Seit einem Jahr beherrscht das Coronavirus unseren Alltag. Und es beherrscht die Berichterstattung. Viele Themen sind dadurch in den Hintergrund getreten, die Welt ist kleiner geworden, der Blickwinkel enger. Was passiert unterhalb des eigenen Radars? In vier Folgen widmen wir uns vernachlässigten Konflikten rund um die Welt, die unserer Meinung nach zu wenig Aufmerksamkeit bekommen haben, auch bei uns. Im zweiten Teil der Serie geht es um den Krieg um Bergkarabach, zwischen Armenien und Aserbaidschan.
Bergkarabach – da klingelt etwas bei mir. Was war das gleich?
Im vergangenen Herbst, vom 27. September bis zum 9. November, kämpften Armenien und Aserbaidschan im Südkaukasus um die nicht anerkannte „Republik Arzach“.
Wieso „Arzach“? Ich dachte, hier gehts um Bergkarabach.
Stimmt – und das ist schon einer von vielen Stolpersteinen, wenn wir versuchen, diesen Konflikt zu verstehen.
„Arzach“ ist der armenische Name für die Region. Schon in vorchristlichen Zeiten lag dort die Provinz Arzach, die zum damaligen armenischen Königreich gehörte. Und auch im Mittelalter gab es dort ein von Armenier:innen bewohntes Königreich Arzach.
Der Name Bergkarabach leitet sich vom aserbaidschanischen Qarabağ ab. Übersetzt heißt das so viel wie „schwarzer Garten“. Wenn ihr mehr zu dem Konflikt recherchiert, werdet ihr auch auf den Namen Nagorny-Karabach stoßen. Der geht wiederum auf die sowjetische Geschichte des Gebiets zurück und bedeutet übersetzt „gebirgiges Karabach“.
Du merkst: Es ist kompliziert. Und: Selbst die Ortsbezeichnungen sind in diesem Konflikt ein Politikum.
Welche Begriffe sollen wir jetzt verwenden?
Wenn es um den 1991 gegründeten De-facto-Staat geht, würde ich von der „Republik Arzach“ sprechen. Denn das ist der aktuelle Name, für den sich die armenische Bevölkerung in einem Referendum 2017 mit großer Mehrheit entschieden hat. Allerdings erkennt das die internationale Gemeinschaft nicht an. Das Gebiet ist völkerrechtlich anerkannter Teil von Aserbaidschan. Wenn wir allerdings über die Autonome Region von vor 1991 sprechen, bleibe ich bei der Bezeichnung Bergkarabach.
Okay, dann zurück zum Konflikt. Worum gehts bei diesem Streit?
Schau mal auf diese Karte.
Es geht um die Frage, zu wem Bergkarabach gehört. Und dieser Streit geht zurück bis ins frühe 20. Jahrhundert.
Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden 1918 in der Region die Republiken Armenien und Aserbaidschan. Beide erhoben Anspruch auf die Region Bergkarabach. Es ist ein Gebiet, auf dem sowohl Armenier:innen als auch Aserbaidschaner:innen wohnen. Armenier:innen sind in der Mehrheit.
Wieso erhoben beide Anspruch?
Dafür müssen wir noch weiter zurück in der Geschichte. Für Armenier:innen hat die Region Bergkarabach historisch und kulturell große Bedeutung. Denn genau dort sehen sie die Ursprünge ihres Volkes. So wurde in Bergkarabach zum Beispiel die armenische Schrift entwickelt. Außerdem befinden sich dort jahrhundertealte armenische Klöster, wie das Kloster Dadiwank, und Ruinen armenischer Städte aus vorchristlicher Zeit, wie beispielsweise Tigranakert.
Und wie argumentiert Aserbaidschan?
Mit einer Entscheidung aus der Zarenzeit. Damals hatten die Russ:innen den Südkaukasus besetzt. Im 19. Jahrhundert teilten sie das heutige Armenien dem Gouvernement Eriwan zu. Das Gebiet Bergkarabach ging dagegen an die Gouvernements Jelisawetpol und Schemacha und lag damit auf dem Gebiet der späteren Sowjetrepublik Aserbaidschan. Bergkarabach war damals vor allem von Armenier:innen bewohnt, die Aserbaischaner:innen bildeten eine große Minderheit.
Wie wurde Bergkarabach letzten Endes Teil von Aserbaidschan?
Armenien und Aserbaidschan waren beide nur zwei Jahre lang unabhängig. Ab 1920 gehörten sie als sowjetische Republiken zur Sowjetunion (die in der langen Form Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, UdSSR, hieß). Die Entscheidung, wie es mit Bergkarabach weitergehen sollte, lag damit in den Händen einer Kommission aus Moskau.
Und diese ließ Bergkarabach an die Sowjetrepublik Aserbaidschan angliedern?
Genau. Allerdings nicht direkt. Am 4. Juli 1921 hieß es: Die Region Bergkarabach wird an die armenische Sowjetrepublik angegliedert. Das ließ die aserbaidschanische Seite nicht auf sich sitzen: Sie forderte, dass die Entscheidung auf höchster Parteiebene in Moskau überdacht wird.
Nach einem Tag wurde dann der Beschluss vom 4. Juli für unverbindlich erklärt und die Region Bergkarabach ging an die Aserbaidschanische Sowjetrepublik. Das alles passierte gegen den Willen der überwiegend armenischen Bevölkerung in der Region. Damit wurde der Konflikt weiter zementiert.
Was passierte dann?
60 Jahre lang war es relativ ruhig. Aber in den 1980er Jahren, als die Sowjetunion auseinanderdriftete, gingen die Armenier:innen in Armenien und Bergkarabach auf die Straßen und forderten: Bergkarabach soll zu Armenien gehören.
Aber wieso wollte Bergkarabach denn unbedingt raus aus Aserbaidschan?
Es ging nicht nur um kulturelle Zugehörigkeit zur armenischen Sowjetrepublik oder den historischen Anspruch. In Aserbaidschan wurden Armenier:innen seit Jahrzehnten diskriminiert und unterdrückt. Durch die Unabhängigkeitsbewegung eskalierte die Situation. In aserbaidschanischen Städten kam es zu Pogromen gegen die armenische Bevölkerung. Aserbaidschaner:innen plünderten armenische Geschäfte und Wohnhäuser, vergewaltigten, verstümmelten und töteten Armenier:innen.
Was passierte dann?
In den frühen Neunzigerjahren begann der Zerfall der UdSSR. Armenien, Aserbaidschan und das Autonome Gebiet Bergkarabach erklärten sich 1991 für unabhängig. Diese Entscheidung heizte den Konflikt weiter an. 1992 brach der Krieg aus.
Was muss ich über diesen Krieg wissen?
Der erste Bergkarabach-Krieg von 1992 bis 1994 gilt als einer der blutigsten Kriege dieser Zeit. Eindeutige Opferzahlen gibt es nicht. Laut US-amerikanischen Schätzungen wurden rund 25.000 Menschen getötet. Beide Seiten verletzten das Kriegsrecht.
Wie ging der Krieg aus?
Die armenische Seite konnte das autonome Gebiet Bergkarabach halten und besetzte sieben angrenzende Regionen, ungefähr ein Siebtel des aserbaidschanischen Territoriums, als Pufferzone. Sie vertrieben Hunderttausende Aserbaidschaner. Im ersten Bergkarabachkrieg wurden insgesamt 700.000 Aserbaidschaner:innen und 235.000 Armenier:innen vertrieben.
Für die Region wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der aber regelmäßig gebrochen wurde. 2016 drohte die Situation schon einmal zu eskalieren, als es zu den damals schwersten Kämpfen an der Front kam. Auch die Verhandlungen, um den Konflikt zu lösen, kamen so gut wie nicht voran. Schließlich kam es 2020 zum zweiten Bergkarabach-Krieg. Der hat die Karten in dem Konflikt neu gemischt.
Was genau ist in den sechs Wochen Krieg passiert?
Von Ende September bis Anfang November wurden in dem Krieg mehr als 5.000 Menschen getötet. Darunter knapp 200 Zivilist:innen. Beide Parteien haben geächtete Waffen eingesetzt. Es gibt außerdem Berichte über Hinrichtungen und Folter. Der Krieg endete mit einer Niederlage der Armenier:innen und einem Sieg Aserbaidschans. Die selbst ernannte „Republik Arzach“ hat große Teile ihres Gebiets verloren.
Wer war denn alles in diesem Krieg beteiligt?
Die Türkei war in diesem Krieg der wichtigste Verbündete für Aserbaidschan. Sie lieferte nicht nur Waffen wie Kampfdrohnen, sondern rekrutierte auch syrische Söldner, die gegen die armenischen Streitkräfte an der Front eingesetzt wurden. Aserbaidschan bekam außerdem Waffenlieferungen aus Israel. Dazu gehören ebenfalls Drohnen, aber auch geächtete Waffen wie Streubomben.
Hatten Armenien und die „Republik Arzach“ denn ähnlich machtvolle Verbündete?
Eigentlich gilt Russland als Schutzmacht Armeniens. Allerdings blieb die russische Regierung sehr zurückhaltend, sodass es keine direkte Unterstützung aus Moskau gab. Außerdem: Russland beliefert sowohl Armenien als auch Aserbaidschan mit Waffen.
Du hast gerade von geächteten Waffen gesprochen. Was bedeutet das?
Streubomben sind extrem gefährlich für die Zivilbevölkerung. Denn ihre Munition – darunter auch Blindgänger – verteilt sich über weite Flächen. Das ist dann so, als wäre die Fläche vermint. Aus diesem Grund gibt es eine Konvention, die die Nutzung solcher Waffen verbietet. Trotzdem wurden sie im Bergkarabach-Krieg eingesetzt. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch vier Mal durch die armenischen Streitkräfte und sechs Mal durch die aserbaidschanische Armee.
Kam es auch in diesem Krieg zu Menschenrechtsverletzungen?
Während des Krieges und auch nach Ende der Kämpfe kursierten Videos im Netz, die grausame Foltermethoden, Hinrichtungen und Leichenschändungen dokumentieren sollten. Einige dieser Aufnahmen wurden schon von Plattformen wie Bellingcat und der Menschenrechtsorganisation Amnesty International verifiziert.
Das Fazit: Sowohl armenische als auch aserbaidschanische Truppen haben solche Kriegsverbrechen verübt. Allerdings gibt es deutlich mehr Fälle, in denen armenische Personen durch Aserbaidschaner:innen auf diese Weise verletzt oder getötet wurden.
Welche Rollen haben die Drohnen in diesem Krieg gespielt?
Die Kampfdrohnen verhalfen Aserbaidschan letzten Endes zum Sieg, denn mit ihnen gelang es, den geografischen Vorteil der armenischen Seite auszuhebeln. In Kombination mit anderen Waffensystemen konnten die Drohnen das Luftabwehrsystem der armenischen Truppen zerstören, sodass die aserbaidschanischen Truppen die Berge der „Republik Arzach“ einnehmen konnten.
Von dieser Position aus hätten sie auch die verbliebenen Gebiete der Republik Arzach einnehmen können – wäre der Krieg an dieser Stelle nicht beendet worden.
Wie wurden die Kämpfe gestoppt?
Anfang November war die Situation für die armenische Seite extrem aussichtslos. Aserbaidschan hingegen war mit dem eingenommenen Territorium vorerst zufrieden. So wurde am Abend des 9. November 2020 unter Vermittlung Russlands ein Abkommen unterzeichnet.
Was genau steht da drin?
In erster Linie wurde eine Waffenruhe vereinbart, die in den nächsten fünf Jahren von knapp 2.000 russischen Soldaten gesichert wird. Die „Republik Arzach“ gibt zudem die als Pufferzonen besetzten Regionen an Aserbaidschan ab. Außerdem wollen die beiden Seiten Kriegsgefangene, Geiseln und Verletzte austauschen.
Und gibt es jetzt dauerhaften Frieden?
Die Niederlage hat Armenien in eine tiefe politische Krise gestürzt. Nach Massenprotesten in der Hauptstadt wird es im Juni Neuwahlen geben. Aserbaidschan hingegen feiert seinen Sieg. Im Dezember gab es eine pompöse Militärparade in Baku, an der auch der türkische Präsident Erdoğan teilnahm. Er drohte damit, dass der Kampf noch nicht zu Ende sei. Im April 2021 wurde in Aserbaidschan eine groteske „Kriegsausstellung“ eröffnet. Zu sehen sind unter anderem Helme getöteter armenischer Soldaten und Wachsfiguren mit angsterfüllten Gesichtern in erniedrigenden Settings, die ebenfalls armenische Soldaten darstellen sollen.
Ist das alles, was ich zu dem Konflikt wissen sollte?
Das überlasse ich dir. Aber wenn du mehr wissen möchtest, könntest du zum Beispiel noch tiefer in die geschichtlichen Hintergründe eintauchen und erfahren, welches Interesse die Sowjetunion daran hatte, den Konflikt aufrecht zu erhalten. Außerdem steht noch der Vorwurf im Raum, dass Wälder der „Republik Arzach“ mit Phosphorbomben in Brand gesetzt wurden. Auch die Rolle Deutschlands ist nicht uninteressant – vor allem jetzt, wo die Einflussnahme des aserbaidschanischen Regimes auf Bundestagsmitglieder bekannt wurde. Es wäre außerdem wichtig, über die Bedrohung historischer armenischer Kulturstätten in aserbaidschanischem Territorium zu sprechen.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussproduktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger und Christian Melchert.