Wir sehen Victor Orban vor ungarischen Flaggen zu Menschen sprechen.

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Warum die Europäische Volkspartei Viktor Orbán nicht loswird

Die EU kann Mitglieder, die ihre Grundwerte nicht beachten, kaum abstrafen. Der ungarische Ministerpräsident kann derweil Waffen-Deals, deutsche Konfliktscheu und die Prinzipienlosigkeit der CDU zu seinen Vorteil nutzen.

Profilbild von von Szabolcs Panyi, Direkt36

Die freundlichen Gesten aus Ungarn wurden von der deutschen Bundeskanzlerin erwidert. Bei ihrem Besuch in Sopron am 19. August 2019 lobte Angela Merkel, wie Ungarn die EU-Gelder in Ungarn ausgibt. „Wenn man sich die Wirtschaftswachstumsraten Ungarns anschaut, dann sieht man, dass Ungarn dieses Geld wirklich so einsetzt, dass es auch dem Wohle der Menschen zugutekommt. Deutschland freut sich, hieran mit Arbeitsplätzen beteiligt zu sein“, sagte die Kanzlerin.

„Wir haben von den Deutschen mehr Waffen gekauft als die Bundeswehr“

„Wenn Merkel sagt, dass EU-Gelder in Ungarn gut angelegt sind, hat sie vielleicht nicht die richtigen Worte gewählt. Aber sie wollte damit sagen, dass die Steuer- und Wirtschaftspolitik nach deutschem Geschmack gut läuft“, sagt ein ehemaliger Regierungsbeamter von Orbán. Er bezeichnete den Besuch der Kanzlerin im vergangenen Jahr als Wendepunkt.

In der Tat haben die Spannungen zwischen der Führung der beiden Länder in letzter Zeit sichtlich nachgelassen. Neben politischen Gesten versuchte die ungarische Seite auch, an der Lösung von Problemen durch Geschäfte zu arbeiten. Eines der spektakulärsten Beispiele dafür war, dass Ungarn im vergangenen Jahr Deutschlands Waffenkäufer Nummer eins wurde. „Wir haben von den Deutschen mehr Waffen gekauft als die Bundeswehr selbst“, sagt der ehemalige Regierungsbeamte. Die größten ungarischen Aufträge waren der Kauf von 44 neuen und zwölf gebrauchten Leopard-2-Panzern und 24 Panzerhaubitzen 2.000, die überwiegend in Bayern hergestellt werden. Inzwischen wurde auch eine Vereinbarung über die gemeinsame Produktion von deutschen Schützenpanzern vom Typ Lynx angekündigt. Auch die 2018 gekauften Airbus-Hubschrauber stammen zum Teil aus dem bayerischen Werk des multinationalen europäischen Konzerns.

Zum Zeitpunkt der Geschäfte über den Kauf von Hubschraubern und Panzern war die heutige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Deutschlands Verteidigungsministerin. Sie hatte eine nur knappe Mehrheit im Europäischen Parlament und war unter anderem auf die Stimmen der Orbán-Partei Fidesz angewiesen. Nach Angaben einer deutschen Quelle in der CDU „ist der Kauf deutscher Waffen eine langfristige Verpflichtung. Von der Leyen war sich dessen bewusst und betrachtete Ungarn zudem als zuverlässigen Verbündeten.“

Neben der deutschen Rüstungsindustrie hat die Regierung Orbán aber auch ihr Engagement für die deutsche Autoindustrie bekräftigt, die derzeit in der Krise steckt. Während eines Besuchs der Audi-Fabrik in Győr im Juni sagte Viktor Orbán eine weitere staatliche Subvention zu, diesmal berief er sich dabei auf den wirtschaftlichen Abschwung aufgrund des Coronavirus. Außenminister Péter Szijjártó warb Anfang Juli in Stuttgart vor Führungskräften deutscher Unternehmen mit neuen ungarischen Steuersenkungen für Arbeitgeber.

Die EU kann Mitglieder, die ihre Grundwerte nicht beachten, kaum abstrafen

Diese Vereinbarungen, Geschäfte und die engen Beziehungen, die sich entwickelt haben, werden in den kommenden Monaten an Bedeutung gewinnen. Es gibt zwei brisante Themen, die Ungarns Einfluss in Europa bestimmen werden.

Die erste betrifft den EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre von 2021 bis 2027 und wie die EU-Mittel ausgegeben werden sollen. Eine der wichtigsten Debatten über den Haushalt ist, dass einige Mitgliedstaaten wie auch die wichtigsten Parteigruppen des Europäischen Parlaments die Vergabe von EU-Geldern an die Einhaltung bestimmter rechtsstaatlicher Kriterien knüpfen wollen. Dies ist ein ausdrücklicher Versuch, Druck auf Ungarn und Polen auszuüben, weil die rechtsstaatlichen Institutionen in diesen Ländern geschwächt sind.

Das andere Thema ist die Mitgliedschaft von Fidesz in der Europäischen Volkspartei (EVP), die seit März 2019 ausgesetzt ist. Die politische Familie sollte eigentlich im Herbst entschieden haben, ob sie die Partei von Viktor Orbán ausschließen oder wieder aufnehmen will. 14 Mitgliedsparteien begründeten den Ausschluss von Fidesz damit, die Partei habe die Werte der EVP verletzt.

Nach Angaben einer CDU-Quelle ist es jedoch völlig unrealistisch, während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres 2020 EU-Mittel an den Rechtsstaat zu koppeln. Die Verhandlungen der Staats- und Regierungschefs im Sommer haben zu einem Abkommen geführt, das es ziemlich kompliziert machen würde, Mitgliedsstaaten, welche die Grundwerte der EU missachten, EU-Gelder tatsächlich vorzuenthalten. Das Europäische Parlament will jedoch härtere Maßnahmen. Es gibt auch in der deutschen Regierung Befürworter: Die Sozialdemokraten an der Spitze des Auswärtigen Amtes, Außenminister Heiko Maas und der Staatsminister für Europa, Michael Roth, setzen sich nachdrücklich dafür ein.

Auch bei der Mitgliedschaft von Fidesz in der Europäischen Volkspartei spielen deutsche Akteur:innen eine entscheidende Rolle, denn CDU und CSU haben die meisten Stimmen in der Parteienfamilie. Nach Angaben einer der CDU nahestehenden Quelle ist die deutsche Seite jedoch „in der Fidesz-Frage gespalten, weil die CDU auch darüber gespalten ist, welche Richtung sie selbst einschlagen soll. Die Frage ist, wie breit die Europäische Volkspartei sein sollte.“ Einem deutschen Experten zufolge, der für die EVP arbeitet, sieht die ostdeutsche CDU den ungarischen Ministerpräsidenten oft als Held, während die liberaleren CDU-Parteiorganisationen und Politiker in Westdeutschland der Regierung Orbán typischerweise kritisch gegenüberstehen.

In den vergangenen Monaten fanden mehrere Treffen auf hoher Ebene statt, um sich in strittigen Fragen näherzukommen. Im Sommer 2020 besuchte Orbáns Stabschef Gergely Gulyás Berlin, um mit CDU- und CSU-Spitzen zusammenzutreffen. Mitte Juli reiste die CDU-Parteivorsitzende und deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer nach Budapest. Direkt36 erfuhr von mehreren ungarischen und deutschen Quellen, dass diese Verhandlungen für beide Parteien erfolgreich verlaufen sind, so dass die Regierung Orbán mit Zuversicht auf das blickt, was im Herbst bevorsteht: der EU-Haushalt, das Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7 und die Mitgliedschaft von Fidesz in der EVP.

„Es ist ein Mythos, dass die Deutschen führen müssen“

Nach den jüngsten Gesprächen über neue Waffengeschäfte, die im Juli in Budapest diskutiert wurden, gebe es nur noch ein Hauptproblem in Sachen EVP-Mitgliedschaft, sagt ein ehemaliger ungarischer Regierungsbeamter: den polnischen EVP-Vorsitzenden Donald Tusk, der den ungarischen Ministerpräsidenten wiederholt angegriffen habe. Tusk hat jedoch bereits angekündigt, dass die EVP Ende September erneut keine Abstimmung über den Ausschluss von Fidesz durchführen wird.

„Man sollte verstehen, dass die CDU, das größte Mitglied der EVP, ein Interesse daran hat, die Parteienfamilie zusammenzuhalten, die in der Fidesz-Frage extrem gespalten ist“, sagt ein deutscher Experte der EVP. „Sie haben Angst vor einer Spaltung, Angst davor, ihren relativen Einfluss im Europäischen Parlament zu verlieren, und glauben, dass sie noch einen gewissen Einfluss auf Orbán haben“, fügte der Informant hinzu. Laut einer CDU-Quelle hat es für seine Partei einfach keine Priorität, Stellung zu beziehen und die Debatte über die Mitgliedschaft von Fidesz in der EVP zu entscheiden.

„Jeder erwartet von den Deutschen, dass sie eine Richtung vorgeben. Aber es ist ein Mythos, dass die Deutschen führen müssen. Wir haben Besseres zu tun. Warum sollten wir uns mit dem Fidesz-Problem befassen? Diese Kämpfe innerhalb der EVP müssen vom Parteivorsitzenden und der Führung entschieden werden“, lautet die Begründung dafür, sich nicht auf weitere Konflikte mit Orbán einzulassen.

„Eines ihrer Argumente ist, wozu Fidesz in der Lage wäre, wenn sie ausgeschlossen werden würden. (…) Sie haben Angst, dass sich Fidesz radikalisieren würde, wenn man sie aus der EVP ausschließt“, sagt der deutsche Experte, der für die EVP arbeitet. „Sie haben keinen Einfluss mehr auf das, was Orbán in Ungarn tut, aber sie sind auch nicht daran interessiert. Sie sagen, dass die EVP immer noch in der Lage ist, Orbán in Straßburg und Brüssel zu beeinflussen, und das ist es, was für sie zählt“, fügte die Quelle hinzu.

Orbán hofft, dass Merkel doch bleibt

Die Konfliktvermeidung der deutschen Politik und die schwierige, aber immer pragmatische Zusammenarbeit mit Merkel im letzten Jahrzehnt kommt der ungarischen Regierung also gelegen. Darum kann ein Wechsel in der deutschen Politik ein echtes Risiko darstellen. Orbán selbst hat öffentlich angedeutet, er hoffe trotz aller bisherigen Konflikte, Merkel würde ihre Entscheidung überdenken und sich nicht aus der Politik zurückziehen.

So sagte der ungarische Ministerpräsident vor einigen Monaten auf einer Konferenz, er habe versucht, Merkel zum Bleiben zu bewegen: „Wenn man sich die Politiker der Europäischen Union heute anschaut, gibt es nur sehr wenige aktive Politiker, die zur Zeit des Untergangs der Sowjetunion und der Veränderungen in der Geschichte des Kontinents aktiv waren und dazu beigetragen haben. Aber wir waren dabei. Die einzige westeuropäische Politikerin, die einen großen Beitrag geleistet hat und noch aktiv ist, ist Bundeskanzlerin Angela Merkel, die kurz davor steht zu gehen“, sagte Orbán und fügte hinzu: „In Klammern: Ich habe versucht, sie davon zu überzeugen, dies nicht zu tun. Aber sie hat stets abgelehnt.“


Aus dem Engl. übersetzt von Vera Fröhlich, Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel