Wenige Tage vor der Wahl drehen alle die Schrauben an und besonders die Demokraten zittern nach der Schockniederlage von 2016 dem 3. November entgegen. Zur Sorge, ob ihr Kandidat gewinnt, kommt die Frage hinzu, ob Donald Trump in den vergangenen vier Jahren wichtige US-Institutionen so ausgehöhlt hat, dass sie ihn im Falle einer Niederlage trotzdem treu unterstützen würden. Immer wieder hat der Präsident damit geflirtet, die Ergebnisse möglicherweise nicht zu akzeptieren oder ohne jeden Beleg erklärt, dass Briefwahl skandalös fehleranfällig sei.
Bei vielen Beobachter:innen hat das eine Angst genährt, die vor wenigen Wochen New-York-Times-Kommentator Ross Douthat mit einer einfachen Feststellung zerstört hat: „Unser schwacher, pöbelnder, Covid-infizierter Chef ist nicht dabei, einen Coup zu konzipieren. So etwas wie ‚ein Konzept‘ erfordert Fähigkeiten, die ihm sichtbar fehlen.“ Anders gesagt: Trump ist nicht gerade als der Fleißigste bekannt – und so ein Staatsstreich, das ist ja auch viel Arbeit.
Douthat aber macht auch klar, dass häufig so getan werde, als gebe es nach der Wahl nur zwei Möglichkeiten: Erwartbare Langeweile und maximales Chaos. Zwischen einer entspannt geordneten und friedlichen Übergabe der Macht auf der einen Seite und dem Horrorszenario Bürgerkrieg auf der anderen Seite existieren aber viele Abstufungen. Sollte am Wahlabend nicht doch schon überraschend ein Kandidat vorne liegen und zum Sieger ausgerufen werden, dann kommt es entschieden darauf an, wie andere Gruppen rund um den Präsidenten reagieren. Sechs von ihnen sind besonders wichtig.
Gruppe 1: Rufen Auszählende für entscheidende Bundesstaaten früh einen Sieger aus?
Im Jahr 2000 hatten die Medien vorschnell George W. Bush als Sieger in Florida ausgerufen und mussten dann zurückrudern. Dieses Jahr hat Donald Trump mit vielen Kommentaren klargestellt, dass er viele Stimmen anzweifeln will. Für die Journalist:innen, die in den Redaktionen in eigens dafür eingerichteten Teams die Daten zusammenfahren, auswerten und einen Sieger ausrufen, ist die Strategie klar: Riesenvorsicht!
Schon jetzt sagen viele von ihnen, dass sie wenig auf die Nachwahlbefragungen („Exit Polls“) achten wollen und stattdessen auf die konkreten Ergebnisse warten.
Als Goldstandard gilt die Nachrichtenagentur Associated Press (AP), die mit über 4.000 Helfer:innen im Land in der Nacht schnell die Ergebnisse einzelner Wahlbüros zentral erfasst. Die Auszählung von Wahlen ist in den USA Sache der Bundesstaaten, es gibt keine landesweit einheitlichen Regeln und auch keine zentrale Bundeswahlleitung, bei der alles zusammenläuft und so ist AP eine der wichtigsten Datenquellen. Der hauseigene „Decision Desk“ wertet die Zahlen aus und entscheidet angesichts früherer Wahlen, ob mit genug Sicherheit ein Sieger ausgerufen werden kann, selbst wenn noch nicht alle Wahlbüros gemeldet haben oder alle Stimmen ausgezählt sind. Eine Handvoll großer Sender beschäftigt ähnliche Decision Desks und entscheidet selbst über sogenannte Projections, also die Meldungen, dass ein Staat sicher an den einen oder den anderen Kandidaten geht.
Weil in diesem Jahr so viel auf dem Spiel steht und die Unsicherheiten wegen der Corona-Pandemie und der vielen Briefwahlstimmen so groß sind, gehen viele davon aus, dass die Projektionen vorsichtiger sein werden. Das heißt für die Zuschauer:innen: Sollte ein in Umfragen knapper Staat wie beispielsweise Florida doch früh ausgerufen werden, dann ist das ein wichtiges Zeichen dafür, dass der jeweilige Kandidat gut im Rennen liegt. Sollte Biden dort oder in den eigentlich eher republikanischen Staaten Ohio, Iowa und North Carolina noch am Abend als Sieger feststehen, wäre das ein extrem gutes Signal für ihn. Trump dagegen dürfte kaum ohne jene Staaten gewinnen können, die länger für die Auszählung brauchen: Pennsylvania, Michigan und Wisconsin.
Aber: Einige Bundesstaaten erlauben noch einen Posteingang von Briefwahlstimmen bis mehrere Tage nach der Wahl. Sollten die Abstände in der Nacht angesichts von zuvor verschickten, aber noch ausstehenden Briefwahlstimmen zu klein sein, könnte in manchen Staaten tage- oder vielleicht wochenlang kein Sieger feststehen.
Auskenner-Spruch für die Wahlnacht: „Es gibt viele andere Wege zum Sieg, aber wenn Florida noch in der Wahlnacht an Biden geht, dann ist es so gut wie vorbei.“
Gruppe 2: Berichten Medien rund um den Wahlabend entlang der tatsächlichen Auszählung oder lassen sie kommentieren?
Seitdem sich vor einigen Monaten langsam abzeichnete, wie chaotisch die Wahl durch die Corona-Pandemie werden dürfte, betreiben weite Teile der seriösen US-Medien Erwartungsmanagement. Sie beschreiben, wie stark die Zahlen der per Briefwahl oder zuvor in den Wahlbüros abgegebenen Stimmen steigen und verweisen dazu beispielsweise auf den Zähler vom Election Project, wonach bereits eine Woche vor der Wahl mehr als halb so viele Stimmen abgegeben sind, wie 2016 am Ende.
Die Medien erklären auch unermüdlich das komplizierte Auszählungsverfahren von Briefwahlstimmen (auch ich hatte das komplexe System im ersten Teil der Serie erläutert). Sie dämpfen damit die Erwartungshaltung, dass schon wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale zwingend ein Ergebnis feststeht. Die Berichterstattung hatte außerdem zur Folge, dass mancherorts doch noch einmal die Zahl der freiwilligen Helfer aufgestockt wurde.
Dieses Problembewusstsein verhindert möglicherweise in der entscheidenden Nacht das Schlimmste, weil mehr Menschen klar ist, dass es schlicht dauern kann, bis die Ergebnisse wirklich feststehen – egal, wie laut Donald Trumps Tweets dazu sind.
Zuschauer:innen und Leser:innen können darauf achten, ob ihre Medien klar die Fakten präsentieren oder ob sie zu viele Stimmen der Lager zu Wort kommen lassen, die versuchen, ein vorzeitiges Ende der Zählung zu rechtfertigen.
Auskenner-Spruch: „Wenn ich noch einmal sehen muss, wie Newt Gingrich/Rudy Giuliani/Jim Jordan/Lindsey Graham verlangen, dass die Auszählung gestoppt wird, dann raste ich aus.“
Gruppe 3: Stellen sich andere Spitzen-Republikaner:innen gegen mögliche Drängel-Tweets von Trump?
Bei der Antwort auf die Frage, ob es nach der Wahl politisch und auf den Straßen in den USA brenzlig wird, hilft auch ein Blick auf die republikanische Partei. Die ist zwar oft als Präsidenten-Wahlverein verschrien und oft stimmt das auch, aber es gibt eben doch Abstufungen. Als Trump im Frühjahr kurz öffentlich darüber nachdachte, doch wegen Corona die Wahl zu verschieben, hat ihn der Mehrheitsführer im Senat, Mitch McConnell, schnell eingefangen und gesagt, dass dies ganz sicher nicht passieren werde – manche Grenzen bestehen also doch.
Ein solcher Widerstand muss nicht unbedingt von höchster Stelle kommen. Auch republikanische Bürgermeister mancher Städte haben bereits erklärt, dass für sie die Auszählung wirklich jeder Stimme eine höhere Priorität besitzt, als vorschnell einen Sieger auszurufen. Sie könnten für die Demokraten wichtige Partner werden.
Auskenner-Spruch: „Ich atme erst auf, wenn Mitch McConnell Joe Biden zum Sieg gratuliert hat.“
Gruppe 4: Stoppen Richter:innen vorzeitig die Auszählung aller Stimmen?
Schon jetzt beschäftigt die US-Wahl die Gerichte. Beispielsweise wird in Pennsylvania und Wisconsin darüber gestritten, wie viele Tage nach der Wahl die Behörden noch auf Briefwahlstimmen mit Poststempel bis zum 3. November warten müssen. Es gibt Szenarien, in denen das Ergebnis in manchen Staaten so eng sein könnte, dass erst diese zuletzt eingehenden Stimmen den Ausschlag geben – und dass ein:e Richter:in, die entscheidet, ob sie gezählt werden dürfen, damit zum Zünglein an der Waage wird.
Laut einer NPR-Zählung sind aktuell über 200 Gerichtsverfahren anhängig, aber das ist nicht unbedingt neu und oft auch nicht entscheidend. In den allermeisten Staaten und bei den allermeisten Wahlen der Vergangenheit sind das theoretische Fragen geblieben, aber viele erinnern sich noch daran, wie letztlich im Jahr 2000 der Oberste Gerichtshof die Auszählung gestoppt hat.
Es gibt allerdings einen feststehenden Termin: Bis 8. Dezember müssen alle Staaten jeden Streit um ein Ergebnis beigelegt haben, am 14. Dezember entscheiden die Wahlleute in den einzelnen Staaten über den Präsidenten. Ähnlich der deutschen Bundesversammlung sind das Parteigrößen oder manchmal auch Prominente, die der Weisung der Wähler:innen folgen, allerdings nicht zwingend daran gebunden sind. Sie treffen sich nicht an einem Ort, sondern entscheiden in den Staaten. Das Prozedere beschreibt das Meinungsforschungsinstitut Pew Research im Detail.
Auskenner-Spruch: „So ein Gerichtsstreit macht die Leute mürbe. 2000 haben 80 Prozent der Befragten dann nach Wochen auch einfach akzeptiert, was der Supreme Court entschieden hatte, einfach um ihre Ruhe zu haben.“
Gruppe 5: Stellt sich das Militär doch öffentlich auf die Seite von Donald Trump?
In düsteren Szenarien nach dem Wahltag ist davon die Rede, dass Militär auf den Straßen die Sicherheit regelt und Donald Trump die Macht sichert. Auch dafür gibt es bisher allerdings maximal widersprüchliche Zeichen, in der Regel haben sich wichtige Militärgrößen deutlich gegen Trumps allzu offensive Machtansprüche positioniert.
Doch auch in der Breite genießt er weniger Unterstützung als frühere Präsidenten, Umfragen dazu hat unter anderem das Magazin Foreign Policy zusammengefasst. Besonders Trumps Kommentare, dass viele Soldat:innen „Loser“ seien, haben ihn Sympathien in dieser Community gekostet. Öffentlich gab es eine Wahlempfehlung von fast 500 hochrangigen Militärs für Joe Biden, mehr dazu hat die Zeitung USA Today.
Auskenner-Spruch: „Solange es öffentlich ranghohe aktive Militärs gibt, die sich über Trump beschweren, gibt es noch keinen kompletten Grund, durchzudrehen.“
Gruppe 6: Wie entschieden wählt und protestiert die breite Bevölkerung?
Dieser Absatz trickst ein wenig, denn Wähler:innen, die Menschen auf den Straßen, die breite Bevölkerung: Das sind ja letztlich alle. Die Zivilgesellschaft bietet aber zwei extrem wichtige Anhaltspunkte: Zum einen hat sie sich seit der Wahl einander versichert mit teils Millionen Menschen auf den Straßen, sei es beim Women’s March oder in diesem Jahr bei der Bewegung Black Lives Matter. Ihr Protest und ihre Freiwilligenarbeit verändert das Zusammenleben im Land oft etwas weniger sichtbar, aber in vielen Einzelfällen genauso entscheidend.
Zum anderen steht und fällt die Reaktion auf die US-Wahl mit dem Ergebnis. Sollte es einen klaren Sieg Joe Bidens geben, möglicherweise sogar bundesweit im zweistelligen Prozentbereich, dann würde dem Protest Trumps eindeutig die Legitimation genommen – auch wenn seine Hardcore-Anhänger weiter in den Abgrund schreien. Erst bei knappen Ergebnissen werden viele der hier beschriebenen Szenarien wahrscheinlicher.
Auskenner-Spruch: „Alle haben riesige Angst wegen 2016 und weil Trump so eine Krawall-Gabi ist – aber je deutlicher die Wahl ausfällt, desto mehr fehlt ihm die Legitimation. Viele Menschen sind ja auch einfach müde.”
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Martin Gommel