemacht worden, was wir ihm heute zur Ehre anrechnen: sein antifaschistischer Kampf.
Brandt hat anfangs noch versucht, dagegen zu klagen. Es sind Dutzende von Verfahren gewesen, die er geführt hat. Später hat er aber keine Lust mehr dazu gehabt. Er hat sich auch immer wieder die Frage gestellt – und das sieht man ja auch heute im Umgang mit Fake News immer wieder – wie sehr geht man darauf ein? Verbreitet man solche Gerüchte nicht selbst, wenn man ein offizielles Pressestatement abgibt?
Und haben diese Angriffe Wirkung gezeigt?
In der bundesdeutschen Gesellschaft der 60er Jahre haben nicht wenige im Zweifelsfall Menschen wie Brandt als Landesverräter angesehen. Bei anderen weckte er ein schlechtes Gewissen. Nach dem Motto: „Der war draußen, wir waren drinnen, der hat etwas gemacht, was wir uns nicht getraut haben.“ Deswegen hat man Brandts Kampf im Exil auch nie zum Wahlkampfthema gemacht. Denn das hätte geheißen, einer großen Mehrheit der Bevölkerung vorzuführen: „Ihr hättet euch anders verhalten können.“
Das erinnert mich an die Diskussionen, die heute über SUV, Fleischkonsum und Urlaubsflüge geführt werden. Eine Abwehrhaltung aus schlechtem Gewissen.
Bei dem Vergleich würde ich nicht mitgehen. Bei Brandts antifaschistischer Vergangenheit ging es eher um sein individuelles Verhalten und am Ende um individuelle Scham.
Es geht bei den Angriffen auf die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock eher um eine Ablehnung der individuellen Konsequenzen von Forderungen, die man auf einer allgemeinen programmatischen Ebene akzeptiert. In der Art: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“
Viele werfen dem jetzigen Wahlkampf vor, dass er unpolitisch sei, dass es nicht den Streit um Inhalte gäbe, der angesichts der großen Aufgaben nötig sei. War das bei Brandt anders?
Nein, jedenfalls anfänglich nicht. 1961 zum Beispiel hat die SPD einen vollkommen unpolitischen Wahlkampf geführt. Die SPD wollte raus aus der sozialistischen Ecke, deswegen machte sie den Gemeinschaftssinn zum Thema. Damit hat die SPD versucht, den Ruf des Sozialismus loszuwerden, der ihr anhaftete. Ein Wahlkampfslogan war: „Wir sind eine Familie.“ Oder der Spruch: „Wir wollen nicht alles anders, aber vieles besser machen“, den die SPD – nach eigenen Angaben unwissentlich – 1998 im Wahlkampf ihres Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder wiederverwendet hat.
Als Brandt 1969 dann zum dritten Mal Kanzlerkandidat wurde, konnte die SPD selbstbewusster auftreten, weil sie nicht mehr mit einer grundsätzlichen Ablehnung gegenüber allem zu kämpfen hatte, was links von der Union war.
Gibt es denn noch andere Parallelen zu heutigen Wahlkämpfen? Im Mai ergaben Umfragen, dass sich über 60 Prozent der Deutschen einen Regierungswechsel wünschen.
Die Wechselstimmung in der Bevölkerung und den Drang, sich einer veränderten Realität anzupassen, sehe ich schon. Aber es gibt einen großen Unterschied: Mit Ausnahme der AfD sind alle Parteien im Bundestag in vielen Dingen im Grundsatz ähnlich eingestellt.
Gerade im Hinblick auf die Ökologie sehen alle – wie gesagt mit Ausnahme der AfD – eine Notwendigkeit des grundsätzlichen Wandels. Obwohl es natürlich im Einzelnen erhebliche Differenzen gibt, wie schnell das vorangehen kann, was das konkret bedeutet und was man den Wählerinnen und Wählern und damit auch sich selbst zumuten kann.
Betrachtet man den Wahlkampf 1969, gab es da noch grundsätzliche Unterschiede zwischen CDU/CSU einerseits und SPD und FDP andererseits. Etwa beim Umgang mit Rechtsextremen, als die Union bei der Bundespräsidentenwahl gemeinsam mit der NPD für den 1910 geborenen CDU-Politiker Gerhard Schröder stimmte, aber letztlich scheiterte.
Das ist ja etwas, das die AfD zum Beispiel stark kritisiert und wofür sie sich dann als Alternative präsentiert. Fördert so ein Konsens nicht extreme Parteien?
Es gibt den Begriff des Verfassungsbogens, der sich aus der Zeit der Verfassungsgebung in Italien 1948 ableitet. Mit diesem Bogen waren alle Parteien gemeint, die der Verfassung zugestimmt hatten – das waren bis auf die Neofaschisten alle, von Kommunisten bis Christdemokraten. Ähnliches gibt es in Frankreich, wo sich die republikanische Allianz von Kommunisten bis rechtsliberalen Konservativen gegen den Front National und Le Pen gestellt hat.
In Deutschland schließt der Verfassungsbogen in wesentlichen Dingen auch die Linke ein. Auch wenn das im Bundestag nicht immer unterschrieben wird. Die Abgrenzung zwischen CDU, CSU und der Linken ist viel geringer als die von allen Parteien im Bundestag zur AfD. So etwas ist in Westeuropa aber nicht der Normalfall. In Spanien zum Beispiel ist es kein Problem, dass die Konservativen mit den Rechtsradikalen koalieren.
Also ist so ein Grundkonsens doch etwas Gutes?
Dieser Grundkonsens macht es schwer, klare politische Alternativen zu präsentieren. Ich würde das nicht schlecht nennen. Es heißt nämlich auch, dass man – anders als in den USA – nicht mehr darüber diskutieren muss, ob der Klimawandel stattfindet. Nur leidet darunter die mediale, emotionale Attraktivität von Politik.
Die Debatten im Bundestag der 70er Jahre waren sicher rhetorisch gesehen beeindruckend und unterhaltsam. Aber ob die so viel inhaltlicher geführt wurden, wage ich zu bezweifeln. Insbesondere von Rechts gegen Links kamen Unterstellungen und Beschimpfungen. Die Union unterstellte zum Beispiel der SPD und Teilen der FDP, dass sie der linken Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) nahestehen würden.
Ein anderes Beispiel: Als Waltraud Schoppe von den Grünen 1984 eine Rede über Sexismus und Vergewaltigung in der Ehe gehalten hat, war sie mit heutzutage absolut unerträglichen und unvorstellbaren machohaften, sexistischen Zwischenrufen aus den Reihen von CDU, CSU und FDP konfrontiert.
Ja, da waren Gräben, die Debatten der Form nach unterhaltsamer machen. Aber wollen wir das?
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger