Donald Trump bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus im Jahr 2017 deutet mit zwei Fingern etwas Kleines an.

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Kommentar: Ein zu knappes Ergebnis

Sehen wir es ein: Rassismus, Klimaschutz und Gleichberechtigung entscheiden (noch) keine Wahlen.

Profilbild von Ein Kommentar von Rico Grimm

Es ist wunderbar, dass es eine Zeitlang so aussah, als könne Donald Trump das Weiße Haus verteidigen. Denn so können wir mit ein paar Ausflüchten aufräumen, die sich seine Gegner eingeredet haben, um seinen Erfolg zu erklären. Es waren nicht „die Russen“, es waren keine „Fake News“, keine Manipulation auf Facebook, mangelnde Bildung oder einfach nur schnöder Rassismus. Vor vier Jahren konnte all das gerade noch als Erklärung für Trumps Stärke gelten. Heute nicht mehr.

Niemand wusste es damals wirklich besser, auch wenn schon früh und schnell Zweifel an den Erklärungsversuchen aufkamen. Nun aber, nach vier Jahren Trump, ist aus den Zweifeln Gewissheit geworden. Jetzt wissen wir, dass der sexistische, rassistische, frauenverachtende Donald Trump mit seiner Politik Menschen überzeugt hat. Manche sagen, trotz seines Sexismus und Rassismus, andere sagen deswegen. Was aber in beiden Argumentationen immer noch mitschwingt: Dass Trumps Wahl 2016 irgendwie ein Unfall der Geschichte gewesen sein muss, dass die Leute sich schon besinnen würden.

Haben sie aber nicht, im Gegenteil.

Diese Wahl sprengt klassische Interpretationsmuster

2020 haben in absoluten Zahlen mehr Menschen Donald Trump gewählt als 2016, das steht jetzt schon fest. Menschen, denen die Wahl vor vier Jahren egal war, haben sich nun trotz all der Schwierigkeiten, die eine Wahl in der Pandemie mit sich bringt, entschlossen, Trump ihre Stimme zu geben. Ein Schluss liegt nahe, er ist so banal, aber noch nicht vollends angekommen in den Analysen, vor allem nicht in jenen hierzulande: Diese Menschen waren zufrieden mit Trump. Sie wollten vier weitere Jahre mit ihm.

Rassismus, Sexismus, Klimaschutz, der Umgang des Präsidenten mit der Corona-Pandemie waren nicht wahlentscheidend für diese Wähler:innen – obwohl das die Mega-Themen in den Nachrichten waren. Jedenfalls in den Nachrichten, die Linke beziehungsweise Liberale konsumieren.

Ein Beispiel aus Texas zeigt, wie sehr progressive Interpretationsmuster und damit auch die entsprechenden Wahlstrategien daneben liegen können: Während die mehrheitlich weißen Vorstädte sich gegen Trump entschieden haben, haben die Demokraten im Süden von Texas, dort, wo viele Menschen mit lateinamerikanischen Wurzeln wohnen, deutlich an Unterstützung verloren. In Zapata County, wo knapp 95 Prozent der Wähler Hispanics sind, hat zum ersten Mal seit mehr als 100 Jahren die Mehrheit einen Republikaner gewählt. In Florida ein ähnliches Bild: Konservative US-Kubaner in den Großstädten haben sich gegen den „Sozialismus“ von Joe Biden entschieden.

Im linken Weltbild ist das unmöglich. Wer Angehörige:r einer Minderheit ist, ist von Rassismus betroffen und wählt deswegen keinen Rassisten. Außer natürlich: Das Thema Rassismus ist ihm oder ihr einfach egal, sogar der Rassismus, der einem selbst widerfährt. Vielleicht ist ihm oder ihr wichtiger, weniger Steuern zu zahlen, eine Waffe tragen zu können oder wegen Corona-Lockdowns den Job nicht zu verlieren. Sowohl unter Latinos als auch unter Schwarzen konnte Trump seinen Stimmenanteil frühesten Umfragen zufolge steigern.

In Deutschland deutet sich schon an, dass Wahldynamiken auch hier viel komplexer sind, als viele glauben; ausgerechnet die CDU, die nicht als entschlossene Anti-Rassismus-Partei bekannt sein will, gewinnt in migrantischen Communitys an Stimmen dazu.

Man kann für Klimaschutz sein – und gegen Abtreibungen

Man kann es also für wichtig halten, dass die Erderhitzung gestoppt wird und alle Menschen die gleichen Chancen im Leben haben, aber im selben Moment auch gegen Abtreibungen sein. Politische Identitäten sind nicht eindimensional, sie schillern wie ein Kristall, und je nachdem, was am hellsten funkelt, so fällt die Wahl aus. Wem in den USA ein Ende von Abtreibungen am wichtigsten ist, der musste Donald Trump wählen. Joe Biden war schlicht keine Alternative.

Ironischerweise kennen deutsche Linke diese Dynamik sehr gut: Als Deutschland 2015 viele Geflüchtete aus anderen Ländern aufnahm, sahen überzeugte Rechte den Zusammenbruch des Landes, der Ordnung, ja der Zivilisation kommen – andere Menschen halfen dem neuen Nachbarn aus Syrien einfach beim Ankommen und lebten ihr Leben weiter. Der Zusammenbruch des Systems blieb aus. Rechte können bis heute nicht fassen, dass Zuwanderung nicht das Topthema für alle Menschen ist. „Sie ist doch so eine große Gefahr für unsere Gesellschaft und unsere Werte!“, rufen sie.

Wähler rechter Parteien sorgen sich auch um die Gesellschaft und die Gemeinschaft. Nur haben sie eben andere Vorstellungen davon, was eine gute Gesellschaft ausmacht. Jede Wahl ist eine Abstimmung über genau diese Frage, und wer eine Wahl verliert, hat diese Frage nicht für genügend Menschen zufriedenstellend beantwortet.

Die US-Wahl 2020 hat gezeigt, dass zwar viele Menschen Donald Trump ablehnen, aber nicht genügend eine progressive Agenda unterstützen, sonst hätten die Demokraten nicht mehrere Sitze im Repräsentantenhaus verloren und wären nicht daran gescheitert, den Senat zurückzuerobern (was immer noch möglich ist, aber nur sehr knapp). Progressive Politik besitzt keine stabile politische Mehrheit, auch wenn es in der eigenen Medienblase anders wirken mag.

Im Bundesstaat Maine gab es ein paradoxes Ergebnis: Die Mehrheit der Wähler stimmte für Biden, aber gleichzeitig auch gegen die demokratische Kandidatin für den Senat. Sieht so der erhoffte Erdrutschsieg aus?

Wer die Agenda setzen kann, gewinnt

Schnell kreisten nach der Wahl die ersten Analysen auf Twitter: Der Fokus der Demokraten auf „Identitätspolitik“, also das ständige Sprechen über Minderheiten und ihre jeweiligen Diskriminierungen, sei der Grund dafür, dass die progressiven Kräfte nie Wahlen wirklich gewinnen würden.

Vermutlich ist diese Analyse falsch und richtig zugleich. Sie ist offensichtlich falsch, weil etwa Rassismus als Thema für Biden-Wähler extrem wichtig war. Wie hätte Biden diese Wahl gewinnen können, ohne über Rassismus zu sprechen? Der Bundesstaat Georgia ging vermutlich nur an ihn, weil dort mit Stacey Abrams eine Politikerin seit mehr als einem Jahrzehnt hart daran arbeitet, die schwarze Bevölkerung des Staates an die Urnen zu kriegen – trotz der Versuche von Republikanern, gerade schwarze Stimmen zu unterdrücken.

Die These von der fehlgeleiteten „Identitätspolitik“ ist aber vermutlich auch richtig, weil kein Politiker glaubhaft alle Themen bespielen kann und manche Themen auch Wähler verschrecken. Widmet ein Präsidentschaftskandidat seine Zeit einem bestimmten Thema, ist das ein Signal: Dieses Thema ist mir wichtiger als andere Themen.

Und die Menschen haben längst begriffen, dass in unserer Mediengesellschaft nur das wirklich angegangen wird, was öffentliche Aufmerksamkeit bekommt. Es brauchte Fridays for Future, um Klimaschutz endgültig als politisches Thema zu verankern – auch in den FDP- und CDU-Milieus. Es brauchte Black Lives Matter, um eine Debatte über die deutsche Polizei anzustoßen.

Wenn also die progressiven Kräfte Identitätspolitik immer wieder betonen, mobilisieren sie ihre eigenen Leute, verbreitern sogar ihre Wahlbasis, erreichen aber nicht diejenigen, denen diese Themen egal sind. Und das könnte eine erste wichtige Lehre aus der US-Wahl sein, die die Zeit überdauern wird: Wer die Menschen davon überzeugt, dass die eigenen Schwerpunkte wichtiger sind als die der anderen, gewinnt Wahlen. Konzepte selbst sind zweitrangig.

Der Reality-TV-Star Donald Trump hatte das schon 2015 begriffen, früher als alle Linken und Progressiven Amerikas zusammen. Er konnte dauertwitternd und mit seinen Mega-Maga-Rallys an der ganzen Konkurrenz vorbei ins Weiße Haus ziehen, weil er den wertvollsten Platz der Welt besetzt hielt – die Aufmerksamkeit der Menschen. Wenigstens den können wir alle nun freiräumen für Wichtigeres.


Redaktion: Esther Göbel; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Till Rimmele