Markus Söder prostet uns mit einer Maß Bier zu.

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Endlich wieder Wahlkampf – so verstehst du das Theater

Im Wahlkampf verbieten Politiker:innen Schnitzel, hauen steile Thesen raus – und sich selbst manchmal aus dem Rennen. Dabei ist nicht mal sicher, ob er überhaupt was bringt.

Profilbild von Isolde Ruhdorfer
Reporterin für Außenpolitik

Da muss er weinen. Nach Monaten des Wahlkampfs, nach verpatzten Interviews, schlechten Umfragewerten und Streit mit Parteigenossen kommen Peer Steinbrück die Tränen. Es ist Juni 2013, Steinbrück ist SPD-Kanzlerkandidat und sitzt auf der Bühne eines Parteikonvents. Die Moderatorin hat ihn gerade gefragt, warum er sich das eigentlich antut. Steinbrück schweigt, schluckt, überschlägt die Beine. Seine Finger zittern. Seine Lippen auch.

Es ist unangenehm, diesen großen, kühlen Mann weinen zu sehen. Es zeigt, was Wahlkampf mit Politiker:innen macht. Und dass auch in diesen durchgetakteten Monaten unvorhergesehene Dinge passieren können.

Wahlkämpfer:innen beginnen mindestens ein Jahr vor der Wahl, eine Kampagne zu planen. Das Wichtigste dabei: der Kandidat oder die Kandidatin selbst. Kampagnen werden immer um die Person herum gebaut. Ohne Vision kann kein Slogan getextet, kein Wahlplakat entworfen werden. Erst dann planen Wahlkämpfer:innen Veranstaltungen, Strategien und Design.

In der heißen Wahlkampfphase, also wenige Wochen vor der Wahl, gehen die Kandidierenden auf mehrere Kundgebungen täglich, halten Reden, geben Interviews, treten im Fernsehen auf und manchmal müssen sie dazwischen auch noch regieren. Das ist nicht nur anstrengend, sondern auch teuer: CDU und SPD gaben für die Bundestagswahl 2017 zusammen mehr als 40 Millionen Euro aus. Wahlkampf ist den Parteien sehr wichtig – dabei ist gar nicht sicher, ob er wirklich etwas bringt.

Durch Wahlkampf gewinnen die Parteien durchschnittlich zwei Prozentpunkte hinzu

Es ist schwierig zu messen, welche genauen Auswirkungen der Wahlkampf auf die Wähler:innen hat. Das Mainzer Zentrum für empirische Demokratieforschung hat deshalb die Bundestagswahlen zwischen 1998 und 2013 untersucht. Die Frage war, wie im Mai eines Wahljahres die Umfragewerte aussahen und wie im Vergleich dazu die Bundestagswahlen im Herbst ausgingen. Durchschnittlich veränderten sich die Parteianteile um etwa zwei Prozent.

Warum tun sich Parteien und Kandidierende den Wahlkampf dann an?

Ich habe den Politikberater Martin Fuchs angerufen und ihn gefragt, ob dahinter ein geheimer Masterplan steht. Er sagt: Nein. „Das ist auch Folklore und Tradition.“ Viele Politiker:innen hätten es einfach in ihrer DNA, alle vier Jahre Plakate zu kleben, ohne das zu hinterfragen. Zum Wahlkampf gehöre auch, die eigene Partei zu mobilisieren und für sich einzunehmen. „Es gibt eine hohe Erwartungshaltung von der Parteibasis, dass sich die Spitzenkandidat:innen den Arsch aufreißen“, sagt Fuchs.

Hinter dem Stand in der Fußgängerzone, dem Besuch im Seniorenheim und Toastern, die das SPD-Logo auf das Brot kokeln, steckt keine besondere Strategie. Es ist eine Tradition, die sich nicht immer auszahlt.

Manchmal entscheidet eine Handvoll Stimmen

In seltenen Fällen kommt es aber vor, dass wenige Stimmen den Ausschlag geben. 2019 zum Beispiel zog die FDP mit 5,0066 Prozent der Stimmen in den Thüringer Landtag ein. 73 Kreuze hatten darüber entschieden, ob die fünf FDP-Politiker:innen für die nächsten vier Jahre einen Job als Abgeordnete hatten oder nicht. Solche Fälle motivieren natürlich, ein paar Stunden länger auf dem Marktplatz herumzustehen und schlecht gelaunte Passant:innen anzuquatschen. Vielleicht sind es ja die entscheidenden Stimmen?

Wahlkampf ist zwar meistens eine groß angelegte Kampagne, aber nur selten ziehen geheimnisvolle Spindoktoren im Hintergrund die Fäden. Spindoktor ist ein negativ behafteter Begriff für politische Berater, die Ereignisse mit einem bestimmten Dreh, also Spin versehen. Ein klassisches Beispiel sind PR-Leute, die ein TV-Duell vor Journalist:innen unterschiedlich bewerten und der Berichterstattung so ihren eigenen Spin geben. Zwar gibt es Personen, die im Hintergrund Einfluss nehmen – das passiert aber nicht nur im Wahlkampf, sondern vor allem in den vier Jahren zwischen den Wahlen, etwa bei Verbandstreffen und Lobbyistenmeetings.

Diese unsauberen Strategien wenden Parteien an

Nehmen wir mal die Union: Unter Angela Merkel betreibt sie seit Jahren einen Politikstil, der sich „asymmetrische Demobilisierung“ nennt – klingt nach Matheunterricht in der Oberstufe, ist aber einfacher. Die Zeit hat das einmal mit der „systematischen Verlangweilung von Debatten“ beschrieben: Die Union „klaut“ der SPD deren Themen und vermeidet es gleichzeitig, zu kontroversen Debatten Stellung zu nehmen. Unter Politolog:innen ist das inzwischen unumstritten.

Damit nimmt sie SPD-Anhänger:innen die Anreize: Warum wählen gehen, wenn Merkel eh das Gleiche macht? Gleichzeitig ist Merkel so wenig kontrovers, dass niemand zur Wahl geht, um sie abzuwählen. Der Erfinder der asymmetrischen Demobilisierung, der Wahlforscher Matthias Jung, sagte in einem Interview: „Wahlkämpfer müssen nicht nur darauf achten, dass sie ihre eigenen Leute für die Wahl motivieren. Sie müssen gleichzeitig darauf achten, dass die Gegenseite nicht zu sehr aufgestachelt wird. Das ist die Kunst.“

Skandale sind kein Zufall

Inzwischen ist diese Strategie hoch umstritten. Die SPD ist sauer, weil sie sich an der aalglatten, immer näher zur SPD rückenden Bundeskanzlerin die Zähne ausbeißt und auch innerhalb der Union fragen sich einige, ob sie noch Teil einer konservativen Partei sind. Und viele sehen in der an Schärfe verlierenden Union einen Grund für den Aufstieg der AfD. Enttäuschte Konservative hätten sich der einzigen, rechts der Mitte verbliebenen Partei zugewandt, so der Vorwurf.

Ein weiteres Beispiel für eine Partei, die eine unsaubere Strategie anwendet: Die AfD. Sie pflegt einen Stil der Skandalisierung. Gerade in den Anfangsjahren, als die Partei in immer mehr Landtage und schließlich sogar den Bundestag einzog, freuten sich alle, wenn sie mal wieder „die Maske fallen gelassen“ oder sich „entzaubert“ hatte. Das ist Quatsch. Die Skandale und scheinbaren Fehltritte der AfD sind wohlkalkuliert. Auch wenn sich ein Teil der Bevölkerung empört, fühlen sich AfD-Sympathisierende angesprochen und solidarisieren sich noch stärker mit ihrer Partei. Wer sich aufregt, spielt der AfD in die Hände.

Demoskopie ist eine nervige Pseudo-Wissenschaft

Viel häufiger entsteht der Eindruck, dass Politiker:innen von der Bevölkerung beeinflusst werden als umgekehrt. „Politik ist zu 99 Prozent reaktiv und nicht strategisch“, sagt der Politikberater Martin Fuchs. Das zeigt sich auch in den regelmäßig veröffentlichten Umfrageergebnissen. Gerade in der heißen Wahlkampfphase schauen alle auf die sogenannte Sonntagsfrage, als wäre sie das Orakel von Delphi.

Kandidierende sind süchtig danach. Auf jedes Prozent nach oben oder unten reagieren sie mit Euphorie oder Verzweiflung. Berater:innen verschweigen den Kandidierenden schlechte Zahlen gerne, um erst bei einem Glas Wein damit auszupacken, wie es in Insiderberichten oft heißt. Und so manche strategische Entscheidung wird auf Basis von Umfrageergebnissen gefällt. Kurz vor der letzten Bundestagswahl dachte SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz darüber nach, ob er Merkel stärker angreifen solle. Seine Berater waren dagegen: Es gebe da eindeutige Umfrageergebnisse, dass aggressives Auftreten bei Frauen schlecht ankomme.

Viele Journalist:innen und Berater:innen sind sich einig, dass Demoskopie überbewertet wird. Wir Wähler:innen sind ja nicht blöd. Die eine Rede im Bierzelt bringt einer Kandidatin keine fünf Prozentpunkte ein, wenn sie jahrelang schlechte Politik gemacht hat. Aber verzichten will trotzdem niemand auf die neueste Umfrage.

Ein Kanzlerkandidat findet, dass er zu wenig verdient

Die meisten deutschen Politiker:innen sind wahnsinnig langweilig. Sie lesen vorgefertigte Statements ab, machen keine Witze und regen sich nicht auf. Das ist frustrierend: Warum haut niemand mehr auf den Putz? Der CSU-Vorsitzende und bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß war anstrengend und in dubiose Geschäfte verwickelt, aber wenigstens war er unterhaltsam! Es ist aber auch verständlich: Ein einziger unglücklicher Satz in einem Interview kann einen Wahlkampf ruinieren, ein Skandal, der eigentlich keiner ist, eine politische Karriere zerstören.

SPD-Kandidat Peer Steinbrück gab zu Beginn seines Wahlkampfs 2013 ein Interview, in dem er sagte: „Ein Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin verdient in Deutschland zu wenig – gemessen an der Leistung, die sie oder er erbringen muss, und im Verhältnis zu anderen Tätigkeiten mit weit weniger Verantwortung und viel größerem Gehalt.“ Damit hatte er zwar recht: Viele Banker verdienen mehr als die Bundeskanzlerin, tragen aber weniger Verantwortung. Trotzdem wirkte es, als wäre er nur wegen des Geldes Politiker und würde sich wegen des mickrigen Gehalts auch noch beschweren. Der Satz flog Steinbrück um die Ohren und beschädigte ihn für Monate.

Wie man mit Schnitzel eine Wahl verliert

Besonders gut aufregen können wir uns über alltagsnahe Verfehlungen. Eurobonds, Nord Stream 2, selbst das Mautdebakel sind kompliziert, abstrakt und berühren uns im Alltag nicht. Zwar geht es um Milliarden, aber unter welchen Bedingungen die EU Corona-Hilfen in andere EU-Staaten transferiert, ist den meisten Menschen herzlich egal. Umso heftiger werden Themen diskutiert, zu denen sich auch mäßig politisch Interessierte eine Meinung bilden können.

Ein Paradebeispiel dafür ist die Kontroverse um den Veggie-Day, ein bestimmendes Thema der Bundestagswahl 2013. Die Grünen schlugen in ihrem Wahlprogramm vor, in öffentlichen Kantinen einen fleischlosen Tag einzuführen. Im Sommerloch machte die Bild-Zeitung eine Schlagzeile daraus: „Die Grünen wollen uns das Fleisch verbieten!“ Damit trat sie eine derartige Welle der Empörung los, dass sich die Grünen später von ihrem Vorschlag distanzierten. Sie selbst gaben dem Veggie-Day die Schuld an ihrem schlechten Abschneiden in der Wahl: von 10,7 Prozent im Jahr 2009 auf 8,4 Prozent im Jahr 2013.

Die Grünen distanzierten sich damals ausdrücklich von dem Image der „Verbots-Partei“ – und obwohl sie immer noch gerne mit Verboten spielen, haben sie aus ihrem Fehler gelernt. Im Februar, also zu Beginn des Superwahljahres 2021, tickerte eine Meldung durch die Medien: Die Grünen wollten Einfamilienhäuser verbieten, hieß es.

Ganz so hatte es Anton Hofreiter, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, in dem Spiegel-Interview nicht formuliert. Er hatte lediglich verteidigt, dass in einem dicht besiedelten Hamburger Bezirk keine Einfamilienhäuser mehr in neuen Bebauungsplänen vorgesehen sind. Das ist nicht so radikal wie ein Verbot, hat aber trotzdem Aufreger-Potential. Hohe Mieten und knapper Wohnraum betreffen uns alle: Jede:r muss wohnen und die meisten müssen dafür einen großen Teil ihres Einkommens aufbringen. Vermeintliche Lösungen bekommen deshalb viel Aufmerksamkeit und werden emotional diskutiert.

Dass die Debatte um Einfamilienhäuser nicht so eskalierte wie die um den Veggie-Day, hat drei Gründe. Erstens, Anton Hofreiter hat die Art des Interviews bewusst gewählt. Im Gegensatz zum Veggie-Day, der die Grünen unvorbereitet erwischte, hat sich Hofreiter Zeit genommen, um seine Ansichten zu erklären und die vermeintlich radikale Forderung zu entschärfen. Zweitens ist der Zeitpunkt besser als die Sommerloch-Debatte um den Veggie-Day. Aktuell dominiert die Corona-Politik unseren Alltag – für eine emotionale Debatte über Bebauungspläne in Hamburg ist da einfach kein Platz. Und drittens stellte Hofreiter einen Bezug zum Klimaschutz her. Einfamilienhäuser verbrauchten viel Fläche, viele Baustoffe, viel Energie und sorgten für Zersiedelung und damit für mehr Verkehr, sagte er. Klimaschutz ist heute viel wichtiger als vor acht Jahren. Maßnahmen, die helfen, das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen, werden viel offener diskutiert als damals.

Am Ende entscheiden immer noch wir

Die Diskussion um den Veggie-Day hatten die Grünen nicht mehr unter Kontrolle, die Debatte um Einfamilienhäuser dagegen stießen sie absichtlich an. Auch andere Parteien versuchen gelegentlich, alltagsnahe Themen zu platzieren. 2005 erfuhr die SPD, dass Merkel im Falle eines Wahlsieges die Mehrwertsteuer um zwei Prozent anheben wolle. Aus „Mehrwertsteuer“ machten die Wahlkämpfer:innen „Merkelsteuer“ und dichteten: „Merkelsteuer, das wird teuer.“ Sie entwarfen Produktaufkleber mit der Aufschrift „Ich koste zwei Prozent mehr mit der Merkelsteuer“, organisierten einen bundesweiten Aktionstag und rechneten aus, was ein Computer, ein Kühlschrank, ein Auto mit einer zwei Prozent höheren „Merkelsteuer“ kosten würden. Die Aktion lief großartig – gereicht hat es nicht. Merkel wurde trotzdem Kanzlerin.

Am Ende sind es nämlich wir Wähler:innen, die eine Entscheidung treffen. Es ist hilfreich, öffentliche Dynamiken zu verstehen. Und es macht Spaß, Politiker:innen beim Herumpoltern oder Herumlangweilen zuzuschauen. Aber kein Spindoktor kann uns das Bild eines Politikers oder einer Politikerin verkaufen, das es nicht gibt.

Am Ende entscheiden immer noch wir.


Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert.

Endlich wieder Wahlkampf – so verstehst du das Theater

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