Die ungarische Regierung wartete gespannt auf die letzte Station des Besuchs der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel in Budapest am 2. Februar 2015. Merkel war vom Bund der ungarischen jüdischen Gemeinden (Mazsihisz) eingeladen worden, das ist die größte ungarische jüdische Organisation. Vor ihrer Heimkehr wollte sie die Synagoge in der Dohány-Straße besuchen. Die Regierung Orbán aber hält Mazsihisz für eine kritische Organisation – nicht zuletzt deshalb, weil sie in regierungsfreundlichen Kreisen häufig das Thema Antisemitismus zur Sprache bringt.
Um die Situation unter Kontrolle zu halten, schlug Ministerpräsident Orbán Merkel vor, dass er sie in die Synagoge begleiten würde. Um diese Bitte an die Mitarbeitenden der Bundeskanzlerin zu übermitteln, wurde Frank Spengler eingeschaltet, einer der wichtigsten Verbindungsmänner in den ungarisch-deutschen Beziehungen. Spengler steht der Regierung wohlwollend gegenüber. Er ist Leiter des Budapester Büros der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Laut einer Quelle, die die Geschichte von deutscher Seite kennt, war Spengler bereit, die Botschaft zu überbringen, obwohl er wusste, dass er eine strikte Absage kassieren würde. Genauso lautete die Antwort. Das weiß Direkt36 aus Berichten von Informant:innen, die mit den Einzelheiten des Besuchs vor fünf Jahren vertraut waren.
Drei Minuten Zeit blieben für ein geheimes Gespräch mit Merkel
Aber auch die Mazsihisz-Führung war nervös wegen des Besuchs der Kanzlerin. Das berichten Quellen, die mit den inneren Angelegenheiten der jüdischen Organisation vertraut sind. Mazsihisz-Präsident András Heisler wollte der Bundeskanzlerin etwas sagen, was sonst niemand hören sollte. „Wir standen noch vor der Anti-Soros-Kampagne, vor der Unterdrückung von NGOs und der Verfolgung der Zentraleuropäischen Universität. Aber schon damals spürten wir, dass sich etwas zusammenbraute, dass sich negativ auf die jüdische Gemeinschaft auswirken könnte. András wollte diese Befürchtungen der Kanzlerin gegenüber zum Ausdruck bringen“, erinnerte sich eine mit Mazsihiszs inneren Angelegenheiten vertraute Quelle.
Das Problem war, dass die Hauptgebäude von Mazsihisz unter dem Schutz der Staatssicherheit stehen, wenn führende ausländische Politiker:innen und andere einflussreiche Persönlichkeiten zu Besuch kommen. Daher konnten die Sicherheitsbeamt:innen die Gespräche belauschen. Da Merkel zudem eine der am besten geschützten Personen der Welt ist, waren sich die Verantwortlichen von Mazsihisz der Aufmerksamkeit der ungarischen Geheimdienste sicher. Deshalb versuchten sie, eine Situation zu schaffen, in der András Heisler mit Merkel so sprechen konnte, dass niemand mithören würde.
Heisler und seine Mitarbeiter entschieden, dass dafür am besten der Flur sein würde, der von dem Festsaal wegführte, in dem das Treffen mit verschiedenen jüdischen Repräsentant:innen stattfinden sollte. Nach diesem offiziellen Treffen, beim Betreten des Korridors, würden nur Heisler und Merkel anwesend sein. Der Flur galt als technisch schwer abzuhören.
Jeder solcher Besuch folgt einem minutengenau geplanten Szenario. Die Route der hochrangigen Besucherin wird mit einer Stoppuhr in der Hand geplant. Also wussten Heisler und seine Leute, dass sie von der Zimmertür bis zu Merkels Wagen auf der Straße nur etwa drei Minuten Zeit haben würden.
Der Besuch der Bundeskanzlerin in der Dohány-Straße verlief dann reibungslos. Nachdem Heisler das Treffen beendet hatte, trat er an Merkels Seite zur Tür, um ihr endlich die Anliegen der von ihm geleiteten jüdischen Gemeinde mitzuteilen.
Als sich die Tür öffnete, stand da zu seiner Überraschung ein hoher Beamter des Ministeriums für auswärtige Angelegenheiten und Handel, Levente Magyar. Er sagte mit einem breiten Lächeln: „Bundeskanzlerin Merkel, lassen Sie mich Sie zu Ihrem Auto hinunter begleiten!“
„Es war schockierend. Das ist, wie wenn sich ein Rabbiner in ein Regierungsgebäude schleicht und Viktor Orbáns Gast stiehlt“, sagt eine mit den Einzelheiten des Besuchs vertraute Quelle. Die Mazsihisz-Führer waren überzeugt, dass sie zu unvorsichtig gewesen waren, dass ihr Plan der Regierung zugespielt worden war.
„Orbán glaubt, dass Politik nichts für Frauen ist“
Die Geschichte offenbart jedoch nicht nur das Misstrauen und die Vorsicht zwischen der Regierung und Mazsihisz, sondern auch zwischen der ungarischen und der deutschen Regierung und Viktor Orbán und Angela Merkel.
Ein Beispiel: Laut einiger Informant:innen, die mit dem Ministerpräsidenten in Kontakt standen, glaubte Orbán, dass Merkel nicht nur von politischen Interessen und eigenen Karrierezielen getrieben war, als sie sich gegen Helmut Kohl wandte. Sondern sie führte auch eine politisch-ideologische Kampagne innerhalb der CDU gegen das Erbe Kohls. „Kohl wird von den Deutschen nicht genug respektiert, man muss bis nach Budapest kommen, um etwas Nettes über ihn zu hören. Die CDU und später ihre bayerische Schwesterpartei, die CSU, sind in die politische Mitte gerückt, Kohl ist für sie kein Bezugspunkt mehr“, sagt der mit der ungarischen Regierung verbundene deutsche Experte. Der Informant erinnerte daran, dass die Witwe des ehemaligen Kanzlers 2017 erreichen wollte – dabei berief sie sich auf den letzten Willen Kohls –, dass Orbán und nicht Merkel bei Kohls Beerdigung sprechen sollte. Aber die deutsche Regierung verhinderte das schließlich.
Mehrere Quellen sind sich einig, dass die Beziehung zwischen Orbán und Merkel niemals eng hätte werden können. „Orbán ist ein männlicher Mann, und tief in seiner Seele glaubt er wirklich, dass Politik nichts für Frauen ist“, sagt der deutsche Experte. „Merkel und Orbán respektieren sich. Es ist keine Liebesgeschichte, es ist eine pragmatische Arbeitsbeziehung“, sagt eine der CDU nahestehende Quelle.
Bezeichnend ist, wie sich die Beziehung zwischen Orbán und Merkel während der Flüchtlingskrise 2015 entwickelte. „Laut Orbán hat Merkel eine Art ideologischen Imperialismus repräsentiert“, sagt ein ehemaliger Diplomat der Orbán-Regierung über diese Zeit. „Sie sind die Protagonist:innen zweier gegensätzlicher Seiten im Kampf unserer Zivilisation.“ Merkel habe Europa praktisch den Multikulturalismus aufzwingen wollen. Als gute Europäer:innen galten nur diejenigen, die Einwanderung unterstützten. Laut dem ehemaligen Diplomaten griff die Orbán-Regierung die deutsche Flüchtlingspolitik auch deswegen heftig an, weil die Idee der Flüchtlingskontingente – also die, Migrant:innen auf alle EU-Mitgliedsstaaten auf der Grundlage ihrer Wirtschaftskraft und Größe zu verteilen – aus Berlin kam. Deshalb müsse die deutsche Regierung „in der Öffentlichkeit politisch gelähmt werden, um ihr klarzumachen, dass dies gefährlich ist“.
Beim Thema Einwanderung machten Merkel und Orbán einander zum Sündenbock
Doch Orbáns Kritik und seine harte Haltung zur Zuwanderung schadeten Merkel keineswegs, auch nicht innenpolitisch. Ein ehemaliger Beamter der Orbán-Regierung erinnerte daran, dass Merkel und ihr SPD-Herausforderer Martin Schulz im Fernsehduell zur Bundestagswahl 2017 Orbán mehrfach erwähnten. Der ungarische Ministerpräsident sei damit zu einer wichtigen Figur im deutschen öffentlichen Diskurs geworden war. Dem Informanten zufolge zufolge attackierten sich Orbán und Merkel damals beim Thema Einwanderung „öffentlich gegenseitig, weil sie beide davon profitierten, den jeweils anderen zum Sündenbock zu machen“.
Die Regierung Orbán wurde unterdessen von der deutschen Presse von Anfang an heftig kritisiert. Man unternahm deshalb hinter den Kulissen große Anstrengungen, das Image aufzupolieren. Nach einer äußerst negativen deutschen Reaktion auf das neue ungarische Mediengesetz begann die Orbán-Regierung damit, neue Gesetze im Vorfeld ins Deutsche zu übersetzen. Sie setzte sich sogar regelmäßig mit leitenden Redakteuren großer deutscher Zeitungen zusammen. Dies hatte Frank Spengler vorgeschlagen, der Leiter der KAS. Das haben uns mehrere Quellen, die mit der damaligen Kommunikationsstrategie vertraut waren, bestätigt.
Die Kritik wurde 2015 noch einmal stärker, als eine europäische Debatte über Einwanderung begann. Die ungarische Regierung versuchte auch über die Boulevardpresse die deutsche Öffentlichkeit für sich zu gewinnen. Zur Hilfe kam Leslie Mandoki, ein deutscher Musiker ungarischer Herkunft, ausgezeichnet mit ungarischen und bayerischen Staatspreisen. Laut eines ehemaligen Orbán-Regierungsbeamten ist Mandoki „ein wichtiger Organisator von Veranstaltungen in der CDU […], er hat zum Beispiel mit seinen Kontakten dazu beigetragen, dass die deutsche Boulevardpresse in den kritischsten Momenten schöne Dinge über Ungarn, Budapest und Orbán schreibt“. Unterdessen erhielt der Musiker umgerechnet 5,5 Millionen Euro an ungarischer Staatsförderung für verschiedene Projekte. Mandoki war lange Zeit auch als Musikdirektor für Volkswagen und Audi tätig.
Während die eigenen Medien der Regierung Orbán nach der Flüchtlingskrise Merkel weiterhin kritisierten und die aufstrebende Anti-Einwanderungspartei, die Alternative für Deutschland (AfD), verherrlichten, schlugen die CDU-Kontakteute von Fidesz in vertraulichen Gesprächen einen anderen Ton an. Und zwar Zoltán Balog, Gergely Gulyás und Katalin Novák, die fließend Deutsch sprechen und die deutsche Politik sehr gut kennen. „Wir wissen, dass die AfD nie an der Macht sein wird und die CDU für uns immer der Leitstern sein wird, das haben mir die Leute von Orbán gesagt“, erinnert sich ein deutscher Außenpolitiker an eines dieser Gespräche. Eine der CDU nahestehende Quelle äußert sich ähnlich: Fidesz haben nicht nur die AfD, sondern auch die rechtsextreme FPÖ in Österreich und Marine Le Pen in Frankreich im Stich gelassen, „weil sie denken, dass sie nie an die Regierung gelangen werden“. „Das Problem ist, dass es nie möglich sein wird, ein Bündnis mit der AfD einzugehen“, räumte auch ein Vertreter der Regierung Orbán ein. „Also wird die CDU immer sehr wichtig sein.“
Ein gutes Beispiel für das pragmatische Verhältnis zwischen Orbán und Merkel ist das Verhalten des ungarischen Ministerpräsidenten während der jüngsten Entwicklungen in der deutschen Politik. Obwohl die bayerische CSU früher die engste Verbündete von Fidesz und der Orbán-Regierung unter den deutschen konservativen Parteien war, wandte sich Orbán 2019 gegen das CSU-Mitglied Manfred Weber, dem Kandidaten der Europäischen Volkspartei für das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission. Er zog seine Unterstützung für Weber zurück. Nach den Wahlen zum Europaparlament wurde die Spitzenposition in den anschließenden Verhandlungen schließlich mit der CDU-Politikerin Ursula von der Leyen besetzt, einer der engsten Vertrauten Merkels. Weber scheiterte, weil der französische Präsident Emmanuel Macron das System der Spitzenkandidat:innen grundsätzlich ablehnte. In dem darauf folgenden Konflikt hielt Merkel nicht an Weber fest. Dass die Anti-Weber-Kampagne öffentlich von Orbán geführt wurde, so ein ehemaliger Regierungsbeamter, zeige, dass der ungarische Ministerpräsident geschickt manövriert und an Einfluss gewonnen habe.
Lies Folge 6 der Serie.
Aus dem Engl. übersetzt von Vera Fröhlich, Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel