Wäre der Brexit eine Fernsehserie, dann wäre er wie die Lindenstraße, nur in schlecht: sehr komplizierter Plot, miese Frisuren, groteske Hauptdarsteller. Und vor allem: Viel! Zu! Lang! Warum läuft diese Serie noch?
Erinnern wir uns: Anfang des Jahres gab es einen fast schon versöhnlichen Scheidungsakt zwischen dem Vereinigten Königreich und der Europäischen Union – der „Austrittsvertrag“. Er machte Hoffnung auf ruhigere Zeiten. Die zwei Ex-Partner verhandeln endlich über die zukünftigen Beziehungen: ein Freihandelsabkommen. Doch dann hat der britische Premier Boris Johnson – in einer schockierenden Wendung der Ereignisse – ein Gesetz ins Parlament eingebracht. Das sogenannte britische Binnenmarktgesetz.
Dieses Gesetz soll alles Mögliche, vor allem aber soll es sicherstellen, dass bei einem Scheitern der Verhandlungen Güter zwischen Nordirland und der britischen Insel (mit Wales, Schottland und England) frei fließen können. Die Befürchtung Londons: Die EU könnte Waren an einer neuen Seegrenze zwischen den Inseln aufhalten. Denn diese ist im Austrittsvertrag festgeschrieben. Die EU leitet nun rechtliche Schritte ein, weil das Gesetz den Austrittsvertrag aushebelt. Das Ganze könnte vor dem Europäischen Gerichtshof landen.
Kurz: Chaos!
Die große, immer wiederkehrende Frage in der Dauerschleife Brexit lautet immer gleich: Wie geht es weiter? Gibt es einen Brexit, und wenn ja – was soll das überhaupt noch sein?
Werfen wir doch mal einen tieferen Blick in die britische Seele. Die scheinbar sinnfreien Winkelzüge Londons haben viel mit grundlegenden Fragen des englischen Selbstverständnisses zu tun. Und bei allem geht es auch um das Verhältnis zwischen zwei Inseln: der britischen und der irischen.
Um die verborgene Logik zu verstehen, muss man in die Geschichte schauen
Die irische Insel ist geteilt: in einen souveränen Staat im Süden – der Republik Irland – und einen nördlichen Teil – Nordirland, das zum Vereinigten Königreich gehört. Die Grenze ist unsichtbar. Man brauchte sie nicht, solange beide Teile der Insel in der EU waren.
Nordirland ist genauso wie Wales, Schottland und England eine Art Bundesland im Vereinigten Königreich: Es hat eine eigene Flagge, eine eigene Regierung, ein eigenes Parlament und eigene Zuständigkeiten, zum Beispiel bei Steuern und im Gesundheitswesen. Alle Landesteile schicken Abgeordnete nach Westminster – so nennt sich das Parlamentsgebäude (nach dem Stadtteil Londons, in dem es steht). Das soll sicherstellen, dass die Interessen der Landesteile in London Gewicht haben.
An dieser Konstruktion sieht man schon: Der Landesteil England hat eine Sonderstellung im Vereinigten Königreich. Er ist mächtiger als die anderen Landesteile. Vielen ist nicht bewusst, dass es vier teilautonome Regionen im Königreich gibt. Vor allem an einer Stelle fällt das auf: wenn es um Nordirland geht.
In Irland gab es bis 1998 Bürgerkrieg, was vor allem damit zusammenhängt: Ein Teil der nordirischen Bevölkerung fühlt sich britisch und ein anderer Teil irisch. England hielt die irische Insel jahrhundertelang besetzt. Erst seit 1921 ist der Süden der Insel – die Republik Irland – ein souveräner Staat. Nur in Nordirland fand der Unabhängigkeitskrieg der Iren kein echtes Ende. Eine bewachte Grenze teilte bis 1998 diesen Teil von der Irischen Republik ab. An dieser Grenze kam es immer wieder zu Kämpfen zwischen englischen Soldaten und der IRA, der Irish Republican Army, einer Miliz. In Nordirland kämpften protestantisch geprägte Unionisten (die sich dem Vereinigten Königreich zugehörig fühlen) mit katholisch geprägten Nationalisten (die sich Irland zugehörig fühlen). Die IRA verübte auch Bombenanschläge in London und anderen englischen Städten. Als das zu Ende war, setzte große Erleichterung ein: endlich Frieden.
1998 unterzeichneten Vertreter der Nationalisten und Unionisten mit London und Dublin einen Friedensvertrag: das Karfreitagsabkommen. Es sieht vor, dass in Nordirland immer beide Seiten, also Nationalisten und Unionisten, an der Regierung beteiligt sein müssen. Und es erlaubt den Bürger:innen Nordirlands zu wählen, ob sie die britische, die irische oder beide Staatsbürgerschaften haben möchten. All das soll den Friedensprozess stärken.
Der Brexit torpediert den Frieden in Irland
Der Brexit tut genau das Gegenteil: Er polarisiert.
Nordirland ist Teil des Vereinigten Königreichs. Es müsste – eigentlich – die EU verlassen, genau wie der Rest des Landes. Doch das würde nicht nur eine EU-Außengrenze auf der irischen Insel nötig machen, sondern die Bürger:innen Nordirlands dazu zwingen, britisch zu werden.
Die EU besteht darauf, dass Nordirland einen Sonderstatus bekommt, um den Frieden zu erhalten. Deswegen gibt es im Austrittsvertrag ein sogenanntes Nordirland-Protokoll. Darin steht: Nordirland soll eine Sonderhandelszone der EU werden. Dann braucht es keine Grenze zwischen dem südlichen und nördlichen Teil der irischen Insel.
Nur: Irgendwo muss eine EU-Außengrenze hin.
Deshalb haben sich London und Brüssel geeinigt, diese Grenze in die Irische See zu verlegen: Die Zollkontrollen müssen in den Häfen auf irischer und englischer Seite stattfinden. Johnson hat dem zugestimmt, obwohl er es seinen Anhänger:innen anders versprochen hatte. Der ganze Brexit hätte sonst scheitern können. Sein Motto damals: „Get Brexit done! – Bringen wir den Brexit zu Ende.“ Es war Wahlkampf, und er gewann – auch dank dieses Versprechens.
Streng genommen war das Akzeptieren der Seegrenze eine Art Kapitulation – das Zugeständnis, das er machen musste, damit die Opposition nicht doch noch ein zweites Brexit-Referendum durchsetzt. Dass es eine Seegrenze geben soll, ist aber ungefähr so, als wenn Deutschland Frankreich erlaubte, das Saarland mitzuregieren. Die Befürchtung, dass das der erste Schritt zu einem französischen Saarland sein könnte, wäre da.
Umso mehr Befürchtungen gibt es, dass Nordirland nach dem Brexit den Anschluss an die Republik Irland sucht – ein Recht, das der nordirischen Bevölkerung laut Karfreitagsabkommen zusteht. Dafür bräuchte es ein Referendum.
Und das ist besorgniserregend für London (und die DUP, die nordirische Partei, die sich am stärksten für die Anbindung an das Vereinigte Königreich einsetzt). Denn das Vereinigte Königreich könnte auseinanderbrechen. Nicht nur Nordirland könnte verlorengehen, auch die schottische Regierung hat bereits angekündigt, ein zweites Unabhängigkeitsreferendum abhalten zu wollen.
Great Britain? Little England.
Das ist also die Gemütsverfassung in London. Mit dieser schlechten Laune ist London in die Verhandlungen zu einem Freihandelsabkommen eingestiegen. Die Gespräche liefen (Überraschung!) nicht besonders gut. Zuletzt stritt man um Staatshilfen für Unternehmen. London möchte das Recht haben, eigene Unternehmen besser unterstützen zu können, als die EU-Regeln es so engen Handelspartnern erlauben. Diese Regeln sollen sicherstellen, dass alle Unternehmen in der EU gleiche Zugangsvoraussetzungen zum Binnenmarkt haben. Wer ein Freihandelsabkommen mit der EU will, hat keine andere Wahl: Er muss sich auf EU-Gesetze einlassen.
London findet diesen Ansatz jedoch unfair. Man habe bereits genügend Zugeständnisse gemacht, so die Meinung der Brexit-Befürworter. Um Brüssel klarzumachen, dass man nicht bereit sei, den Austritt am 31. Dezember 2020 zu verschieben, nur weil man sich über Details nicht einig wird, hat Boris Johnson nun dieses britische Binnenmarktgesetz auf den Weg gebracht. Es ist seiner Meinung nach eine Art Sicherheitsnetz. Die EU fordert jedoch die brisantesten Klauseln ganz zu streichen.
London gewinnt in jedem Fall
Wie geht es aus? No Deal, Skelett-Abkommen, australische Lösung, „Singapore on Thames“? Niemand weiß es. Was in jedem Fall sicher ist: Es wird noch sehr lange sehr chaotisch bleiben. Deswegen möchte ich einen Begriff vorschlagen: messy Brexit, der unordentliche Brexit. Denn keine der beiden Seiten kann klein beigeben, ohne das Gesicht zu verlieren. Dazu haben alle schon zu viele rote Linien eingezogen.
Egal, wie der Streit um das britische Binnenmarkt-Gesetz weitergeht: Johnson hat damit jetzt schon auf vielen Ebenen gewonnen. Innenpolitisch hat er den Brexit-Hardlinern gezeigt, dass er Hardball mit der EU spielen kann. Das stärkt seine Stellung in der eigenen Partei, das schüchtert die Opposition ein. Der EU muss spätestens jetzt klar sein, dass Johnson kein Politclown ist, sondern ein skrupelloser Verhandler. Und unberechenbar. Mit ihm zu verhandeln, ist wie mit einer Taube Schach zu spielen: Kann sein, dass sie den gegnerischen König umwirft und aufs Schachbrett kackt.
Warum, so kann man jetzt fragen, lässt sich die EU so ein Verhalten gefallen? Sitzt sie nicht am deutlich längeren Hebel? Repräsentiert sie nicht 450 Millionen Menschen und eine gewaltige Wirtschaftsmacht? Braucht das Vereinigte Königreich sie nicht viel mehr als umgekehrt?
Schon. Aber es gibt einen Haken.
Die EU ist tatsächlich erpressbar. Und das liegt an Irland. Bei einem No-Deal-Brexit würde die Situation dort sehr ungemütlich werden. Irland hat nicht nur ein Riesenproblem, es hat zwei. Da ist zum einen die drohende Landgrenze. Aber da ist auch die irische Wirtschaft, die vom EU-Binnenmarkt profitiert. Die meisten Importe kommen über die sogenannte Landbrücke – also mit Lastwagen, die von Dover aus zu den englischen Häfen fahren, um nach Irland überzusetzen. Die Abwicklung in den EU-Häfen am Kanal und den irischen Ankunftshäfen könnte nach dem Brexit deutlich länger dauern. Vor allem, wenn es keinen Handelsvertrag gibt – also einen No-Deal-Brexit. Irlands Lage würde sich dann sehr verschlechtern.
London ist bemüht, die Schuld dafür der EU zuzuschieben. Auch dann, wenn es doch zu einer Landgrenze zwischen dem Norden und dem Süden der Insel kommen sollte. London möchte schließlich nicht selbst die Grenze wieder hochziehen und kontrollieren müssen. Und die EU ist bemüht, klarzumachen, dass der Brexit eine britische Idee ist und damit auch die Bedrohung des fragilen Friedens in Nordirland.
Deshalb wurde so sehr um den Austrittsvertrag gerungen: Der Status Nordirlands muss auch nach dem Brexit erlauben, dass der Handel zwischen dem Norden und dem Süden der irischen Insel reibungslos läuft und grenzüberschreitende zivile Friedensprojekte und Strukturen weiter bestehen können. Das will London auch. Aber es will zugleich, dass Verpflichtungen, die es dafür in Nordirland eingehen muss, in anderen Landesteilen den globalen Handel nicht erschweren. Schon allein, um Schottland beschwichtigen zu können. Für die Schotten ist es nämlich ein Problem, dass Nordirland weiter vom EU-Binnenmarkt profitiert, selbst wenn es kein gutes Freihandelsabkommen geben sollte. Käme es zu diesem Ungleichgewicht innerhalb der vier Landesteile, würden die Schotten massiv auf Unabhängigkeit von London drängen.
Was immer die Brexit-Hardliner tatsächlich antreibt – die Aussicht auf freie Hand mit den britischen Offshore-Steueroasen oder den besten Handelsvertrag, den die Welt je sah mit Donald Trump oder ein Überlegenheitsgefühl gegenüber der kleineren irischen Schwesterinsel –, fest steht: Irland hat viel zu verlieren: Frieden und wirtschaftliche Chancen. Deswegen kann es sein, dass die EU das Spiel so lange mitspielt, bis ein ordentlicher Übergang gesichert ist.
Dieser Satz tut mir sehr leid, aber: Das kann sich noch länger hinziehen.
Denn durch Manöver wie das britische Binnenmarktgesetz geht wertvolle Zeit verloren. London will am 1. Januar 2021 um 0 Uhr frei sein – so, wie es das den Bürger:innen versprochen hat. Dann endet die Übergangsphase der EU-Mitgliedschaft. Alle Expert:innen sagen, dass ein Freihandelsvertrag, der diesen Namen verdient, niemals bis dahin fertig sein kann. Vielleicht schafft man noch ein Skelett eines Vertrags, vielleicht aber auch nicht. Ein im Detail rechtssicheres Abkommen wird es in keinem Fall sein.
Aus London hört man schon Stimmen, die sagen: Vielleicht brauchen wir noch eine zweijährige Implementierungsphase für weitere Verhandlungen. Das zeigt: Die Briten haben das Problem sehr gut verstanden. Nur zugeben können sie das nicht. Denn dann würde auffliegen, dass diese Regierung die Versprechen, die sie beim Brexit-Referendum gemacht hat, niemals halten kann.
Der Brexit ist und bleibt schmutzig.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel.