Frankfurt und Berlin verhängen Sperrstunden. Urlauber:innen aus drei Berliner Bezirken müssen in Schleswig-Holstein zwei Wochen in Quarantäne. In Berlin und Brandenburg gibt es eine Maskenpflicht für Büroräume. Die Corona-Verordnungen greifen stark in unser Alltagsleben ein – und sie wirken zum Teil absurd. Ob diese Einschränkungen sinnvoll sind, darüber lässt sich streiten.
Nachdem die Bundes- und Landesregierungen im Frühjahr 2020 strenge Kontaktbeschränkungen durchgesetzt haben, stellt sich aber auch immer wieder die Frage: Ist dieses Vorgehen eigentlich demokratisch? Natürlich ist die Coronakrise eine Ausnahmesituation. Natürlich können wir in den Vereinigten Staaten oder in Brasilien sehen, wie dramatisch eine Pandemie verlaufen kann, wenn Politiker:innen zu langsam sind. Aber können Regierungen einfach so Grundrechte einschränken?
Das Parlament macht die Gesetze, die Regierung führt sie aus
Um zu verstehen, wie die Bundes- und Landesregierungen in Coronazeiten handeln, müssen wir gleich zu Beginn zwei Dinge unterscheiden: Gesetze und Verordnungen. Das Parlament verabschiedet Gesetze. Die Regierung führt sie aus – und kann in manchen Fällen Verordnungen erlassen, um die Gesetze konkreter realisieren zu können. Diese Verordnungen kann sie aber nur dann erlassen, wenn sie vom Parlament dazu ermächtigt wurde.
Nehmen wir mal ein einfacheres Beispiel als die Corona-Verordnungen. Im Mai 2002 hat der Bundestag das Behindertengleichstellungsgesetz beschlossen. Dinge des täglichen Lebens sollen für alle Menschen barrierefrei nutzbar sein: öffentliche Gebäude, Verkehrsmittel, das Internet. Nun kann der Bundestag nicht für jede einzelne Einrichtung genau festlegen, wie die Barrierefreiheit aussehen soll. Deshalb machen das die Verwaltungen des Bundes, der Bundesländer und der Kommunen selbst – per Verordnung.
Das hat zwei Vorteile: Es ist so leichter, Rampen und Fahrstühle zu bauen, Texte im Internet besser lesbar zu machen und dabei auch einzelne Besonderheiten zu berücksichtigen. Außerdem erleichtert es die Arbeit der Parlamente, weil sie nicht alles bis in kleinste Detail einkalkulieren müssen.
Die Exekutive, also Regierungen und Verwaltungen, können Verordnungen nur auf der Grundlage eines Gesetzes erlassen. Das Gesetz legt dabei auch genau den Rahmen fest, in dem sich die Verordnungen bewegen dürfen, es begrenzt die möglichen Einschränkungen durch Verordnungen.
Wie genau funktioniert das während der Pandemie?
Für die Corona-Maßnahmen ist das Infektionsschutzgesetz entscheidend. Seit März gibt es Gesundheitsämtern und dem Bundesgesundheitsministerium besondere Befugnisse, um schneller handeln, die Grundversorgung mit Arzneimitteln sichern und das Personal im Gesundheitswesen stärken zu können. Gleichzeitig schreibt das Infektionsschutzgesetz fest, dass die Regierungen dafür einige Grundrechte einschränken dürfen: die Freiheit der Person, die Versammlungsfreiheit, die Freizügigkeit und die Unverletzlichkeit der Wohnung. Andere Grundrechte z.B. die Pressefreiheit oder das Briefgeheimnis kann die Regierung aber nicht einschränken. Auch das schreibt das Gesetz genau fest.
Aber auch wenn einige Grundrechte quasi durchweg geschützt werden, auch in einer Pandemie, ist das demokratietheoretische Problem noch nicht gelöst: dass die Regierung theoretisch dauerhaft Macht an sich reißen könnte, die ihr nicht zusteht. Deswegen sind diese Befugnisse befristet. Der Bundestag hat am 25. März 2020 offiziell eine „epidemische Lage nationaler Tragweite“ festgestellt. Diese Lage gilt bis der Bundestag etwas anderes feststellt, oder bis zum 31. März 2021. Das letzte Wort bei diesen Grundrechtseinschränkungen hat also das Parlament.
Die Fraktionen FDP und AfD sind seit Juni der Auffassung, dass der Bundestag die „epidemische Lage“ aufheben kann. Sie argumentieren, dass es an einzelnen Orten innerhalb Deutschlands zwar weiterhin zu Ausbrüchen komme, das ganze Land aber das Infektionsgeschehen halbwegs im Griff habe. Aus Sicht der zwei Oppositionsparteien sollten deshalb Entscheidungen vor Ort getroffen werden, aber nicht mehr auf ganz Deutschland oder ein ganzes Bundesland bezogen.
Gerichte überprüfen die Arbeit der Regierung und des Parlaments
In den entsprechenden Anhörungen haben Mediziner:innen, Wissenschaftler:innen und ein Rechtsexperte argumentiert: Es ist zu früh. Am Ende stimmten AfD und FDP für den Antrag der FDP, SPD und CDU dagegen, Grüne und Linke enthielten sich. Fazit: Die „epidemische Lage“ bleibt erst einmal bestehen. Die Grünen hatten in einem zweiten Antrag außerdem gefordert, einen Pandemierat einzusetzen. Dort sollten neben Naturwissenschaftler:innen auch Expert:innen aus anderen Bereichen sitzen, zum Beispiel aus Soziologie und Psychologie. Auch diesen Antrag hat der Bundestag abgelehnt.
All das zeigt: Der Bundestag schaut der Regierung nicht schweigend beim Regieren zu. Das Parlament trifft je nach Lage auch Entscheidungen darüber, wie viele Kompetenzen die Minister:innen haben sollten – zum Beispiel dass das Gesundheitsministerium Verordnungen zur Grundversorgung mit Arzneimitteln erlassen kann. Ähnlich ist es auch in den einzelnen Landtagen, wo die Entscheidungen der Landesregierungen überprüft werden. In Nordrhein-Westfalen muss der Landtag alle zwei Monate erneut eine „epidemische Lage von landesweiter Tragweite“ feststellen. Diese Lage ist Anfang Juni deshalb einfach ausgelaufen. Deshalb darf medizinisches Personal in dem Bundesland jetzt zum Beispiel nicht mehr zwangsverpflichtet werden. Andere Regelungen wie Abstandsregeln oder eine Maskenpflicht in bestimmten Situationen gelten aber weiterhin.
Neben den Parlamenten überprüfen auch Gerichte die Arbeit der Regierungen. Es gab schon eine ganze Reihe von Eilanträgen vor Gericht. Das Verwaltungsgericht München entschied zum Beispiel, dass Ausgangsbeschränkungen in Bayern im März nicht rechtmäßig waren. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat geurteilt, dass Auslandsrückkehrer:innen nicht zur 14-tägigen häuslichen Quarantäne verpflichtet werden dürfen. Das Berliner Verwaltungsgericht hat das Verbot der „Querdenken“-Großdemonstration am 29. August zurückgenommen.
Allerdings: Die meisten Eilanträge gegen die strengen Corona-Maßnahmen im Frühjahr sind gescheitert. Wenn die Gerichte zwischen einer Gefahr für das Leben und persönlichen Freiheitsbeschränkungen abwägen, wiegt das Leben meistens schwerer. Das Bundesverfassungsgericht hat aber auch klargestellt: Ausschlaggebend dafür ist, dass die Regelungen befristet sind.
Auch Bürger:innen kontrollieren das Regierungshandeln
Heribert Prantl, Autor der Süddeutschen Zeitung schrieb in einem Kommentar im April: „Es ist schlimmer, als man sich das in der noch jungen Bundesrepublik ausmalte, in der Zeit als, es war in den 1960er-Jahren, gegen die Notstandsgesetze demonstriert wurde.“ Er war erschreckt darüber, dass so viele Grundrechte so flächendeckend, so umfassend und so radikal eingeschränkt wurden, ohne dass es einen größeren Aufschrei in der Bevölkerung gegeben hätte. Sein größter Kritikpunkt: Niemand hat anfangs gegen die Verordnungen demonstriert.
Seit Prantls Beitrag gab es aber einige Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen. Fahrschulen fuhren im Mai in einem Autokorso durch Hamburg, damit sie ihren Beruf wieder ausführen dürfen. Die Veranstaltungsbranche hat bei einer „Night of Light“ im Juni Gebäude angestrahlt, um darauf hinzuweisen, dass die Branche wegen Corona aussterben könnte. Freie Künstler:innen demonstrierten im August in Berlin für ein Existenzgeld.
Das zeigt: Unsere Demokratie funktioniert. Die demokratischen Institutionen überprüfen die Verordnungen der Regierungen – aber auch die Bürger:innen selbst nehmen die Maßnahmen (inzwischen) nicht einfach unwidersprochen hin. Die Regierung muss sich also vor dem Parlament, den Gerichten und der Bevölkerung verantworten.
Politiker:innen sind nicht unfehlbar
Trotz allem möchte ich eines hier nicht unerwähnt lassen: Auch Politiker:innen machen Fehler, denn sie sind Menschen. Und in manchen Situationen können sie fast nichts richtig machen. Ein Beispiel dafür beschreibt der Schriftsteller Ferdinand von Schirach in seinem Stück „Terror“: Ein Pilot muss entscheiden, ob er ein Passagierflugzeug abschießt, das ein Terrorist entführt hat und auf ein voll besetztes Fußballstadion lenkt. Er entscheidet sich für den Abschuss, tötet damit 164 Menschen statt 70.000 – und wird dafür angeklagt.
Wäre dieses Szenario real, müsste wahrscheinlich der Bundesverteidigungsminister diese Entscheidung fällen. Im „Alles gesagt?“-Podcast sagte der ehemalige Verteidigungsminister Thomas de Maizière von der CDU im Juli, er hätte sich für den Abschuss entschieden – und wäre danach zurückgetreten: „Sie müssen eine Entscheidung treffen, die Sie für nötig halten und dann die Konsequenzen ziehen.“ (Das Szenario kannst du bei 1 Stunde und 18 Minuten im Podcast nachhören.)
Das ist natürlich ein Extrembeispiel. Aber es zeigt, wie Regierungshandeln manchmal funktioniert: Entscheidungen treffen und die Verantwortung dafür übernehmen. Auch bei den Corona-Maßnahmen müssen wichtige Dinge gegeneinander abgewogen werden. Wie viele Menschen sterben an Corona? Wie viele werden zu stark in ihrem Leben beeinträchtigt? Welche zusätzlichen Hilfen braucht die Bevölkerung? Hätten die Maßnahmen unvorhersehbare Konsequenzen mit sich gebracht, hätte vielleicht auch der Rücktritt eines Ministers im Raum gestanden.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) sagte vor Kurzem, dass mit dem heutigen Wissen keine Friseure und kein Einzelhandel mehr schließen müssen und wir auch keine Besuchsverbote in Pflegeeinrichtungen mehr brauchen. Daraus hat die Bild-Zeitung die Schlagzeile gemacht, dass Friseure und Altenheime im Frühjahr nicht hätten schließen müssen. Aber der Punkt ist ja: Heute weiß die Regierung mehr über das Virus. Vor einigen Monaten hatte sie dieses Wissen nicht. Und dass Politiker:innen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen lernen, ist doch ein Grund zur Freude.
Vielen Dank an Heidi für die Frage und an die KR-Leser Siegfried, Eckhard und Tobi für die Antworten. Und ein ganz spezieller Dank geht an Frank für die weitere juristische Beratung!
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel.