Wir sehen einen jüdischen Jungen mit Kippa vor Blumen und Kerzen stehen.

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Halle-Anschlag: Die Politik hat viel versprochen, wir haben es überprüft

Vor einem Jahr wollte ein Rechtsextremist eine Synagoge in Halle stürmen. Er scheiterte, tötete aber trotzdem zwei Menschen. Nach dem Anschlag versprachen Politiker:innen mehr Geld, Personal und Gesetze, um Jüdinnen und Juden in Deutschland besser zu schützen. Tatsächlich hat sich etwas verändert.

Profilbild von von Belinda Grasnick und Tarek Barkouni

Vor einem Jahr verhinderte eine Eichentür noch viel mehr Tote bei dem wohl größten geplanten Anschlag auf Jüdinnen und Juden in der Geschichte der Bundesrepublik. Am 9. Oktober 2019 versuchte ein Neonazi in die Synagoge von Halle an der Saale einzudringen, in der gerade 52 Menschen Jom Kippur feierten – den höchsten jüdischen Feiertag. Er hatte mehrere selbstgebastelte Waffen und Sprengstoff dabei. Keine Polizeistreife hinderte ihn, denn es war keine da. Direkt vor der Synagoge erschoss er eine Passantin und ein paar hundert Meter weiter einen Gast in einem Dönerimbiss. 40 Kilometer von Halle entfernt nahm die Polizei ihn fest. Seit dem 21. Juli steht er in Magdeburg vor Gericht.

Einen Tag nach der Tat sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: „Ich bin die dumpfe Verachtung leid, die kaum verhohlene Bereitschaft zu Gewalt, das offene Schüren von Hass gegen Minderheiten, gegen demokratische Institutionen in unserem Land. Ich bin es leid, dass Rechtsextremismus offen das Wort geredet wird und diese Borniertheit klammheimliche Zustimmung findet.“ Es gab Mahnwachen, Blumen, öffentliche Trauer.

Eine Woche nach dem Anschlag schrieb der Autor Richard Schneider, der Deutschland wegen wachsendem Antisemitismus nach Israel verlassen hatte, bei Zeit Online von „diesen lächerlichen Mahnwachen vor Synagogen“. Schneider ist die Wut anzumerken:

„Wir Juden kennen das alles doch schon. So war es immer in der Bundesrepublik. Es geschieht etwas, alle sind betroffen, ein paar Menschenketten, bei denen sich alle wohlfühlen können, alle versprechen, es werde ‚nun wirklich‘ etwas getan – und dann geschieht wieder nichts.“

Am ersten Jahrestag des Anschlags in Halle, nach einem Jahr, in dem ein Nazi einen Anschlag auf Migrant:innen in Hanau verübte, ein ehemaliger Sprecher einer Bundestagspartei vom „Vergasen“ von Migrant:innen sprach, fünf Tage, nachdem ein jüdischer Student vor einer Synagoge mit einer Schaufel lebensgefährlich verletzt wurde, fragen wir:

Ist wieder nichts geschehen?

Politiker:innen und Behörden haben im Oktober 2019 viele Versprechen gemacht: mehr Wachschutz. Neue Straftatbestände. Mehr Personal. Am 19. Oktober legten die Innenminister:innen von Bund und Ländern einen Zehn-Punkte-Plan vor. Darin versprachen sie vor allem drei Dinge:

  1. besseren Schutz von jüdischen Einrichtungen
  2. mehr Geld für den Kampf gegen Rechtextremismus
  3. schärfere Gesetze

Haben Politiker:innen und Behörden ihre Versprechen gehalten? Wir haben bei den 16 Innenministerien der Länder, dem Bundesinnenministerium und dem Bundesamt für Verfassungsschutz nachgefragt.

Forderung #1: Besserer Schutz von jüdischen Einrichtungen

Synagogen, jüdische Schulen und andere jüdische Einrichtungen müssen in Deutschland geschützt werden: die Mauern vor Hakenkreuzschmierereien und Farbbeuteln, die Besucher:innen vor körperlicher Gewalt. Vor der Synagoge in Halle stand kein Polizist, anders als in anderen Großstädten. Bund und Länder haben deswegen versprochen, jüdische Gebäude besser zu schützen – mit Polizisten und schusssicheren Türen, Zäunen oder Schleusen am Eingang.

Sind jüdische Einrichtungen jetzt sicherer?

Die gute Nachricht zuerst: Fast alle Bundesländer geben heute mehr Geld für den Schutz jüdischer Einrichtungen aus als im vergangenen Jahr. Die Bundesregierung hat dafür 22 Millionen Euro zur Verfügung gestellt, die Bundesländer jeweils noch einmal weitere Beträge. Bayern hat insgesamt acht Millionen Euro in Aussicht gestellt, von denen schon 5,9 Millionen Euro freigegeben wurden. In Niedersachsen bekommen jüdische Interessenvertretungen im Jahr 2020 ungefähr sieben Millionen Euro. Andere Bundesländer sind nicht so konkret mit Angaben, mehr Schutz aber wollen alle bieten. Eine genaue Übersicht über die Maßnahmen des Bundes und der einzelnen Bundesländer haben wir in dieser Tabelle zusammengestellt.

Aber heißt mehr Geld auch mehr Schutz? Wie die Schutzmaßnahmen genau aussehen, halten die Innenministerien auch auf Anfrage meist geheim. Der Grund: Angreifer:innen könnten sich sonst besser vorbereiten. Wir können also nicht genau sagen, ob es jetzt mehr Wachschutz vor Synagogen gibt oder ob die Sicherheitstechnik besser ist. Aber: Die Zusammenarbeit zwischen jüdischen Gemeinden und der Polizei hat sich verbessert, berichtet der Mediendienst Integration. Der Dienst hat die Landesverbände des Zentralrats der Juden gefragt, ob sie die Sicherheitsmaßnahmen für angemessen halten. Das Ergebnis: Einige sagen ja, einige können es nicht einschätzen.

Forderung #2: Mehr Geld und Personal für Sicherheitsbehörden

Im Dezember 2019 beschloss die Innenministerkonferenz mehrere Maßnahmen, um Rechtsextremismus zu bekämpfen: Mehr Personal für Polizei und Verfassungsschutz, eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Ländern und eine bessere Verfolgung von Hassrede im Internet.

Was davon haben die Innenministerien umgesetzt?

Mehr Personal: Für das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz hat die Bundesregierung jeweils 300 zusätzliche Stellen geschaffen. Auch die Bundesländer haben mehr Beamt:innen eingestellt – allerdings in sehr unterschiedlichem Umfang und mit verschiedenen Zielen. Manche Stellen sind nicht explizit für den Schutz jüdischen Lebens bestimmt, andere Behörden hatten auch vor Halle schon mehr Stellen geplant. In Baden-Württemberg gibt es ein Sonderprogramm im Bereich Rechtsextremismus mit 30 neuen Stellen bei der Polizei und 25 beim Landesamt für Verfassungsschutz im Jahr 2020. Niedersachsen hat dagegen 2018 und 2019 zwar 50 neue Stellen geschaffen, aber diese sollen nur unter anderem „die Arbeit in den Phänomenbereichen Rechtsextremismus, Linksextremismus und islamistischer Extremismus aus verschiedensten Ansätzen unterstützen und fördern.“ Details zu den neuen Stellen in den anderen Bundesländern findest du in unserer Recherchetabelle.

Bessere Verfolgung von Hassrede: Der Täter von Halle hatte sich im Internet radikalisiert, er hat die Tat auf dem Live-Streaming-Videoportal Twitch gestreamt und sich sehr stark einer Computerspielästhetik bedient. Zeitweise wollte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) deswegen die Gamingszene stärker überwachen. Um solche Entwicklungen und Hassrede im Internet besser verfolgen zu können, hat das Bundeskriminalamt eine Abteilung „Cybercrime“ eingerichtet. Die Bundesländer haben ebenfalls ihren Einsatz im Netz verstärkt. Brandenburg hat zum Beispiel ein eigenes Referat zur Bekämpfung von „Cyberextremismus“ beim Landesamt für Verfassungsschutz, das sich insbesondere rechtsextremen Inhalten im Netz widmet. In Schleswig-Holstein ist ebenfalls eine Einheit aktiv, die extremistische Aktivitäten im Internet behandelt. Die Maßnahmen der anderen Bundesländer kannst du auch in unserer Tabelle nachlesen.

Zusammenarbeit von Bund und Ländern: Außerdem gibt es inzwischen beim Bundesamt für Verfassungsschutz eine Zentralstelle für rechtsextremistische Umtriebe im öffentlichen Dienst. Dort sollen Verdachtsfälle bei Behörden bundesweit erfasst werden, um sie länderübergreifend aufklären zu können. Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) hat am Dienstag einen Lagebericht über Rechtsextremisten in Sicherheitsbehörden vorgestellt. Der Bericht zählt 319 Rechtsextremismus-Verdachtsfälle. Aber darin steht auch: „Auch wenn die absoluten Zahlen dieser Verfehlungen in Relation zur Gesamtzahl der Beschäftigten bei den Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern gering sind, ist grundsätzlich von einem Dunkelfeld auszugehen.“

Forderung #3: Schärfere Gesetze

Der Attentäter von Halle hatte mehrere Schusswaffen selbst gebaut und wohl eine weitere im Internet gekauft. Politiker:innen haben nach dem Anschlag von Halle Gesetzesverschärfungen gefordert, und zwar beim Waffengesetz und bei Hassrede im Netz.

Im Dezember 2019 hat der Bundestag ein neues Waffengesetz verabschiedet, das die europäische Feuerwaffenrichtlinie umsetzt. Es soll damit schwieriger werden, Schusswaffen für terroristische und kriminelle Zwecke zu missbrauchen. Die Waffen sollen besser gekennzeichnet und dokumentiert werden. Trotzdem wächst die Zahl der Waffenscheine in Deutschland immer noch. Außerdem zirkulieren über 33.000 Waffen, von denen die Behörden nicht wissen, wo sie sind.

Um im Netz besser agieren zu können, hat Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) außerdem gefordert, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz zu verschärfen. Eigentlich sollen Anbieter von Internetleistungen damit Daten an das Bundeskriminalamt weiterleiten, wenn sie Straftaten und Hasskriminalität auf ihren Seiten feststellen. Der Gesetzentwurf hat das Parlament bereits durchlaufen, der Bundespräsident hat es aber noch nicht unterschrieben – wegen verfassungsrechtlicher Bedenken. Internetdienstleister und Behörden dürften den Datenschutz nicht umgehen.

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, setzt sich zusätzlich dafür ein, dass das Parlament Antisemitismus als Straftatbestand ins Strafgesetzbuch aufnimmt. Es gibt dazu schon einen Gesetzentwurf, der allerdings noch nicht verabschiedet wurde.

Außerdem hat Bundesinnenminister Horst Seehofer seit vergangenem Jahr zwei rechtsextreme und einen Reichsbürger-Verein verboten. Auch in Bremen wurde eine rechtsextremistische Gruppierung verboten. Eine Übersicht darüber findest du in unserer Tabelle.

Die Behörden haben viele ihrer Versprechen erfüllt – aber reicht das?

Politiker:innen, Ministerien und Behörden haben vieles von dem umgesetzt, was sie versprochen haben – in einigen Bundesländern mehr, in anderen weniger. Sie haben Geld für den Schutz von jüdischen Einrichtungen zur Verfügung gestellt und neue Stellen bei der Polizei und beim Verfassungsschutz zur Bekämpfung von Rechtsextremismus geschaffen. Der Bundestag hat das Waffengesetz verschärft. Die Gesetzesvorhaben gegen Hassrede im Internet und für Antisemitismus als Straftatbestand stehen noch aus.

Die Frage ist: Ändert das etwas am Sicherheitsempfinden? Wir haben bei Shai Hoffmann nachgefragt. Hoffmann schrieb vor einem Jahr bei Krautreporter, dass wir alle gemeinsam für eine offene und tolerante Gesellschaft kämpfen müssen, damit sich Jüdinnen und Juden in Deutschland sicher fühlen können. Sein Fazit nach einem Jahr: „Ich bin ein bisschen ernüchtert. Von dem, was in Halle passiert ist und was in Hamburg passiert ist. Ein Jahr Unterschied, verändert hat sich so richtig nichts.“

Dass in den vergangenen Monaten immer wieder rechtsextreme Aussagen in Chatgruppen von Sicherheitsbehörden enthüllt wurden, findet Hoffmann bedenklich. Hakenkreuzbilder und Fantasien von vergasten Flüchtlingen in Polizeichats zeigten immer deutlicher, wie einige der Menschen denken, die Jüdinnen und Juden und andere Minderheiten beschützen sollen. Hoffmann vermisst, dass die Behörden sich und ihre strukturellen Probleme hinterfragen – besonders auch Bundesinnenminister Horst Seehofer.

Das Sicherheitsempfinden von Jüdinnen und Juden wird in Deutschland aber auch von Politiker:innen beeinflusst, findet Hoffmann. Die AfD mache mit Äußerungen Holocaustverharmlosungen wieder möglich. Er erinnert an den inzwischen entlassenen Fraktionssprecher Christian Lüth, der in einer Fernsehdokumentation gesagt hatte, dass es gut für die AfD sei, wenn noch mehr Migrant:innen nach Deutschland kämen – und hinzufügte: „Wir können die nachher immer noch alle erschießen. Das ist überhaupt kein Thema. Oder vergasen, oder wie du willst. Mir egal!“

Nach unserer Recherche können wir sagen: Ein Jahr nach Halle gibt es mehr Geld, mehr Polizeikräfte und genauere Gesetze. Aber jeder weitere Anschlag, jede antisemitische Schmiererei und jeder Hasspost im Internet zeigt: Der Antisemitismus gehört zu Deutschland. Auch wenn das niemals ein:e Bundespräsident:in in einer Rede sagen würde.


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Martin Gommel.