Triptychon, v.l.n.r: Paramilitärisch gekleideter Mann spring mit einer Hand über eine niedrige Abtrennung in der anderen hat er Fesseln; Mann mit MNS und Trump Flagge vor Polizeiabsperrung und US Capitol dahinter; Mann röhrt mit USFlagge in der Hand und gehörnter Fellmütze.

© Getty Images / Win McNamee/ Spencer Platt/ Win McNamee

Nachrichten, erklärt

Die Ideologie der Kapitol-Stürmer

Sie sahen aus wie eine Zirkustruppe und kamen nur auf den ersten Blick aus dem Nichts. Die Menschen, die das US-Kapitol gestürmt haben, hängen einer Ideologie an, wie sie nur das Internet hervorbringen konnte.

Profilbild von Tarek Barkouni
Reporter für das digitale Leben

Es war kurz nach 14 Uhr in Washington, als ein Senatsmitarbeiter zu Senator James Lankford ans Podium trat und ihm sagte: „Protestors are in the building“ – Protestierende sind im Gebäude. Zu diesem Zeitpunkt wurden die Demonstrationen gegen die Wahl von Joe Biden zu einem Sturm auf das Kapitol.

Hunderte Menschen verteilten sich in den Fluren und Räumen des Parlaments, grölten Parolen und Forderungen, randalierten, hinterließen Drohnachrichten an Medien und Politik oder klauten ungeniert Einrichtungsgegenstände. Kurz: Das Gebäude war in der Hand einer rasenden Meute. Knapp vier Stunden dauerte es, bis die Sicherheitskräfte wieder Kontrolle über die Situation hatten. Währenddessen gingen die Bilder dieser vermeintlichen Revolution um die Welt, die ein tätowierter Typ mit Kriegsbemalung in einem Bisonfellkostüm inklusive Hörnern anführte.

Was dort live übertragen wurde, war der Ausbruch eines Vulkans, der sich seit Wochen, wenn nicht sogar Monaten online angekündigt hatte: Auf den ersten Blick ein unzusammenhängender Haufen Irrer. Auf den zweiten ist es die Geburt einer Ideologie, wie sie nur das Internet hervorbringen konnte und der öffentlichen Vorstellung eines Netzwerks von Pro-Trump-Akteuren. Interessant dabei: Die einzelnen Figuren sind so auffällig, wie austauschbar.

Der Mythos Q entsteht aus einem Rollenspiel

Die wohl auffälligste Figur beim Sturm war Jake Angeli, der Mann in dem Bison-Kostüm und ganz rechts im Titelbild zu sehen. Angeli ist durch die Gänge gelaufen, hat mitgegrölt und bereitwillig Interviews gegeben. Und er wurde schnell als „Sprecher“ für die Verschwörungsideologie rund um Q bezeichnet. Anhänger:innen dieser Ideologie waren bei dem Angriff auf das Capitol überall zu sehen, erkennbar an den Insignien, wie dem Q oder dem Ausspruch „WWG1WGA“ auf Kleidung oder Plakaten. „WWG1WGA“ steht für „Where we go one, we go all“, quasi ein Treueschwur an Donald Trump.

Der Mythos Q ist eine chaotische Mischung aus verschiedenen Verschwörungserzählungen, esoterischen Ideen und antisemitischen Gedanken. Zusammengefasst geht es darum, dass es eine Verschwörung von satanischen Pädophilen gegen Donald Trump gibt. Was so abstrus klingt, hat zahlreiche verschiedene Teilmythen, die jeder einzelne für sich tausendfach widerlegt ist, aber ein gesamtes zusammenhängendes Narrativ ergeben.

Was man verstehen muss, wenn man sich mit dem Mythos auseinandersetzt: Es gibt kein echtes ideologisches Grundgerüst, wie bei anderen politischen Ideologien. Die Idee ist aufgebaut wie ein Rollenspiel. Jede:r kann mitmachen, jede:r einen eigenen Teil der Erzählung hinzufügen. Es geht um einzelne Geschichten, die das Narrativ weiterstricken und je weiter die Geschichte verbreitet wird, desto mehr wird sie Teil des Q-Mythos.

Deswegen sind Menschen wie Angeli auch vollkommen austauschbar. Theoretisch hätte auch eine andere Person in einem, sagen wir The-Reaper-Kostüm, die Bilder, die wir gesehen haben, produzieren können. Gleichzeitig sind diese Menschen aber auch wichtig. Sie sind Beschleuniger:innen der verschiedenen Erzählungen, quasi Moderator:innen. Wer laut und auffällig ist, dem glauben andere Anhänger des Mythos eher. Was sie für wahr halten, wird dann auch relevanter.

Genauso wichtig ist die Herkunft des Mythos zu kennen: Das Imageboard 4chan. Imageboards sind reduzierte Foren, in denen sehr bildbasiert und anonym kommuniziert wird. Ein:e Nutzer:in lädt ein Bild mit einem kurzen Text hoch, oft einer Frage, die gar nichts mit dem Bild zu tun hat, andere Nutzer:innen antworten, entweder selbst mit Bildern oder nur mit Text.

Solche Imageboards haben über die Jahre eine starke Kultur entwickelt, die sich in Insiderwitzen, eigenen Kommunikations- und Verhaltensregeln widerspiegelt. Und oft auch in Rollenspielen. Für Außenstehende ist das schwer nachzuvollziehen, geschweige denn zu entschlüsseln. Trotzdem gab es immer wieder Punkte, an denen solche Imageboards in die reale Welt übergegangen sind. Einer davon ist das sogenannte Pizzagate, das auch inzwischen Teil des Q-Mythos ist. Nach Millionen von Tweets und der viralen Verbreitung einer Erzählung über Kindesmissbrauch der Machtelite trat der Mythos auch in die reale Welt: als ein 28-Jähriger mit einem Sturmgewehr eine Pizzeria stürmte, weil er dort Verschwörer:innen vermutete.

Für Anhänger:innen von Trump auf 4chan war das ein Sieg, bei dem sie gelernt haben, dass sie Einfluss auf die Realität haben können. Aus verschiedenen Verschwörungserzählungen, Insidern und geleakten E-Mails aus der demokratischen Partei wurde nach Pizzagate ein Mythos gebastelt: der Q-Komplex. Dabei funktioniert das Internet wie ein Brandbeschleuniger. Viele Menschen spinnen aus einigen Fakten, viel Fantasie und einem Ziel (Donald Trump zu unterstützen) eine Geschichte zusammen, die auch außerhalb des Internets funktioniert. Die Teilnehmer:innen bedienen sich zwei relativ einfacher Strategien.

Erstens: Formuliere Fragen. Zweitens: Ziehe Verbindungen zwischen Dingen. Ein Beispiel: Warum steht in vielen großen Redaktionen die gleiche Kaffeemaschine dieser bestimmten Firma? Aus dieser Frage könnte sich ein Mythos über die Gleichschaltung der Medienwelt oder die Beeinflussung durch die Kaffeeindustrie bauen lassen.

Jake Angeli, der Mann im Bison-Kostüm, ist Teil dieses Mythos, er spielt mit, entwickelt die eigene Realität des Mythos und verbreitet ihn in der realen Welt. Genau wie unzählige Menschen es auf Twitter, Facebook, Telegram, Youtube oder in anderen sozialen Netzwerken und auch im direkten Gespräch auf der Straße tun. Der Mythos verbreitet sich dezentral, über die Masse, es gibt nicht den einen großen Propagandisten, und wie jede Erzählung, die so weitergegeben wird, verändert sie sich jedes Mal ein kleines bisschen.

Vermutlich waren deswegen beim Angriff auf das Kapitol keine zwei Menschen mit genau der gleichen Vorstellung des Mythos beteiligt. An der Wirkmächtigkeit hat das nichts geändert. Denn die Fragmente, die Strategie von Fragen stellen und Verbindungen ziehen, funktionieren. Sie beeinflussen auch andere Akteur:innen.

Die Proud Boys sind die Bilderlieferanten für den Mythos

Die Proud Boys sind Neonazis, die sich als Miliz für Donald Trump verstehen. Mit judenfeindlichen Sätzen wie „6 Million wasn’t enough (6MWE)“ – eine Anspielung auf sechs Millionen tote Juden im Holocaust – zeigen sie offen ihren Antisemitismus. Es gibt einige Hinweise dafür, dass auch Anhänger der Proud Boys im Kapitol waren. Mehrere Teilnehmer:innen trugen auf ihrer Kleidung Codes, die bei den Proud Boys verbreitet sind: Der Mann mit dem Auschwitz-Pullover, auf dessen Rücken übrigens „Mitarbeiter“ steht, sowie Fotos von Menschen mit dem Code 6MWE, zeigten sich ganz offen und ließen sich stolz fotografieren. Die Drohung zur Selbstjustiz aus den Reihen der Proud Boys gegenüber demokratischen Politiker:innen lässt darauf schließen, dass die zahlreichen Menschen in Kampfmonturen mit Kabelbindern, die Polizist:innen auch als Handschellen benutzen (ganz links im Titelbild zu sehen), sich auch den Proud Boys zugehörig fühlen. Außerdem wurde auf verschiedenen Kanälen der Gruppierung zu der Demonstration aufgerufen.

Mit dem Mythos Q vereint die Proud Boys die Anhängerschaft für Trump, außerdem verbreiten auch sie Fragmente der Q-Erzählung. So tötete im Januar 2019 ein Proud Boy den eigenen Bruder auf Grundlage einer Erzählung aus dem Q-Mythos.

Die Neonazis sind ein wichtiger Teil der Trump-Bewegung, weil sie erstens gewaltbereit ist und zweitens auch für etwas sorgt, das sich im Internet gut verbreitet: Bilder. Die martialisch anmutenden Männer posieren oft mit Waffen und sehen dadurch aus wie eine Armee. Eine Privatarmee, die die Ideologie aus dem Internet verbreitet und verteidigt. Für Donald Trump ist die Gruppierung ein Glücksfall. In Reden lobt er die Bewegung sogar direkt. Anders als beim Q-Mythos, der auf einer komplexen Erzählung basiert, kann Trump leichter eine Verbindung zu den uniformierten Männern auf der Straße herstellen.

Rechtsfluencer verbreiten die Fragmente des Mythos

Da die Ideologie der Kapitol-Stürmer:innen so stark auf der subjektiven Interpretation der Erzählungsfragmente basiert, benötigt sie viele einzelne Verbreiter:innen dieser Fragmente. Das sind einerseits ganz normale Nutzer:innen der sozialen Netzwerke und andererseits, ganz in der Funktionsweise von sozialen Netzwerken Kanäle, die als Sammelpunkte und Moderatoren dienen, ähnlich wie es der Bison-Kostüm-Mann war, nennen wir sie mal Rechtsfluencer. Was in harmlos die Verbreitung eines Foodtrends ist, wird im Universum der Kapitol-Stürmer:innen die Verschwörungserzählung der gestohlenen Wahl.

Das ist auch einer der Gründe, warum wir den Sturm aus so vielen Blickwinkeln betrachten konnten. Diese Rechtsfluencer haben eigene Social-Media-Auftritte und eigentlich alles, was eine Instagram-Berühmtheit sonst braucht: eine Persönlichkeit, eine Idee, für die sie werben, und oft einen Spendenkanal, auf den die zahlreichen, oft fanatischen Fans ihr Geld überweisen.

Einer, der bei dem Angriff auf das Kapitol ganz vorne dabei war, ist Anthime „Tim“ Gionet aka Baked Alaska, ein Rassist und Nationalist. Was Baked Alaska für ein Typ ist und wie sehr er durch das Internet beeinflusst ist, zeigen die letzten fünf Jahre in seinem Leben: Gionet hat früher für Buzzfeed geschrieben und war ein liberaler Mensch, der auch auf Black-Live-Matters-Demos unterwegs war. 2016 ist dann alles anders geworden. Er verbreitete antisemitische Verschwörungsmythen und ist tief in die rechtsextreme Szene eingetaucht, so war er auch als Tourmanager für den Rechtsextremen Milo Yiannopoulos tätig.

Bis 2019 hat er sich als rechter Streamer etabliert. Seitdem belästigt und bedroht er Leute und erreicht mit seinen Streams viele Zuschauer:innen, wobei er aber immer wieder vorgibt, seine Aussagen seien wahlweise nur ein Spaß oder er sei „gehirngewaschen“ gewesen. Gionets Fall zeigt, wie sehr Memes, also Internet-Insider, Teil der Ideologie sind. Im Stream während des Angriffs schrieben zum Beispiel viele Menschen in den szenetypischen Codes wie KEKW, einem positiven Ausruf. Gleichzeitig zeigt es, wie fragmentiert die Ideologie ist. Wenn Gionet während des Angriffs nach Marihuana fragt, widerspricht er damit Teilen der Ideologie von Leuten, die neben ihm stehen. Der Übergang vom Trolling, also der bewussten Verarschung der Menschen, und der rechtsextremen Agitation ist dabei oft fließend.

Trotzdem braucht die Ideologie Menschen wie Gionet. In ihren Videos muss es nicht immer nur um Ideologie oder Politik gehen. Trotzdem können und werden sie Fragmente der Ideologie immer wieder in ihre Aussagen einbinden und sei es nur als Verbreitung der Memes oder als Teil ihres vermeintlichen Trollings. Ihre Beiträge in den sozialen Netzwerken sind auch oft der Einstieg in die Verschwörungsmythen bei konservativen Bürger:innen, die sich als „Patrioten“ verstehen.

Die vermeintlichen Patrioten helfen beim Sturm

Beim Sturm auf das Kapitol haben aber nicht nur verkleidete Q-Leute, martialische Neonazis oder Streamer:innen mitgemacht. Es begann ja alles mit einer Demonstration vor dem Kapitol, an der zahlreiche Anhänger:innen Trumps teilnahmen. In Videos sieht man, wie die Demonstrant:innen euphorisch ins Kapitol stürmen, sich von der Masse unter „U-S-A“-Rufen mittragen lassen. Später erzählen die gleichen Menschen erschüttert, wie rabiat sie behandelt wurden. Etwa diese zwei Männer, die von Pfefferspray gezeichnet, immer noch behaupten, dass sie ihre verfassungsmäßigen Rechte in Anspruch genommen hätten. Eine Umfrage kurz nach dem Angriff auf das Kapitol zeigte, dass 45 Prozent der Trump-Anhänger glauben, der Angriff sei gut gewesen.

Viele von denen, das ist anzunehmen, waren noch nie in ihrem Leben auf 4chan oder einem anderen Imageboard. Sie sind das letzte Glied in der Ideologie-Kette, die Konsument:innen, die all die Fragmente über ihre Informationskanäle bekommen, von den Rechtsfluencern. Sie müssen gar nicht die ganze Breite der Verschwörungsmythen mitbekommen, es reichen kleine Happen, um sie zu radikalisieren und für so einen Angriff bereit zu machen. Es reicht, wenn die Funktionen der Ideologie „Fragen stellen“ und „Verbindungen ziehen“ wirken.

Dabei spielt Donald Trump selbst natürlich eine große Rolle. Es ist das eine, wenn ein Streamer behauptet, die Wahl wäre gestohlen. Wenn es der Präsident sagt, der seit Jahren immer wieder Lügen und ähnliche Erzählungen über ein korruptes System verbreitet, hat das einen besonders starken Einfluss. Trump legitimiert die Ideologie, indem er die Fragmente wiederholt und zum Teil seiner eigenen Erzählung macht.

Das ist auch etwas, dass die Internet-Ideologie so kompatibel mit Trump macht: Trumps Ausführungen sind interpretierbar, man kann nur Teile davon ernst nehmen oder als Teil einer Inszenierung verstehen. Alles nicht so ernst gemeint, Trump ist eben Trump, der wütet, aber am Ende passiert nichts. Oder am Ende hält ihn das demokratische System zurück. Genau wie die Rollenspieler:innen im Internet, die den Q-Mythos hervorgebracht haben, kann Trump sich deswegen immer auf diese Rolle zurückziehen.

Die Anhänger:innen, die am Mittwoch ins Kapitol eindrangen, tun das allerdings nicht. Für sie ist das, was Trump sagt, wahr. Und die verschiedenen Andeutungen und die Wiederholung von Fragmenten aus dem Q-Mythos ist Teil ihrer Realität geworden. Darum stürmten sie in bestem Glauben an ihre Ideologie das Kapitol.


Redaktion Rico Grimm, Schlussredaktion: Bent Freiwald, Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele