Was hat denn der Attentäter von Hanau mit dem von Christchurch zu tun? Wirfst du hier nicht ziemlich viel in einen Topf?
Die einzelnen Attentate der vergangenen Jahre müssen als Teil eines größeren Zusammenhangs gesehen werden. Sie haben zahlreiche Gemeinsamkeiten. Das hat etwas mit Ideologie und Radikalisierung zu tun, aber auch mit AfD und Klimakrise, mit Xavier Naidoo und sogar mit McDonalds.
McDonalds? Meinst du das ernst?
Ich gebe zu, das klingt erst einmal ziemlich abwegig. Aber hast du schon mal vom Moon-Man-Meme gehört?
Vom was?
Memes sind Montagen von Bildern und kurzen Texten, meist witzig gemeint. Der Moon Man ist ein Geschöpf, das auf eine Werbefigur von McDonalds zurückgeht: Mac Tonight. Mitte der 1980er Jahre besang ein grinsender Halbmond mit Sonnenbrille im US-Fernsehen die Burger der Fast-Food-Kette. So zum Beispiel:
https://www.youtube.com/watch?v=0c4_b5PHWg8
Diese Figur eigneten sich Nutzer:innen von Online-Foren ab den Nullerjahren an. Sie begannen, Memes mit dem Mondgesicht zu gestalten – oft mit zynisch-rassistischen, frauenfeindlichen und antisemitischen Botschaften. Inzwischen ist der Moon Man fester Bestandteil rechtsextremer Internet-Subkulturen. Er ist das Symbol einer Weltsicht, ein Erkennungszeichen, das oft aber nur Eingeweihte verstehen. Hier ein Beispiel-Meme:
Wie du siehst, verherrlicht das Meme rechtsextreme Gewalt. Doch nur, wer um die Bedeutung des Moon Mans weiß, erkennt das.
Verstehe. Aber was genau hat das mit Terror zu tun?
Im Herbst 2019, kurz vor seinem versuchten Massenmord in einer Synagoge, postete der Attentäter von Halle mehrere Dateien in einem anonymen Online-Forum für Fans von Anime-Kultur. Neben Fotos seiner selbstgebauten Waffen und rassistischen und antisemitischen Fantasien enthielt die Sammlung auch ein Selfie. An seiner Mütze: ein Moon-Man-Anstecker.
Oh.
Die Figur bringt uns damit direkt zu einem Kernelement rechten Terrors: Die Attentäter treffen und vernetzen sich im Internet. Sie sind Teil einer vielgestaltigen Online-Community mit eigener Sprache und eigener Symbolik. Und diese Community eignet sich harmlose Symbole und Bilder wie den Moon Man an, um ihre Verschwörungserzählungen zu verbreiten.
Was wichtig ist: Es gibt nicht eine große ideologische Erzählung, es sind viele. Sie vermischen sich miteinander. Manche sind ganz offen rechtsextrem, andere klingen anfangs total absurd – und sie erreichen mittlerweile Menschen aus allen Teilen der Bevölkerung. Deswegen habe ich Xavier Naidoo erwähnt.
Was hat Xavier Naidoo damit zu tun?
Vielleicht hast du mitbekommen, dass er immer wieder Videos im Netz teilt, in denen er Verschwörungserzählungen verbreitet oder sich rassistisch äußert.
Ich glaube, ich habe davon mal gehört, sie aber nicht gesehen …
Musst du auch nicht. Im vergangenen Frühjahr kursierte ein Video im Internet, in dem er minutenlang um Worte ringt, bis er schließlich in die Kamera flüstert: „Wenn ich richtig verstehe, werden in diesen Momenten in verschiedenen Ländern der Erde Kinder aus den Händen pädophiler Netzwerke befreit.“
Naidoo behauptet, dass geheime Eliten weltweit Kinder einsperren und foltern, um aus ihrem Blut Adrenochrom zu gewinnen – ein Stoffwechselprodukt von Adrenalin, das Verschwörungsgläubige für ein Verjüngungsmittel halten.
Er behauptet, dass irgendwelche Eliten Kinder entführen und in geheimen Kellerlöchern deren Blut abzapfen, weil sie jung bleiben wollen?
Richtig! Um dann ewig die Welt zu beherrschen.
Meint er das ernst?
Ich befürchte: ja. Die Erzählung ist auch nicht neu. Es ist die abgewandelte Variante einer alten antisemitischen Verschwörungserzählung, der sogenannten Ritualmordlegende: Juden töten angeblich Kinder und trinken deren Blut. Die Legende geht zurück auf die Mitte des 12. Jahrhunderts. Dieser Mythos diente immer wieder zur Rechtfertigung zahlreicher Gewalttaten und Pogrome gegen jüdische Menschen. Was Xavier Naidoo von sich gibt, ist so etwas wie eine geupdatete und modifizierte Internetversion dieser Verschwörungserzählung.
Interessant, interessant. Aber wo ist der Zusammenhang mit unserem Thema?
Der Mythos ist Teil einer rechten Verschwörungserzählung, die QAnon heißt. Sie entstand im Jahr 2017, auf der Internetseite 4chan. Dort heißen alle anonymen Nutzer:innen „Anon“. Eine Person namens „Q“ gab sich dort als Mitglied der Trump-Regierung aus. Sie behauptete, es gäbe einen von Geheimorganisationen geführten, globalen Pädophilenring, der weltweit Kinder einsperre und foltere. Diese Geheimorganisation wird auch als Deep State bezeichnet.
So entstand der Mythos um QAnon. Inzwischen hat die Verschwörungserzählung zahlreiche Anhänger:innen: Mehr als 162.000 Abonnent:innen folgen allein dem größten deutschsprachige Telegram-Kanal. Auch auf Demos ist das „Q“ als Erkennungscode immer öfter zu sehen, zum Beispiel bei der Stürmung des US-Kapitols oder bei Demos der selbsternannten Querdenker.
Das sind aber keine Terroristen …
Das stimmt. Aber der Mythos ist – wie alle rechtsextremen Verschwörungserzählungen – keine harmlose Spinnerei. Er inspiriert zu realer Gewalt: Im März 2019 erschoss ein junger New Yorker, Anthony C., ein hochrangiges Mitglied einer Mafiafamilie. Er glaubte, sein Opfer gehöre einer Geheimdienstorganisation, dem sogenannten Deep State, an. Und auch der rassistische Attentäter von Hanau fantasierte über eine solche Geheimgesellschaft – ähnlich der QAnon-Erzählung.
Xavier Naidoo verbreitet also ähnliche Verschwörungserzählungen wie der Attentäter von Hanau?
Genau. Tausende sehen und verbreiten seine Videos im Internet, immer mehr Menschen glauben daran. Auch wenn Naidoo selbst nicht zu Gewalt aufruft, verbreitet er damit Inhalte, die zu Gewalt motivieren können.
Können, aber nicht müssen.
Nicht alle Menschen, die an Verschwörungserzählungen glauben, werden zu Gewalttätern, das stimmt. Nicht einmal die Mehrzahl. Aber je mehr Menschen einer solchen Erzählung glauben, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass aus anonymen Nutzern im Netz reale Attentäter werden.
Aber das sind dann doch – entschuldige – irre Spinner, wie der Hanau-Attentäter, der ja alleine handelte.
Nach bisherigen Erkenntnissen war er, genau wie die Attentäter von Christchurch, El Paso, oder Halle nicht Teil einer organisierten Gruppe. Er hat alleine gehandelt, das stimmt. Ein Gutachten diagnostizierte ihm zudem eine psychische Erkrankung. Aber es ist es falsch, die Ursache für seinen Anschlag allein in seiner Erkrankung zu suchen.
Warum?
Keine psychische Erkrankung erklärt die vorurteilsgeleitete Auswahl der Opfer. Niemand ist von Geburt an antisemitisch oder rassistisch. Bei politisch motivierter Gewalt bestimmt die Ideologie, wer überhaupt als mögliches Opfer ins Fadenkreuz gerät – und Ideologie wird gesellschaftlich vermittelt, ob online oder offline. Deshalb ist es oft auch irreführend, von „Einzeltätern“ zu sprechen.
Aber sie handeln doch alleine?
Sie führen die Tat alleine aus, das stimmt. Trotzdem ist es wichtig, sich vor Augen zu führen, dass auch die meisten allein handelnden Rechtsterroristen in unterstützende Netzwerke eingebunden sind.
Woran machst du das fest?
Erstens radikalisieren sie sich in einer Gruppe – nicht in WGs oder Ausbildungslagern wie die RAF, sondern eben im Internet. In ihren Online-Communitys tauschen sie sich aus, vernetzen sich und lesen die Schriften anderer rechtsextremer Attentäter. Sie entwickeln ihre eigene Sprache und Symbolik, wie die Moon-Man-Memes. Sie chatten, verfolgen die Attentate ihrer „Vorbilder“ per Livestream und stacheln sich gegenseitig zu weiterer Gewalt an. Sie radikalisieren sich also nicht isoliert, sondern in einem riesigen Netzwerk.
Zweitens verstehen sie sich selbst als Teil dieses Netzwerkes. Vor ihren Taten posten sie Links zu ihren Livestreams, um ihre Community mitzunehmen. Das machten zum Beispiel die Attentäter von Christchurch und Halle. Andere versuchten sich an Livestreams, scheiterten aber an der Technik. Während der Tat sprechen sie in die Kamera zu dieser Community, die die Attentäter in den Kommentarspalten der Links wiederum anfeuert. Der Attentäter von Halle kommentierte seinen Anschlag sogar extra auf Englisch, um mit seinem Netzwerk zu kommunizieren. Selbst die Musik, mit der die Täter ihre Streams untermalen, sendet Botschaften an ihr Netzwerk.
Mehr zum NSU:
- Der NSU lebt weiter
- Die Täter bleiben unter uns
- Der Verfassungsschutz und der NSU-Mord im Internetcafé
Die „einsamen Wölfe“ sind also gar nicht so einsam?
Nein. Sie leben und radikalisieren sich im digitalen Rudel. Wer also vorschnell von „einsamen Wölfen“ spricht, läuft Gefahr, rassistische und antisemitische Morde als wirren Gewaltakt einsamer Stubenhocker ohne Publikum, Netzwerk und Nährboden zu entpolitisieren. Als seien es Menschen, die urplötzlich zur Waffe greifen und wahllos Menschen umbringen. Das kann (bewusst oder unbewusst) die politische Dimension der Taten ausblenden: die vorurteilsgeleitete Auswahl der Opfer. Und die riesige, vernetzte Community, in der sich die Attentäter im Netz bewegen.
Hast du dafür auch konkrete Beispiele?
Patrick C., der 2019 in El Paso 22 Menschen erschoss, hatte in seinem zuvor veröffentlichten Pamphlet seine Bewunderung für den Christchurch-Attentäter Brenton T. zum Ausdruck gebracht. Beide veröffentlichten ihre Pamphlete im selben Forum und benutzten eine ähnliche Sprache. Und sie bedienten sich zur Rechtfertigung ihrer Taten unterschiedlicher Ausprägungen der Verschwörungserzählung vom „Bevölkerungsaustausch“, auf die ich gleich noch zurückkomme.
Auch der Halle-Attentäter bewegte sich in dieser Welt der Onlineforen und war ebenfalls Anhänger dieser Erzählung. Zudem gab er laut Rechercheverbund von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung an, vom Christchurch-Attentäter überhaupt erst zu seiner Tat „inspiriert“ worden zu sein. In seiner Bekennerschrift nannte dieser wiederum den norwegischen Rechtsterroristen Anders B. ein wesentliches Vorbild.
Anders B. hatte 2011 77 Menschen aus rechtsextremen Beweggründen ermordet und gilt heute als Begründer dieses neuen Tätertypus. David S., der am 22. Juli 2016 neun Menschen in München erschoss, suchte sich für seine Tat den Jahrestag des Attentats von Anders B. aus. Inzwischen ist außerdem bekannt, dass er über die Spielplattform Steam in Kontakt mit dem rechtsextremen William A. stand. Der erschoss am 7. Dezember 2017 an einer Schule in New Mexico zwei Jugendliche hispanoamerikanischer Herkunft. Beide gründeten auf Steam eine Gruppe mit dem Titel „Anti-Refugee-Club“.
Okay, okay, verstanden. Die Attentäter sind ziemlich gut vernetzt!
Du sagst es. Sie beziehen sich aufeinander und inspirieren sich gegenseitig. Sie radikalisieren sich auf eine ähnliche Art und Weise, bewegen sich in ähnlichen Online-Communitys und folgen gemeinsamen Mustern, wenn es um Ausführung und Inszenierung ihrer Tat geht. Vor allem aber teilen sie eine gemeinsame, wenn auch lose Ideologie.
Welche Ideologie?
Eine Ideologie, die nach dem sogenannten Pick-and-Mix-Prinzip funktioniert, also wie im Selbstbedienungsladen: Die Täter picken sich Einzelstücke verschiedener rechtsextremer Verschwörungserzählungen heraus, vermischen sie und basteln sich daraus ihre ganz eigene Welterklärung. Um beim Bild des Selbstbedienungsladens zu bleiben: Jeder Kunde greift zu unterschiedlichen Mengen verschiedener Angebote, aber alle kaufen im gleichen Laden ein. Und dieser Laden hat ein festes Angebot, aus dem überhaupt gewählt werden kann. Übertragen auf rechten Terror bedeutet das: Täter, Taten und Motive unterscheiden sich in Einzelheiten. Aber alle speisen sich aus einem gemeinsamen ideologischen Grundangebot.
Aus welchem?
Um beim Fundament zu beginnen: aus der Grundannahme einer „natürlichen Ungleichwertigkeit“ von Menschen.
Du meinst, sie behaupten, dass manche Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft angeblich grundsätzlich anders, beziehungsweise weniger wert sind?
Genau. Genauer gesagt: Sie glauben, weiße Menschen seien anderen von Natur aus überlegen. White Supremacy, also der Glaube einer weißen Überlegenheit, ist die Annahme, auf der alles aufbaut. Dafür ist das Wort „natürlich“ besonders wichtig.
Warum?
Weil es etwas als biologische Tatsache darstellt, was keine ist. Also als etwas, das „in der Natur“ des Menschen liege und dementsprechend nicht geändert werden könne.
Das ist ein Totschlagargument: Es ist unmöglich, sachlich dagegen zu argumentieren. Rechtsextreme selbst leiten das je nach Gesinnung verschieden her. Früher behaupteten sie, es gäbe menschliche „Rassen“. In neurechten Kreisen ist heutzutage ein Konzept namens Ethnopluralismus beliebt.
Das heißt?
Ethnopluralist:innen behaupten, es gäbe verschiedene Kulturen, die nicht kompatibel miteinander seien. Auch wenn sie nicht von „Rassen“ sprechen, ordnen sie Menschen also einer Gruppe zu und schreiben dieser Gruppe feste Eigenschaften zu.
Der Mechanismus der Abgrenzung funktioniert immer gleich: Man behauptet, Unterschiede zwischen Menschen(gruppen) seien „natürlich“ und unüberwindbar. Deshalb verachten Rechtsextreme auch sämtliche Ideen, die die Gleichheit aller Menschen befürworten.
Weil sie glauben, Gleichheit sei „gegen die Natur“?
Genau. Sie glauben, „widernatürliche“ Vermischung führe zum Untergang der „weißen Rasse“ oder der „westlichen Kultur“.
Es ist fast ein wenig eintönig: Seit über hundert Jahren reden rechte Theoretiker:innen über den angeblich nahen „Untergang des Abendlandes“. Dieses ängstlich-lüsterne Untergangsdenken, eine Extremform des sogenannten Kulturpessimismus, ist essentiell für alle rechtsextremen Erzählungen.
Warum?
Weil es eine Gefahr behauptet, gegen die Betroffene sich wehren müssen.
Wer einer angeblichen übermächtigen Bedrohung ausgesetzt ist, muss Widerstand leisten. Das heraufbeschworene Bedrohungsszenario dient also der Rechtfertigung von Gewalt: Rassistisches Morden wird so zur Notwehr. Täter inszenieren sich als Opfer, die Widerstand gegen den „Untergang“ leisten. Das ist die klassische Täter-Opfer-Umkehr.
Und die angebliche Bedrohung, gegen die Rechtsterroristen sich angeblich wehren, ist der Untergang der „Weißen“?
Genau. Dieses Bedrohungsszenario hat der US-Neonazi David E. L. einmal in 14 Wörtern zusammengefasst: „We must secure the existence of our people and a future for white children.“ Übersetzt: „Wir müssen die Existenz unseres Volkes und die Zukunft unserer weißen Kinder sichern.“ Darauf beziehen sich bis heute Rechtsextreme und Rechtsterroristen aus aller Welt, denn die „Fourteen Words“ beinhalten alles, was eine gute rechtsextreme Verschwörungserzählung braucht.
Was braucht denn eine gute rechte Verschwörungserzählung?
Sie muss erstens ein Angebot zur Identifikation machen: also das Angebot, dass Menschen sich als Teil der angeblich bedrohten Gruppe angesprochen fühlen („unser Volk“).
Sie braucht zweitens eine alarmierende Bedrohungslage (die „Existenz sichern zu müssen“ bedeutet, dass sie bedroht ist).
Drittens muss sie den damit einhergehenden Aufruf zur gewaltvollen Revolte gegen diese Bedrohung vermitteln.
… und das alles schaffen die „Fourteen Words“ in einem Satz.
Genau! Die Zahl 14 als Chiffre für diese Erzählung findest du bei Rechtsextremen weltweit. Sie zierte zum Beispiel den Lauf des Gewehres, mit dem Brenton T. am 15. März 2019 im neuseeländischen Christchurch 51 Menschen ermordet hat. Und in einer frühen Version des NSU-Bekennervideos sind 14 Kästchen zu sehen, in die die Terroristen schon einige Fotos ihrer ersten Opfer montiert hatten – ein Hinweis darauf, dass sie weitere Morde planten.
Auf den „Fourteen Words“ baut auch das entsprechende Narrativ des 21. Jahrhunderts auf, auf das sich eigentlich sämtliche Rechtsterroristen der 2010er Jahre berufen: die Verschwörungserzählung vom „Bevölkerungsaustausch“.
Davon habe ich schonmal gehört!
Nicht nur Rechtsterroristen, auch zahlreiche Politiker:innen der AfD berufen sich immer wieder auf diesen Mythos und befeuern ihn. Er eint Rechtskonservative, Rechtsextreme und Rechtsterroristen. Und findet auch immer mehr Anhänger:innen in der Mitte der Gesellschaft. Hier spricht der damalige AfD-Vorsitzende Alexander Gauland auf dem Parteitag 2018 davon:
https://youtu.be/Ur4WIZnYNFo?t=1005
Was genau besagt die Erzählung?
Kurzgefasst den Austausch der Europäer:innen durch angeblich minderwertige Muslime.
Länger gefasst: eine Weltverschwörung, bei der Liberalismus, Individualismus und Feminismus für sinkende Geburtenraten und schrumpfende Bevölkerungen im Westen sorgten. Zugleich würden „volksfeindliche“ Eliten massenhaft Migrant:innen ins Land holen – als billige Arbeitskräfte, Konsument:innen und zukünftige Wähler:innen der von ihnen so genannten Systemparteien. Die wiederum hätten auch höhere Geburtenraten. Und würden deshalb letztlich dafür sorgen, dass das vermeintliche „weiße Volk“ ausgetauscht werde.
Anhänger:innen der Theorie sehen in jeder nichtweißen Person auf der Straße und in jedem Hidschab einen vermeintlichen Beweis für den „großen Austausch“. Wie fast alle rechtsextremen Verschwörungserzählungen bietet sie also eine einfache Welterklärung mit klarem Freund-Feind-Schema, die im gleichen Atemzug zum Widerstand gegen innere und äußere Feinde aufruft.
Moment, du unterscheidest zwischen inneren und äußeren Feinden?
Das macht die Theorie: Die äußeren Feinde sind die Migrant:innen.
Und die inneren?
Das sind alle, die als Drahtzieher:innen des „Bevölkerungsaustausches“ gelten. Hier kommt Antisemitismus ins Spiel.
Antisemitismus? Wo?
Der wird mal mehr, mal weniger offen gezeigt – das macht es oft schwierig, ihn zu erkennen. Aber: Wenn du eine Weltverschwörung vermutest, bei der dir Unrecht widerfährt, was fragst du dich dann?
Wer dahinter steckt …
Genau. In der Erzählung vom „Bevölkerungsaustausch“ sind es die „inneren Feinde“, die angeblich dafür sorgen oder es zulassen, dass nichtweiße Menschen nach Europa kommen.
Als „Volksverräter:innen“ gelten „Multikultipropagandist:innen“, „kosmopolitische Eliten“, migrationsfreundliche Parteien und liberale Intellektuelle. Immer wieder ist in diesem Zusammenhang auch von abstrakten globalen Eliten und Strippenziehern die Rede. All das sind klassisch antisemitische Feindbilder.
Ist das nicht etwas vage, um von Antisemitismus zu sprechen?
Nein. Die Attentäter projizieren ihren Hass auf Menschen, die sie mit vermeintlich „jüdischen Eigenschaften“ ausstatten. So funktioniert Antisemitismus.
Nun ist es so, dass selbst rechtsextreme Politiker:innen heutzutage (meist) vorsichtig mit offen antisemitischen Äußerungen sind. Sie verklausulieren ihren Judenhass. Terroristen hingegen nicht. Für sie gehört das klare Benennen der vermeintlich Schuldigen dazu.
„Hallo, mein Name ist Anon, und ich glaube, der Holocaust hat nie stattgefunden. Feminismus ist schuld an der sinkenden Geburtenrate im Westen, die die Ursache für die Massenimmigration ist – und die Wurzel dieser Probleme ist der Jude“, sagte der Halle-Attentäter in seine Helmkamera, kurz bevor er ein Massaker in einer Synagoge anrichten wollte. In seinem Pamphlet schreibt er noch, es sei „besser“, einen einzigen Juden umzubringen als 100 muslimische Menschen. Weil die die angebliche Weltverschwörung lenken würden.
Aber warum Juden?
Es ist das alte Denkschema des Antisemitismus: Jüdinnen und Juden sind die Schuldigen für alles, was nicht erklärbar ist. Sie werden als Fremdkörper markiert, als wohlhabende, wurzellose und kosmopolitische Gruppe, die kein Interesse am Wohlergehen der Gesellschaft hätten. Als auf geheimnisvolle Art und Weise überlegener, intellektueller und heimtückischer innerer Feind, der das einfache ehrenhafte Volk auslöschen will.
Hier wird auch der (vereinfachte) Unterschied zwischen Antisemitismus und Rassismus deutlich: Rassistisch markierte Menschen gelten in der Erzählung als unterlegen, als animalische, triebgesteuerte, marionettenhafte Invasoren.
Der äußere Feind …
Genau. Der Attentäter von El Paso sah Menschen hispanoamerikanischer Herkunft als solche „Invasoren“. In Deutschland nehmen Rechtsextreme vor allem die ins Visier, die sie als Muslime wahrnehmen.
„Moslems in Deutschland! Eure Invasion in unser Land wird scheitern. Das deutsche Volk wacht auf und wir erkennen immer klarer, dass ihr Feinde seid, und uns hasst. Ihr seid das willfährige Werkzeug der Juden, um Deutschland und Europa zu zerstören. Deshalb ist jeder Einzelne von euch ein legitimes Ziel.“ Das stand auf einem Drohbrief, der im Juni 2019 am Gedenktag des NSU-Nagelbombenanschlags in Köln-Mülheim auftauchte. Unterschrieben war er mit „Atomwaffen Division Deutschland“. Das ist der Name einer ursprünglich US-amerikanischen, rechtsterroristischen Gruppe.
Der Christchurch-Attentäter, der 51 Menschen in zwei Moscheen umgebracht hat, rechtfertigte seine Opferauswahl mit den Worten, in einer „Invasion“ gäbe es keine Unschuldigen. Deswegen seien alle Muslim:innen erklärte Feinde.
Neben rassistisch und antisemitisch markierten Menschen gibt es aber noch ein drittes, zentrales Feindbild, das quasi sämtliche Rechtsterroristen eint – und in der Diskussion oft untergeht.
Welches?
Frauen beziehungsweise der Feminismus.
Das musst du genauer erklären.
Klar. Dafür müssen wir nochmal einen Schritt zurückgehen: Die Frauenfeindlichkeit der Rechtsterroristen setzt am Fundament ihrer Weltsicht an.
Der behaupteten natürlichen Ungleichheit von Menschen?
Ganz genau. Im völkischen Weltbild zählt immer die Gruppe, nicht die einzelne Person. Die steht im Dienst der eigenen „Schicksalsgemeinschaft“. Damit diese langfristig überlebt, müssen ihre Mitglieder dafür sorgen, dass der eigene „Volkskörper“ rein bleibt. Schließlich behaupten Rechtsextreme, dass Vermischung widernatürlich sei und zum Untergang führe. An dieser Stelle kommen Frauen ins Spiel: Damit das eigene, „wünschenswerte Volk“ fortbesteht, braucht es Frauen, die ausreichend Kinder bekommen – und deren Begehren sich dabei ausschließlich auf Männer der eigenen Gruppe richten darf.
Rechtsextreme glauben also, Frauen sollten möglichst viele weiße Kinder bekommen, damit die „Rasse“, Kultur oder Nation fortbesteht?
Exakt.
Kein Wunder, dass sie ein Problem mit Feminismus haben …
Das stimmt. Für Rechtsextreme ist der Feminismus die Ursache für eine freie und selbstbestimmte weibliche Sexualität, die sich eben nicht auf irgendwelche völkisch festgelegten Gruppen bezieht. Und deshalb das Überleben des eigenen „Volkes“ gefährdet.
Okay, also zusammengefasst: Rechtsterroristen glauben, dass die europäische Bevölkerung durch angeblich minderwertige muslimische Migrant:innen ausgetauscht werden soll. Schuld daran sind neben den Migrant:innen selbst alle, die an die Ideale der Aufklärung glauben, jüdische Menschen und Feministinnen?
Exakt. Quasi alle Rechtsterroristen der vergangenen Jahre beriefen sich auf diese Erzählung und bedienten sich bei den entsprechenden Feindbildern – wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise.
Und das vermischen sie dann mit anderen Verschwörungstheorien?
Zum Beispiel mit Teilen der QAnon-Erzählung. Oder sie verknüpfen Rassismus mit dem Leistungsprinzip und dem Hass auf Arme. Der Hanau-Attentäter forderte etwa, die Bevölkerung mehrerer Staaten komplett auszulöschen. Einfach weil diese angeblich zu wenig leisten würden. Auch gekränkte Männlichkeit spielt eine Rolle.
Gekränkte Männlichkeit?
Viele Rechtsterroristen sehnen sich in ihren Videos und Pamphleten nach einer Art soldatischer Männlichkeit. Konkret heißt das: Frauen sollen weiße Kinder bekommen, Männer heldenhaft das eigene „Volk“ verteidigen.
An diesem Selbstbild orientieren sie sich. Und sie glauben, sie hätten einen Anspruch auf die Rolle des versorgenden, starken, beschützenden Mannes. Wenn sie die im realen Leben nicht innehaben, suchen sie nach Schuldigen für ihre Kränkung: zum Beispiel Frauen. Die Frauenverachtung der Attentäter spielt in der medialen Berichterstattung meist aber nur eine untergeordnete Rolle.
Woran machst du die denn fest?
Ein Beispiel ist das Video des Halle-Attentats: Während der Attentäter in Kampfmontur über die Straße läuft, dröhnt aus seinem Auto ein Song, der an Frauenhass kaum zu überbieten ist. Das Lied ist dem kanadischen Massenmörder Alek M. gewidmet, der am 23. April 2018 acht Frauen und zwei Männer in Toronto ermordet hat. Sein Motiv: Frauenhass. M. war ein sogenannter Incel.
Ob wir nun aber über Antisemitismus, Antifeminismus oder Rassismus reden: Das Gefährliche ist, dass das alles Einstellungen sind, die in der Mitte der Gesellschaft anschlussfähig sind.
Wie radikalisieren sich Menschen aus dieser Mitte der Gesellschaft eigentlich?
Der Politikwissenschaftler Daniel Köhler spricht von „Schwarmterrorismus“: Menschen ohne Bindung an rechtsextreme Gruppen radikalisieren sich vor dem Hintergrund einer allgemein aufgeheizten Stimmung. Rechtsextreme radikalisieren gezielt die breite Masse. Sie erzeugen und verbreiten Feindbilder und fordern, „etwas“ zu tun. So erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit von Anschlägen. Vor allem, weil sie digital auch Normalos erreichen, denen sie in der analogen Welt nicht über den Weg laufen würden.
Okay, aber mich interessiert, wie genau sich ein solcher Normalo radikalisiert!
Die genauen Radikalisierungsprozesse unterscheiden sich natürlich, aber es gibt Muster. Um Online-Radikalisierung wirklich zu verstehen, müssen wir erst noch einmal einen Schritt zurückgehen. An den Ort, an dem sich die Attentäter heutzutage radikalisieren.
Im Internet?
Richtig. Auf Messenger-Apps wie Telegram, auf Youtube, Gamingportalen und sozialen Medien. Vor allem aber auf den sogenannten Imageboards.
Image-was?
Imageboards sind Websites, auf denen anonyme Nutzer:innen vor allem Bilddateien austauschen und sich darüber unterhalten. Sie sind in der Regel in dutzende Unterforen aufgeteilt, die jeweils eigene Themenfelder abdecken. Bekannteste Beispiele sind die berüchtigten Imageboards 4chan und 8chan (jetzt: 8kun), auf dem die Attentäter von Christchurch und El Paso ihre Taten ankündigten und Pamphlete hinterließen. Es gibt allerdings unzählige Ableger und Varianten.
Und warum sammeln sich Rechtsextreme gerade dort?
Das hat vor allem drei Gründe: erstens die Anonymität.
Zweitens fungieren sie als eine Art Knotenpunkt: Katzenbilder vermengen sich dort mit christlich-konservativen Chats, Animes, Hardcore-Pornos und rechtsextremen Inhalten. Wer auch immer auf solchen Imageboards unterwegs ist, kommt dort also auch ungewollt schnell in Kontakt mit rechtsextremem Gedankengut. Das erleichtert die Rekrutierung von Neulingen.
Drittens sorgt das enorme Überangebot an Inhalten dafür, dass das Rechtsextreme im Kuddelmuddel untergeht. Imageboards sind also keine Websites, die selbst rassistische, frauenfeindliche und antisemitische Inhalte anbieten. Aber sie dulden sie unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit. Und das macht sie so gefährlich. Denn die radikalen Inhalte verstecken sich häufig hinter Ironie und derbem Humor. Der aktuelle Rechtsterrorismus ist kein kollektiver, grobschlächtiger Skinhead-Verschnitt, sondern ein edgy Shitposter.
Ein edgy Shitposter?
Das bedeutet, er versteckt sich hinter provozierendem, mehrdeutigem und grenzüberschreitendem Humor. Das dient einerseits der Anschlussfähigkeit unter Jugendlichen, die so an rechtsextremes Gedankengut gewöhnt werden. Und andererseits der „Plausible Deniability“, also der „glaubhaften Abstreitbarkeit“: Es sei ja gar nicht so gemeint gewesen, „war doch bloß provozierender Spaß.“ Diese generell unter Rechtsextremen beliebte Taktik – sich nach rassistischen Aussagen hinter der Behauptung zu verstecken, es sei das ja gar nicht gemeint gewesen – wird in der Subkultur des Internets perfektioniert.
Hast du ein Beispiel dafür?
Klar. Im Netz kursieren Hunderttausende. Memes haben sich dort zu einer zentralen Kommunikationsform entwickelt. Rechtsextreme Trolle fluten das Internet damit, um ihr Gedankengut zu verbreiten, sich über Gegner:innen und Opfer lustig zu machen und Massenmorde zu verharmlosen. Dieses digitale Dauerfeuer nennt man Shitposting. Die Folge: Außenstehende können aufgrund der Fülle an Inhalten überhaupt nicht mehr unterscheiden, was ernst gemeint ist und was nicht.
Ein Beispiel: Nach dem Christchurch-Attentat tauchten zahlreiche Memes auf, die Massenmorde als witziges Spiel ironisieren, in dem die Anzahl ermordeter Menschen zum Highscore wird, den es zu knacken gilt.
Im Ernst?
Leider ja. Zahlreiche 8chan-Nutzer:innen feuerten Brenton T. während seines Anschlages in Christchurch online dazu an, den Highscore zu knacken. Auf einer bekannten rechtsextremen Website existiert sogar eine Art glorifizierendes Verzeichnis von Gewalttätern: Terroristen und Attentätern sind dort tabellarisch nach der Anzahl der von ihnen getöteten Menschen gelistet. Den Highscore der Kategorie „First Person Shooter (FPS) / Single Player“, den die Attentäter von El Paso und Halle knacken wollten, hält dort Anders B. – jener rechtsextreme Massenmörder, der am 22. Juli 2011 77 Menschen ermordete
Das klingt total absurd.
Da hast du recht. Der Journalist Robert Evans prägte nach dem Attentat in El Paso den Begriff der Gamification of Terror, also der Gamifizierung des Terrors. Gamifizierung bedeutet die Übertragung spieltypischer Elemente in eigentlich spielfremde Zusammenhänge. Er sagt, dass das aktuell die zentrale Entwicklung rechten Terrors sei.
Woran macht er das fest?
Naja, allein die Live-Übertragungen der Massenmorde erinnern stark an sogenannte Ego-Shooter. Dann feuert die Online-Community die Terroristen dazu an, Highscores zu brechen. Reale Massenmorde werden online zum Spiel; wer die meisten Menschen umbringt, gewinnt. Stephan B. wurde online als „Noob“ bezeichnet, weil er „nur“ zwei Menschen umbrachte. Der Begriff stammt ebenfalls aus der Gamerszene und bezieht sich auf Neulinge, die noch üben müssen.
Brenton T. spickte sein Pamphlet mit bewusst ironisierten Anspielungen auf die Imageboard-Kultur und deren gamifizierte Sprache. Andere Rechtsterroristen stellen auf Imageboards oder in ihren Pamphleten auch ihre Waffenauswahl vor und listen sogenannten Achievements auf. Das sind von Computerspielen inspirierte, selbstgesteckte Ziele, die sie während ihrer Anschläge erreichen wollen, zum Beispiel das Töten mit bestimmten Waffen. Das tun sie, um online Anerkennung zu gewinnen – und sich gleichzeitig über ihre Opfer lustig zu machen.
Okay. Und wie genau wird jemand innerhalb dieser Internet-Subkulturen vom „edgy Shitposter“ zum Terroristen?
Das passiert natürlich nicht an einem Tag. Viele Wissenschaftler:innen greifen auf das Bild einer Zwiebel zurück, um den Prozess zu veranschaulichen: Radikalisierung hat verschiedene Schichten, die jemand durchschreitet.
Was für Schichten genau?
Dazu gibt es verschiedene Modelle, die sich aber ähneln. Dem australischen Wissenschaftler Luke Munn zufolge verlaufen die meisten Online-Radikalisierungsprozesse in drei sich überschneidenden, nicht immer geradlinigen kognitiven Phasen.
Kannst du die einzelnen Phasen kurz erklären?
Klar. Die erste Phase ist die Normalisierung: Online kommen Neulinge über ironisch wirkende Bildcollagen, GIFs, Videos und Memes mit verschleierten, rechtsextremen Inhalten in Kontakt. Die angebliche Scherzhaftigkeit des Inhalts immunisiert gegen Kritik, die Grenze zwischen Ernstgemeintem und Ironischem verschwindet.
Die zweite Phase ist die der Akklimatisierung: Nutzer:innen gewöhnen sich mit der Zeit an rechtsextreme Inhalte. Meist geschieht das in mehreren thematischen Schritten: Erst gewöhnen sie sich an Positionen, die auch Anschluss in der Mitte der Gesellschaft finden, zum Beispiel ein männliches, konservativ-christlich geprägtes Unbehagen an Feminismus. Mit der Zeit verlieren Nutzer:innen an Empathiefähigkeit. Das verändert die Wahrnehmung und öffnet langsam die Tür zu den extremsten Teilen rechtsextremer Ideologien, zum Beispiel der „Jewish Question“. In Anlehnung an den Film „Matrix“ bezeichnet die rechtsextreme Szene diesen Prozess als „Redpilling“.
Warum?
In einer Szene muss sich Neo, der Held des Films, zwischen zwei Pillen entscheiden: einer blauen und einer roten. Die blaue Pille steht für die Option, wie bisher in in ewiger Täuschung weiterzuleben. Die rote Pille bedeutet, die wahre und zugleich gefährliche Welt zu erkennen. Er entscheidet sich für die rote Pille. Rechtsextreme bedienen sich bei diesem Bild. Sie glauben, die Wahrheit klar zu sehen. Und versuchen, anderen die „rote Pille“ in Form von Ideologie zu verabreichen.
Im Netz geschieht das in kleineren Dosen. Aber wer die „rote Pille“ einmal vollends geschluckt hat, sieht die Welt mit anderen Augen. Und ist bereit für die dritte Phase der Radikalisierung: Dehumanisierung.
Also Entmenschlichung?
Genau. Die Geredpillten nehmen Menschen nicht mehr als Individuen wahr, sondern nur noch als Teil einer gleichförmigen Masse, denen jegliche Menschlichkeit aberkannt gehört. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn sie nichtweiße Personen nur noch als „Invasoren“ sehen. Für diese Gruppen benutzen Mitglieder der Imageboards häufig die Abkürzung NPC. Die Bezeichnung steht für „Non-Player-Character“ und kommt aus der Gamerszene. Sie bezeichnet Videospielcharaktere, die der Spieler nicht selbst steuern kann.
Warum benutzen sie diesen Begriff?
In Videospielen sehen NPCs oft gleich aus und verfügen über keinen eigenen Willen. Die Bezeichnung steht also symbolisch für eine vorprogrammierte, willenlose und gleichförmige Masse, die es zu vernichten gilt. Wie in Videospielen eben. Rechtsterroristen machen das mit echten Menschen: Sie kollektivieren und entmenschlichen ihre Feindbilder. Wer dann jemanden aus dieser „Masse“ vernichtet, ist von der eigenen moralischen Überlegenheit überzeugt.
Rechtsterroristen teilen also nicht nur ähnliche Ideologien, sondern radikalisieren sich auch auf mehr oder weniger die gleiche Art und Weise?
Die Schritte hin zur Gewalt verlaufen ähnlich. Zentral ist dabei die Rolle von Online-Netzwerken, Foren, Ironisierung und Shitposting. Eine weitere, offensichtliche Gemeinsamkeit müssen wir aber noch einmal besprechen: Der Rechtsterrorist der 2010er Jahre kündigt seine Tat online an, veröffentlicht Pamphlete und überträgt sein Attentat live – oder versucht es zumindest.
Warum eigentlich?
Das ist der Unterschied zwischen Gewalt und Terror: Gewalt kann ohne Ideologie und spontan ausgeübt werden. Terror ist eine auf Gewalt basierende Form der Kommunikation. Terror soll eine Botschaft verbreiten. Die steht im Mittelpunkt der Tat. Um diese Botschaft zu verbreiten, wollen die Täter so viel Aufmerksamkeit wie möglich.
Deshalb die Livestreams?
Genau: Streams und Pamphlete sollen die eigene Community mitnehmen, allgemeine Aufmerksamkeit erregen, das Gedankengut weitertragen und Nachahmer:innen zu weiteren Attentaten inspirieren. Der Journalist Robert Evans spricht deshalb von „Inspirational Terrorism“. Damit meint er, dass die massive Verbreitung von Streams und Pamphleten im Netz und die Heroisierung der Täter genau das bewirkt: weitere Attentate. Genau wie die Taten selbst transportieren Livestreams und Pamphlete zugleich aber auch subtilere Botschaften an verschiedene Adressat:innen.
Was für Botschaften?
Erstens zeigen die Attentate der Bevölkerung, dass der Staat schwach ist und die öffentliche Sicherheit nicht gewährleisten kann. Das sorgt für allgemeine Verunsicherung und Angst.
Zweitens vermitteln sie den Betroffenen: Ihr gehört hier nicht hin. Ihr seid hier nicht sicher. Es kann jeden von euch treffen, immer. Und niemand kann euch schützen.
Und drittens vermitteln die Taten den eigenen Anhänger:innen das Gefühl, sie und ihr Weltbild seien im Aufschwung, auf der „richtigen Seite“.
Okay, verstanden. Aber: Pamphlete, Livestreams, Imageboards, Gamification of Terror und „Bevölkerungsaustausch“ – das Ganze ist also ein relativ junges Phänomen, oder?
Hinsichtlich der Inszenierung und der Radikalisierungsmöglichkeiten im Netz: ja. Insgesamt sind rechter Terror und rechte Gewalt aber nichts Neues, im Gegenteil: Mindestens 213 rechtsmotivierte Morde zählen Zeit, Tagesspiegel und Amadeu Antonio Stiftung allein seit Oktober 1990. Darunter auch die lang entpolitisierten, rassistischen Morde des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU), dessen gesamtes Netzwerk bis heute nicht vollständig ausgeleuchtet wurde.
Hinzukommen, neben den Attentaten von Halle und Hanau auch die Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke und Gruppierungen wie das Hannibal-Netzwerk, „Revolution Chemnitz“ oder die Terrorgruppe Freital.
Das bisher größte rechtsextreme Attentat in Deutschland war das Oktoberfestattentat vom 26. September 1980, bei dem der Attentäter Gundolf K. zwölf Menschen umgebracht hat. Ähnliches gilt für die globale Ebene: Rechtsterrorismus ist ein transnationales Phänomen mit langer Geschichte: Auch der Bombenanschlag von Oklahoma City am 19. April 1995 mit 168 Todesopfern war rechts motiviert. Der Attentäter holte sich seine Inspiration damals nur nicht aus dem Internet, sondern aus einem rechtsextremen Roman, den man durchaus als Standardwerk des Rechtsterrorismus bezeichnen könnte: Den sogenannten Turner-Diaries.
Inwiefern Standardwerk?
Der Roman beschreibt, wie Rechtsextreme Widerstand gegen den Staat leisten – nicht in großen Terrornetzwerken, sondern in kleinen Gruppen oder alleine. Damit trug er maßgeblich zur Verbreitung des bis heute wichtigen Konzepts der „Leaderless Resistance“, also des „führerlosen Widerstandes“ bei.
Das bedeutet?
Dieses auf den Rechtsextremen Louis B. zurückgehende Terrorkonzept plädiert für die Gründung kleiner, selbstständig agierender und relativ hierarchiefreier Terrorgruppen. Die sollen dann mehr durch die Ideologie als durch organisatorische Strukturen verbunden sein. Der Grund dafür ist einfach: Kleingruppen ohne Organisationsstruktur sind sehr viel schwieriger zu fassen. Das Konzept ist quasi ein Vorgängermodell des allein handelnden Täters.
Okay, zurück in die Gegenwart. Ich habe das Gefühl, seit Hanau ist das Thema in der Bevölkerung und bei den Sicherheitsbehörden angekommen. Können wir damit rechnen, dass wir das in den Griff kriegen?
Wir haben viel zu lange weggeschaut, rechten Terror bagatellisiert und die Wurzeln des Problems nicht angegangen. Das rächt sich. Denn, wie gesagt: Im Zeitalter des Internets können sich Menschen auch ohne vorherige Verbindung zu analogen, rechtsextremen Netzwerken in Windeseile radikalisieren und Attentate planen und durchführen.
Du erwartest also weitere Anschläge?
Weitere Anschläge würden mich zumindest nicht überraschen. Sie sind wahrscheinlich. Und abgesehen von den Möglichkeiten der Online-Radikalisierung und der Anschlussfähigkeit von Verschwörungserzählungen wie dem „Bevölkerungsaustausch“ und QAnon, können wir gerade zwei weitere besorgniserregende Entwicklungen beobachten.
Welche?
Zum einen natürlich die Corona-Krise. Die ist Wasser auf die Mühlen rechter Verschwörungserzählungen. Rechtsextreme nutzen sie ganz gezielt, um Ressentiments zu schüren, Untergangsszenarien zu befeuern und die Corona-Maßnahmen als diktatorisch darzustellen, gegen die sie zum vermeintlichen Widerstand aufrufen.
Zum anderen mehren sich die Anzeichen dafür, dass Rechtsextreme die Klimakrise als Thema für sich vereinnahmen: „White Supremacy Goes Green“, titelte Beth Gardener in der New York Times. Rechtsextreme machen Ausländer:innen und Migrant:innen für die globale Erderwärmung verantwortlich und inszenieren sich als Klimaschützer:innen. Die Attentäter von Christchurch und El Paso haben die Umweltfrage sogar in ihre Tatbegründungen eingewoben.
Wie genau?
Indem sie Migrant:innen für Umweltverschmutzung und zu viel Konsum verantwortlich machten. Und für die vermeintliche Überbevölkerung der Welt. Dahinter steckt ein Argument, das leider Anklang in großen Teilen der Gesellschaft findet: Die Behauptung, wir seien zu viele Menschen auf der Erde, um nachhaltig zu leben und die Klimakrise abzuwenden. Die rechtsextreme Schlussfolgerung: Die Weltbevölkerung müsse dezimiert werden.
Puh. Und was können wir dagegen tun?
Drei Dinge. Erstens: Betroffenen zuhören. Zweitens: Wir dürfen rechten Terror nicht als Problem Einzelner abtun, sondern müssen uns mit den gesellschaftlichen Wurzeln, mit Ideologie und Radikalisierung auseinandersetzen. Und diese Auseinandersetzung dann in konkrete Maßnahmen einfließen lassen. Das bringt uns zu Punkt Drei, zu gezielten Maßnahmen: Nach dem Anschlag von Hanau machten bei Zeit Online drei Vertreter aus Zivilgesellschaft, Verfassungsschutz und Wissenschaft konkrete Vorschläge für einen umfassenden Masterplan gegen Rechtsextremismus.
Sie fordern unter anderem mehr Bildungsangebote für junge Menschen, die Stärkung zivilgesellschaftlicher Projekte, die Aufnahme von Antirassismus und Demokratieförderung als Staatsauftrag in die Verfassung, die Förderung von Wissenschaft und politischer Bildungsarbeit, sowie einen stärkeren Schutz von Opfern und Bedrohten rechter Gewalt.
Wer sich noch tiefer mit der Materie beschäftigen möchte, für die oder den habe ich hier die wichtigsten Beiträge gesammelt, die ich für meine Recherche genutzt habe und mir geholfen haben, das Thema rechter Terror besser zu verstehen.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger.