Porträt der DIE LINKEN Politikerin Anna Gorskih vor einem Graffiti Hintergrund

© Anna Gorskih

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Nur mal kurz die Welt retten ist einfach – Abgeordnete sein nicht

Wer jung ist und die Welt retten möchte, tritt schon lange nicht mehr in eine Partei ein. Anna Gorskih hat es trotzdem getan. Jetzt ist sie 27, sitzt als Linke im schwarzen Sachsen im Landtag und kann nichts durchsetzen. Warum tut sie sich das an?

Profilbild von Tarek Barkouni
Reporter für das digitale Leben

Auf dem Platz vor dem Landtag steht das sächsische Kräfteverhältnis Kopf.
Vor knapp 100 Lehramtsstudierenden, die dort gegen Kürzungen in der Ausbildung protestieren, hält Anna Gorskih eine kämpferische Rede und ruft: „Wir unterstützen euer Bündnis selbstverständlich.“ Die Antwort: Jubeln und Klatschen. Der CDU-Kollege, der nach ihr spricht, muss sich mit höhnischem Gelächter begnügen. Als beide kurz danach durch die Sicherheitsschleuse hinter die dicken Betonmauern des Landtags verschwinden, wissen sie: Ab jetzt wird es wieder anders.

Im Oktober 2019 wird Gorskih Abgeordnete der Linkspartei im sächsischen Landtag, eine Studentin, 27 Jahre alt, die jüngste in ihrer Fraktion, die einzige, die nicht in Deutschland aufgewachsen ist. Sie ist das, was die Parteien gerne in sozialen Netzwerken präsentieren, das, was sie ihre Zukunft nennen. Ein Hoffnungsschimmer in Zeiten, in denen immer weniger junge Menschen in Parteien eintreten.

Es ist nicht so, dass da eine unpolitische Generation heranwächst. Aber Jugendliche, besonders in Ostdeutschland, vertrauen den Parteien nicht mehr, seit Jahren. Das Allensbach-Institut hat das neulich untersucht und Ernüchterndes festgestellt: Zwei Drittel der jungen Ostdeutschen trauen der Politik nicht zu, die Interessen ihrer Generation zu vertreten.

Das Durchschnittsalter im sächsischen Landtag: 48,8 Jahre. Der Frauenanteil: 27,7 Prozent.

Junge Ostdeutsche, die etwas ändern wollen, treten selten in Parteien ein. Sie engagieren sich bei Fridays for Future, Attac oder Greenpeace. Sie organisieren Demos und vernetzen sich im Internet. Gremienarbeit und Wahlkampfstände sind nicht besonders attraktiv für sie.

Anna Gorskih ist eine doppelte Ausnahme: In ihrer Partei ist sie eine junge Frau neben vielen alten Männern. In ihrer Generation ist sie ein Parteimitglied neben vielen, die Parteien misstrauen. Warum also tut sie das?

Politik bedeutet für sie Kaderarbeit statt Klimacamp

2019, als eine Dürre durch Deutschland geht und Fridays for Future zur Bewegung wird, wählt die sächsische Bevölkerung Anna Gorskih in den Landtag. Es ist der Höhepunkt ihres politischen Lebens. Hinter ihr liegen zehn Jahre Wahlkämpfe, erst für andere, dann für sich, Arbeit in Abgeordnetenbüros, Parteitage, interne Wahlen, viele Fußgängerzonen. Kurz: Ein Marathon der Kader-Arbeit. Sie sagt: „Ich kann verstehen, wenn es junge Menschen abschreckt, dass man gefühlt ewig dabei sein muss, um überhaupt mitreden und mitentscheiden zu können.“

Im Sommer 2019 treffe ich Anna Gorskih zum ersten Mal. Wir treffen uns in Leipzig-Connewitz, vor dem Linxxnet, dem Parteibüro der Linken. Gorskih trägt Schwarz, sie hat Tunnel in den Ohrlöchern, sie fällt hier weniger auf als im Landtag. Connewitz ist der alternativste Stadtteil in den ostdeutschen Bundesländern, vielleicht sogar in ganz Deutschland. Für die Linke ist das Viertel ein Safe-Space.

Als ich mit ihr über ihren Weg in die Politik spreche, merke ich schnell: Rebellion ist nicht ihr Ding. Gorskih hat nie als Zeichen Schule geschwänzt. Sie hat keine Bäume besetzt. Sie hat Basisarbeit in einer Partei gemacht, seitdem sie 16 ist. Das heißt: Stundenlang an Ständen stehen und Menschen ansprechen, die einem nicht immer sympathisch sind. Sich die Beschwerden und die Enttäuschung der Menschen anhören, meist älterer Menschen, die noch in der Fußgängerzone unterwegs sind und die Zeit haben.

Anna Gorskih sagt: „Das gehört halt dazu. Und wenn man wenigstens ein Paar Menschen mit Gesprächen erreicht, ist es ein Erfolg.“ Sie klingt nicht aufgeregt dabei oder defensiv, sie sagt das ganz sachlich. Anna Gorskih hat Politik studiert, sie spricht gerne mit Menschen, sie wälzt gerne Studien, sie kniet sich gern in Dinge rein. Sie hat eine Aufgabe gefunden, und die setzt sie jetzt um.

In Meißen, dieser wunderschön restaurierten Stadt, in der die AfD bei der letzten Stadtratswahl gewonnen hat, wird die junge Anna Gorskih vor gut zehn Jahren politisch. Sie sagt: „Als Jugendliche in einer sächsischen Kleinstadt habe ich alle Probleme erlebt, die mich heute politisch beschäftigen.“ Was sie meint: Perspektivlosigkeit, kaum Jugendclubs, wenig Kultur, Freunde, die wegziehen nach Berlin und Hamburg. Gorskih erinnert sich: „Wir mussten wochenlang warten bis mal eine spannende Party, ein Workshop oder Vortrag stattgefunden hat.“ Zu ihrer Jugend gehörten auch „neonazistische Schmierereien“, die Gorskih als Kind russischer Einwanderer besonders treffen. Und dieses Gefühl: Wer kritisiert, ist Nestbeschmutzer.

Gorskih spricht überlegt, fast druckreif. Jeder Satz klingt, als ob sie ihn vorher darauf geprüft hat, ob er ihr auf die Füße fallen könnte.

Ostdeutschland ist auch Leidensdruck

Als die Zeit 2019 die wichtigsten jungen Ostdeutschen auszeichnete, waren darunter auch mehrere junge Bürgermeister:innen, Landtags- und Bundestagsabgeordnete: Philipp Amthor, 28, der jüngste Abgeordnete im Bundestag. Lilly Blaudszun, 19, die Politik-Influencerin der SPD. Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet in Ostdeutschland, wo das Misstrauen gegenüber Parteien groß ist, auch viele junge Menschen Karriere in den Parteien machen. Die SPD etwa hat in ganz Ostdeutschland nur 22.000 Mitglieder. Allein in Schleswig-Holstein, einem der kleinsten Bundesländer im Westen, hat sie 16.000. Es ist deutlich leichter, im Ortsverband Pirna der SPD Karriere zu machen als in Eickel im Ruhrgebiet.

Wer im Osten in die Politik geht, hat oft auch einen besonderen Leidensdruck, erzählt Gorskih: „Man kämpft gegen etwas an.“ Gegen Nazis, gegen Strukturschwäche, gegen Ausgrenzung.

Viele junge Ostdeutsche kennen diese Probleme, viele kennen den Leidensdruck. Nur wenige engagieren sich vor Ort dagegen. Das liegt daran, dass ein selbstverständlicher Teil der ostdeutschen Biographie darin besteht, wegzuziehen, bevor einem alles über den Kopf wächst. Die meisten sind erwachsen und ziehen weg, bevor der Leidensdruck zu groß ist. Bei Gorskih war es andersherum: Der Leidensdruck war groß, bevor sie erwachsen wurde. Also tat sie vor Ort etwas dagegen, in Meißen. Wenn man sie fragt, ob sie immer in den Landtag wollte, verneint sie und sagt: „Vielmehr habe ich mich einfach engagiert, weil ich mein Lebensumfeld verändern wollte.“

Lebensumfeld verändern, das heißt: auch für kleine Dinge kämpfen. Zum Beispiel: „Bahnstrecke Döbeln-Nossen-Meißen endlich wiederbeleben!“, wie Anna Gorskih es auf Instagram fordert. Vielleicht muss man auch ein bisschen streberhaft sein, um die Tortur der politischen Arbeit durchzustehen.

„Meine Migrationsgeschichte hat mich politisiert“, sagt sie. Gorskih kommt mit zwölf Jahren aus Russland nach Deutschland, genauer aus der Nähe von Nowosibirsk in Sibirien. „Ich habe nie verstanden, warum man Menschen, die hierherkommen, so viele Steine in den Weg legt.“ Ihre Familie hätte sich von Null alles aufbauen müssen, weil Bildungsabschlüsse und Arbeitserfahrung nie anerkannt worden seien. Etwas, das viele Ostdeutsche nach der Wende auch durchgemacht haben. Deswegen sagt Gorskih auch Sätze wie: „Ich bin eher Ostdeutsche als Deutsche.“ Sie glaubt: Die Erfahrungen einer post-sozialistischen Gesellschaft verbindet sie mit vielen Menschen hier.

Die Frage ist aber, ob die Menschen das auch so sehen. Gorskihs politische Karriere findet nämlich in Sachsen statt. Seit 1990 stellt die CDU hier durchgängig den Ministerpräsidenten und warnt bei jeder Gelegenheit vor „der roten Gefahr“. Es gibt in Sachsen Menschen, die die Linke konsequent SED nennen. Die vermeintliche Gefahr hat bei der letzten Landtagswahl gerade mal 10,4 Prozent bekommen und ihre Stimmen im Vergleich zur Wahl davor fast halbiert. Bei der letzten Landtagswahl war die AfD bei den unter 30-Jährigen die stärkste Kraft – und 55 Prozent der Erstwähler:innen haben gar nicht gewählt.

Das treibt Anna Gorskih natürlich um. Sie sagt: „Neben bestimmten Einstellungen und der Zustimmung zum politischen Angebot der Partei, spielen da sicher gewisse Enttäuschungen und Verletzungen eine Rolle. Obwohl man gut qualifiziert ist, arbeiten viele jetzt in schlecht bezahlten Jobs.“ Ihre Partei versucht, dagegenzuhalten, verspricht Mindestlohn und Grundrente. Aber die Linke ist auch Oppositionspartei, ihre Anträge kommen nicht durch.

Gorskih lacht und sagt: „Ja, das ist manchmal etwas frustrierend. Aber ich habe mir da jetzt auch keine großen Illusionen darüber gemacht, dass es einfach sein wird und dass ich in Sachsen im Parlament viel bewegen könnte.“ Trotzdem macht sie weiter.

Jung, links, Streberin – das vereint sie in sich

Gorskih hat sich etwas vorgenommen: die Bildungs- und Jugendpolitik verändern. Aber jede junge Politikerin merkt irgendwann, dass sie erstens kaum Einfluss und zweitens auch noch Einiges nachzuholen hat.

Gorskih ist frisch in dem Job, und das merkt man auch. Für sie ist es zum Beispiel neu, dass sich ein Journalist für sie interessiert. Wenn man als Journalist mit Abgeordneten der Linkspartei spricht, duzt man sich normalerweise relativ schnell. Anna Gorskih und ich sind im selben Alter. Aber wir haben uns zu keinem Zeitpunkt geduzt. Als mir das nach der Recherche klar wird und ich sie darauf anspreche, sagt sie, dass sie unsicher gewesen sei, wie sie die Situation einordnen soll: „Hätten wir uns in einem anderen Kontext kennengelernt, wäre ich nie darauf gekommen, Sie zu siezen.“

Als Gorskih gerade in den Landtag eingezogen ist, nimmt sie sich vor zu lernen. „Am Anfang waren es ein Haufen Eindrücke, ich habe mir erstmal einen Überblick verschafft und dann angefangen, quer durch Sachsen zu fahren, um mit Initiativen und Menschen zu sprechen.“ Es ist kein Widerspruch, jung, links und dabei ein bisschen streberhaft zu sein. Anna Gorskih ist das beste Beispiel dafür.

Gorskih postet auf Instagram auch immer wieder aus ihrem politischen Alltag. Pflichtaufgabe besonders für junge Politiker:innen. Social Media liegt ihr eigentlich nicht, ihr Instagram-Profil hat sie vor der Landtagswahl eröffnet. Bevor ich sie das erste Mal treffe, sind die meisten Fotos auf ihrem Profil die Social-Media-Botschaften ihrer Partei. Von Politfluencerin keine Spur. Wo andere selbst Wahlniederlagen mit Pfefferminzlikör begießen, gibt es bei ihr einen Apfel auf einem Parteitag.

Ein paar Monate später bedient Gorskih die Internetregeln schon mehr: Insta-Storys von Zugfahrten durch Sachsen, das Parteilogo immer im Bild. Und: Katzenfotos!

Am Tag, als die Lehramtsstudierenden vor dem Landtag protestieren, bleibt Anna Gorskih fast bis Mitternacht im Parlament. Es ist 22.32 Uhr, als der Landtagspräsident die Sitzung beendet. Die meisten Demonstrant:innen sind da wahrscheinlich schon zuhause, schauen Netflix oder genießen den Sommerabend. Gorskih fährt nach über zwölf Stunden Landtagssitzung nicht mehr nach Leipzig zurück. Sie schläft bei Freund:innen. Am nächsten Tag ist wieder Sitzung.

Das ist vermutlich auch der größte Unterschied zu den Protestierenden vor dem Landtag, die Gorskih beklatschen. Schnelle Ergebnisse oder Veränderung wird sie mit ihrer Arbeit nicht erreichen. Die Linke in Sachsen ist Oppositionspartei.

Aber sie ackert sich durch. Ihre Aufgabe ist es: „Für die Leute, die einen gewählt haben, eintreten und deren Interessen in den Landtag bringen. Das ist, glaube ich, der Rahmen als linke Opposition in Sachsen.“ Für Gorskih bedeutet das vor allem, Dinge herausfinden und ansprechen. Dafür hat die Opposition in den deutschen Parlamenten ein Mittel, das auch Journalist:innen gerne nutzen: Anfragen. 77 Anfragen hat Anna Gorskih seit dem Beginn der Legislatur gestellt. Sie fragt nach wohnungslosen Jugendlichen in Sachsen, der Wahlbeteiligung von Erstwähler:innen, nach den Etats für Lehrbeauftragte an sächsischen Hochschulen.

Und sie fragt nach „Lizenzbeschaffung des Bibliotheksmanagementsystems Libero an wissenschaftlichen Bibliotheken des Freistaates Sachsen“. Etwas, das bestimmt nicht die ganze Welt auf einmal besser macht. Aber für einige schon. Ackern eben.


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele.