Die Chefredaktion von Magyar Hang („Ungarische Stimme“), einer der wenigen verbliebenen unabhängigen Zeitungen in Ungarn, bemüht sich seit Langem erfolglos um Anzeigen großer ausländischer Konzerne. Sie wird überall abgewiesen. „Normalerweise gab es nicht einmal ein persönliches Treffen. Bis uns schließlich einer der großen deutschen Autohersteller entgegenkam“, sagt Zeitungschef Csaba Lukács, ohne die Namen des Unternehmens zu nennen.
Der deutsche Autohersteller stellte in der ersten Hälfte des Jahres 2018 auf der Messe Hungexpo aus. In einem Besprechungsraum hinter dessen Stand setzte sich Lukács mit einem deutschen Vertreter des Unternehmens und anderen Teilnehmern zusammen. „Ich habe ihnen Leserzahlen und Erhebungen zu unseren Lesern gezeigt. Es hat ihnen sehr gut gefallen und sie meinten auch, dass wir ihrem Profil voll und ganz entsprechen würden“, sagt Lukács. Doch dann nahm das Gespräch eine Wendung: „Auf dem Weg nach draußen, auf dem Flur, sagt mir der Vertreter ganz offen: Bitte haben sie Verständnis, wir können nicht in der Zeitung inserieren. Man wolle die staatliche Subvention für ihre Fabrik nicht riskieren.“
Aldi verkaufte in Ungarn lieber die regierungsnahe Zeitung
Nicht lange vor dieser Episode arbeiteten Csaba Lukács und Chefredakteur Zsombor György noch für die damals größte Tageszeitung Magyar Nemzet („Ungarische Nation“). Doch die Zeitung wurde unmittelbar nach dem Wahlsieg von Fidesz im April 2018 geschlossen. Magyar Nemzet gehörte dem Unternehmer Lajos Simicska, der sich seit 2015 mit Viktor Orbán im Zwist befand. Als Fidesz bei der Wahl eine weitere Zweidrittelmehrheit erreicht hatte, kapitulierte Simicska. Er gab seine Geschäftsfelder an regierungsnahe Eigentümer ab. Bald darauf gründeten ehemalige Journalisten von Magyar Nemzet ihre eigene Zeitung, Magyar Hang, die schnell zur Nummer zwei der Wochenzeitschriften für Öffentlichkeitsarbeit in Ungarn wurde. Anzeigen großer Unternehmen bekamen sie trotzdem nicht.
Laut György und Lukács reagierten die meisten ausländischen Unternehmen nicht einmal auf ihre Anfrage. Aber sie machten auch weit schlechtere Erfahrungen. Bereits 2015, nachdem der Konflikt zwischen Simicska und Orbán in der Öffentlichkeit eskaliert war, nahm die in deutschem Besitz befindliche Einzelhandelskette Aldi die Zeitung Magyar Nemzet aus den Regalen ihrer Geschäfte. Stattdessen verkaufte sie die regierungsfreundliche neue Zeitung Magyar Idők („Ungarische Zeitung“). Es kostete György und Lukács viel Mühe, ihre Zeitungen irgendwie wieder in die Regale von Aldi zu bekommen. Die ganze Geschichte wiederholte sich jedoch mit Magyar Hang, und sie mussten Aldi mit einer Klage drohen, damit der Händler endlich ihre Zeitung verkaufte.
Geschäfte deutscher Unternehmer gingen auf Kosten der ungarischen Medienfreiheit
Im Herbst 2019 lud die deutsche Botschaft in Budapest ungarische Journalist:innen zu einem inoffiziellen Gespräch ein, die für mehrere unabhängige Stellen arbeiten. Man wollte ehrlich über die Mediensituation in Ungarn sprechen. Einige der Journalist:innen beschwerten sich über die Haltung deutscher Unternehmen, die mit der Regierung Geschäfte machen, gegenüber der ungarischen Medienfreiheit. Ein hochrangiger deutscher Diplomat tat das mit den Worten ab, er sei sich dessen voll bewusst und schäme sich dafür. „Aber bitte verstehen Sie, dass dies Deutschland ist, eine Demokratie, in der das Auswärtige Amt keinen Druck auf deutsche Unternehmen ausüben kann“, sagte der Diplomat laut eines Teilnehmers. Unabhängig davon besuchte später ein Diplomat der deutschen Botschaft die Redaktion von Magyar Hang. „Er saß zwei Stunden lang bei uns und hörte aufmerksam zu“, erinnerte sich Zsombor György. Er hatte den Eindruck, sein Gast verstehe den Ernst der Lage. Am nächsten Tag bestellte die deutsche Botschaft ein einziges Exemplar der Zeitung.
Auf unsere Fragen zu dieser Episode schrieb die deutsche Botschaft in Budapest, dass die deutsche Regierung „verpflichtet ist, die Rede- und Pressefreiheit zu respektieren. Der ständige Dialog mit Pressevertretern unabhängig von ihrer möglichen Parteizugehörigkeit gehört zu unserem Tagesgeschäft. Die Bundesregierung der Republik Deutschland hat keinen Einfluss auf die Werbepolitik von Unternehmen.“
Orbán weiß, dass die Deutschen „vernünftig“ sind
Wer Viktor Orbán kennt, sagt, er sei sich genau bewusst, dass große deutsche Unternehmen sich nur von ihren Interessen leiten lassen. „Laut Orbán sind die Deutschen zu rational, um gegen ihre Interessen zu entscheiden. Auf die Rationalität der Deutschen kann man sich immer verlassen“, sagt ein deutscher Experte mit Verbindungen zur ungarischen Regierung auf die Fragen nach dem Deutschlandbild der ungarischen Regierung. Auch die Spannungen zwischen der ungarischen und der deutschen Regierung erklären sich seiner Meinung nach so. „Wenn sie die deutsche Kritik sehen, denkt die ungarische Regierung: Was wollen sie? Wenn wir ein paar Milliarden für die Mercedes-Fabrik gegeben haben, warum beschweren sie sich dann über die ‚Diktatur‘? Was wollen sie erreichen? Schließlich sind sie vernünftige Menschen, sie müssen auf jeden Fall ein Ziel haben“, sagt der Experte.
Die Regierung Orbán tat über Steuererleichterungen und staatliche Subventionen hinaus viel mehr, um das Verhältnis in Ordnung zu bringen. Vor allem seit Ende 2014, als aus dem Außenministerium das Außen- und Handelsministerium wurde. Nach Ansicht eines Lobbyisten, der für deutsche und andere große ausländische Unternehmen arbeitet, ist das Geschäft mit Ausländern inzwischen „noch stärker zentralisiert“ worden. „Bereits während der Vorgespräche im Ministerium schlagen sie vor, mit örtlichen Fidesz-nahen Firmen zusammenzuarbeiten. Sie formulieren es so, dass dieser und jener Subunternehmer die Garantie für Qualität in Ungarn sei“, sagt der Lobbyist.
Einem ehemaligen Beamten der Orbán-Regierung zufolge ist das ungarische System, mit dem man Investoren anwirbt, „eine brilliante Erfindung. Aber die Deutschen sind auch nicht dumm oder unschuldig.“ Er erinnerte sich zum Beispiel daran, wie auf einer gemeinsamen Reise deutsche Geschäftsleute zu informellen Tönen übergegangen waren und die Regierung Orbán in den Himmel lobten. „Nach einer Flasche Wein sagt man Ihnen, was Ungarn für ein wunderbarer Ort ist. Zum Beispiel, weil man die türkischen Arbeiter:innen mittags nicht zum Gebetsteppich gehen lassen muss“, sagt er. Beim privaten Gespräch stimmten dieselben deutschen Geschäftsleute auch Ungarns pro-russischer Außenpolitik zu und kritisierten die EU-Sanktionen, die Russland wegen des Konflikts in der Ukraine auferlegt wurden. Sie glauben, dass die Sanktionen deutschen Unternehmen großen Schaden zugefügt haben.
Die Regierung Orbán verhandelt direkt mit den Chefetagen vieler deutscher Unternehmen
Seit 2010 entwickelte die Regierung Orbán eine so enge Beziehung zu vielen deutschen Unternehmen, dass es ihr gelang, Meinungsverschiedenheiten und mögliche Konflikte direkt mit den Führungskräften deutscher Muttergesellschaften zu lösen, sagen Quellen aus der Wirtschaft und dem Außenministerium. Nach Angaben eines ehemaligen Telekom-Managers verhandelte János Lázár, der zwischen 2012 und 2018 eines der einflussreichsten Mitglieder der Orbán-Regierung war, direkt mit der deutschen Muttergesellschaft, der Deutschen Telekom. Die örtlichen Führungskräfte von Magyar Telekom führten nur Entscheidungen aus, die auf höherer Ebene getroffen wurden.
Einer der wichtigsten Vermittler zwischen der ungarischen Regierung und deutschen Unternehmen ist ein Mann namens Klaus Mangold, ein ehemaliger Topmanager der Daimler AG, der in der deutschen Presse oft schlicht als Mr. Russland bezeichnet wird (Direkt36 schrieb auch bei Krautreporter bereits mehrfach über ihn). Laut einem ehemaligen Diplomaten der Orbán-Regierung war Mangold bereits unter den sozialistischen MSZP-Regierungen als „Mann jenseits der Parteigrenzen“ aktiv. „Mangold hat stets das deutsche Großkapital in Ungarn und in Russland vertreten. Er steht vor allem im Dienst der deutschen Wirtschaft“, sagt der ehemalige Botschafter Sándor Peisch über den Lobbyisten.
Mangolds Aktivitäten in Ungarn sind auch ein Beispiel dafür, wie Wirtschaft und Politik in den ungarisch-deutschen Beziehungen miteinander verflochten sind und dass es zwischen den beiden Parteien keine rein geschäftlichen oder rein politischen Fragen gibt. Im Jahr 2016 erfuhr das Online-Magazin 444.hu (nachzulesen bei Krautreporter, dass der Lobbyist seinen guten Freund, den deutschen EU-Kommissar Günther Oettinger, in seinem Privatjet nach Budapest geflogen hatte. Allerdings durften die Kommissar:innen keine privaten Geschenke im Wert von mehr als 150 Euro annehmen. Der CDU-Abgeordnete Oettinger war maßgeblich an der Genehmigung des von Russland geführten Atomkraftwerksprojekts Paks II in Ungarn beteiligt. Er kennt Viktor Orbán seit Langem. Oettinger, der auch über ein umfangreiches Netzwerk von Kontakten in der deutschen Politik und Wirtschaft verfügt, ist seit seinem Ausscheiden aus der Europäischen Kommission offiziell von der ungarischen Regierung beschäftigt. Er ist Co-Vorsitzender des neuen ungarischen Nationalen Rates für Wissenschaftspolitik, der im Februar eingerichtet wurde.
Obwohl die deutsche Presse häufig über Korruptionsfälle in Ungarn berichtet, haben nach Angaben einer CDU-nahen Quelle viele deutsche Investor:innen einfach nicht das Gefühl, dass die Regierung Orbán besonders korrupt sei. „Wenn Orbán selbst einen völlig anderen Lebensstil mit Freundinnen und Luxusautos führen würde, wäre Ungarn in Deutschland eine ganz andere Geschichte“, meinte der Informant weiter.
Lies Folge 5 der Serie.
Aus dem Engl. übersetzt von Vera Fröhlich, Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel