Im Westen ist häufig von China als aufstrebender Supermacht die Rede. Dabei vergessen wir, dass China bereits seit tausenden von Jahren eine Vormachtstellung innehat. Der Vergleich des heutigen Chinas mit machtambitionierten Ländern in Europa, wie Deutschland vor dem 1. Weltkrieg, hinkt gewaltig, findet David Kang, Experte für chinesische Außenpolitik.
Gerade jetzt, mitten in der Corona-Pandemie, wird viel über die Folgen von Chinas Aufstieg und einem möglichen globalen Machtwechsel gesprochen. In einem Ihrer jüngsten Forschungspapiere argumentieren Sie, dass der Machtwechsel in Ostasien bereits stattgefunden hat. Was meinen Sie damit?
Für uns ist nur schwer zu begreifen, wie groß China im Vergleich zu seinen Nachbarn eigentlich ist. Das ist leicht zu vergessen, weil wir das Land immer mit den Vereinigten Staaten vergleichen. Die USA und China sind so groß wie Kontinente, aber sie befinden sich in zwei unterschiedlichen Weltteilen. In Ostasien ist China ein riesiges Land. Wenn wir uns das China von vor 30 oder 40 Jahren ansehen und sagen: „Oh, es war wirklich arm“, und: „Es war ein kommunistisches Land“, übersehen wir, dass China, auch wenn es arm war, damals schon eine Bevölkerung von einer Milliarde Menschen hatte. China ist mittlerweile wesentlich reicher, aber es war immer schon groß. Was wir jetzt erleben, ist also kein wirklicher Aufstieg. Es ist eine Rückkehr zu alter Größe.
Es ist eine verbreitete Annahme, insbesondere seit Donald Trump an die Macht gekommen ist, dass die vom Westen seit Ende des Kalten Krieges betriebene Integration Chinas in die Weltwirtschaft dem Land den Aufstieg ermöglicht hat. Das behauptet, unter anderem eine Studie der einflussreichen US-Denkfabrik „Council on Foreign Relations“. Stimmt diese These?
Es ist so einfach, sich auf die Vereinigten Staaten zu konzentrieren und zu sagen, dass China erst seit dem Handel mit dem Westen wirtschaftlich aufgestiegen ist. Natürlich war es eine gute Sache. Tatsache ist jedoch, dass Chinas Binnenwirtschaft zwischen 1949 und 1978 sehr schlecht verwaltet wurde. In dem Moment, in dem China beschloss, die Marktkräfte zu entfesseln, nahm die interne Dynamik des chinesischen Marktes sofort zu. Beispielsweise waren Landwirte ab 1978 freier in der Wahl ihres Anbaus landwirtschaftlicher Produkte.
Die westliche Fähigkeit, China auf die eine oder andere Weise von außen zu beeinflussen, war tatsächlich ziemlich begrenzt. Es geht vielmehr um die Entscheidungen der chinesischen Führung und Wirtschaft. Dass die Führung 1978 beschloss, ein wenig Kapitalismus zuzulassen, war der Startschuss für Chinas Rückkehr zu alter Stärke.
Auch hier neigen wir dazu zu vergessen, wie lebendig Chinas Geschichte in Bezug auf Innovationen ist. Es ist fast ein Klischee, aber die Chinesen haben Schießpulver, den Magnetkompass und sogar Nudeln erfunden (lacht). Die Leute scherzen darüber, aber es ist wahr. Diese Dynamik von vor Jahrhunderten wurde in den Nachkriegsjahrzehnten durch die kommunistische Wirtschaftspolitik gebremst. Sobald das System sich öffnete, stieg das Land wieder auf.
Wenn der Einfluss von außen nur sehr begrenzte Auswirkungen hat, ist es für uns noch wichtiger zu verstehen, was die Chinesen tatsächlich wollen, was die chinesische Führung in ihrer Außenpolitik antreibt. Es gibt das Argument, dass sich China im Grunde wie die USA des 19. Jahrhunderts verhält und deshalb hegemoniale Bestrebungen verfolgt. Würden Sie sagen, dass China eine typische aufstrebende Macht ist, etwa wie Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts?
Es ist wirklich einfach zu sagen, dass China sich heute wie das Wilhelminische Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts verhält. Aber in vielerlei Hinsicht stimmen solche Vergleiche nicht. Die deutsche Reichsgründung unter Bismarck fand erst im 19. Jahrhundert statt. Deutschland war vorher keine politische Einheit. Aus diesem Grund versuchte Deutschland zwischen 1871 und dem Ersten Weltkrieg, seinen Platz in der Welt zu finden. Im Gegensatz dazu war China bereits seit dem Jahr 200 v. Chr., als es erstmals vereinigt wurde, die vorherrschende Macht Ostasiens. Es gab sicherlich Zeiten, in denen China ins Chaos geriet und interne Probleme hatte. Aber die Idee eines vereinigten Chinas hat all diese Krisen überlebt und dem Land erlaubt, sich immer wieder neu zu erfinden. Während das Römische Reich zerfiel, reformierte sich China über Jahrhunderte hinweg weiter. Aufgrund dieser unglücklichen Vergleiche mit europäischen Mächten sehen wir China meiner Meinung nach anders als wir sollten. China weiß genau, welche Rolle es in der Region hat.
Was ist diese Rolle?
Natürlich will die chinesische Führung einen größeren Einfluss auf internationale Institutionen ausüben. Auf der anderen Seite ist China kein Land, das versucht herauszufinden, wer seine Nachbarn sind und wie es mit ihnen auskommt. Einer der großen Unterschiede zwischen China heute und Deutschland vor 100 Jahren ist, dass Chinas Nachbarn wissen, dass sie sich mit China arrangieren können. Vietnam und Korea beispielsweise haben seit tausend Jahren diplomatische Beziehungen zu China. Diese Länder machen sich keine Sorgen darüber, dass China sie militärisch angreifen könnte. Niemand denkt das. Chinas Platz in Ostasien unterscheidet sich also von der Geschichte der aufstrebenden Mächte in Europa. In Ostasien befürchtet niemand, nicht einmal die Japaner, dass eine chinesische Invasion drohen könnte.
Im historischen Ostasien hatte China jahrhundertelang eine sehr dominante Rolle gegenüber seinen Nachbarn. Gleichzeitig argumentieren Sie, dass heutzutage alle ostasiatischen Staaten die Regeln des westlichen Staatensystems befolgen. Wie relevant ist dann noch die Geschichte Ostasiens, wenn doch alle ostasiatischen Staaten mittlerweile die Regeln der heutigen internationalen Ordnung respektieren?
Das ist eine gute Frage. Es steht außer Frage, dass China die heutige internationale Ordnung akzeptiert. Tatsächlich ist das chinesische Regime eines der größten Verteidiger des Begriffs der Souveränität, das heißt der gegenseitigen Nichteinmischung in innere Angelegenheiten eines Staates. China pocht darauf und sagt dem Westen: „Sagt uns nicht, was wir mit Tibet, den Uiguren und Hongkong tun sollen.“ Sie lieben die Souveränität und in dem Punkt hat China die Regeln des Westens verinnerlicht. Es kann in Ostasien kein Zurück zum China-zentrierten Staatensystem der Vergangenheit geben.
Aber die Frage ist, wie tief das westliche internationale System in der chinesischen Psyche verwurzelt ist. Ich bin davon überzeugt, dass es sich in vielerlei Hinsicht eher um eine strategische Aneignung handelt. Die Chinesen kennen die Spielregeln. Sie sind von außen ein normales Land, sie führen diplomatische Beziehungen mit anderen Staaten, haben eine Flagge, sind Mitglied internationaler Organisationen. Doch ihre eigene Identität, ihre Beziehungen zu den Ländern um sie herum und ihr Wertesystem bleiben chinesisch. Wenn wir verstehen wollen, warum sie tun, was sie tun und wie sie sich selbst und ihre Beziehung zur Welt sehen, müssen wir die Geschichte Ostasiens verstehen, selbst wenn sich die chinesische Führung an die Regeln der internationalen Ordnung halten sollte.
David C. Kang ist Politikwissenschaftler an der University of Southern California in Los Angeles und ausgewiesener Kenner der politischen Lage in Ostasien. Durch seine Forschung und seine regelmäßigen Beiträge für renommierte Medien wie CNN oder die New York Times gehört er zu den führenden US-Experten für Chinas Außenpolitik.
In dem erwähnten Forschungspapier schreiben Sie, dass die Verteidigungsausgaben der Nachbarn Chinas in den letzten Jahrzehnten nicht gestiegen sind und es keine spürbare Tendenz gibt, ein Gegengewicht zu China zu bilden. Glauben Sie, dass sich diese Situation in Zukunft ändern wird, wenn die USA eine aggressivere Haltung gegenüber China einnehmen?
Laut Donald Trump steigen die Verteidigungsausgaben nicht, weil sich Chinas Nachbarn militärisch auf die USA verlassen. Dies ist bekanntlich seine Lieblingskritik an den meisten US-amerikanischen Allianzpartnern. Ob im Falle der NATO oder in Bezug auf Japan und Korea, Trump behauptet, dass die US-Partner nicht genug für ihre eigene Verteidigung tun.
Aber diese Perspektive ist problematisch. Denn es sind die USA, die viel mehr auf die Eindämmung Chinas bedacht sind als die Länder in der Region. Wie gesagt, Chinas Nachbarn müssen mit China leben. Und sie erkennen, dass ihre Beziehung zu China nicht militärisch geprägt sein wird. Die USA und Nordkorea beispielsweise haben militärische Beziehungen. Diese basieren auf Abschreckung: Die bedrohen uns. Wir bedrohen sie.
Unabhängig davon, ob die USA weiterhin Präsenz in der Region zeigen werden, setzen sie ihre Prioritäten zuerst auf wirtschaftliche und diplomatische Zusammenhänge. Das Erste, woran die Führung in Japan, Vietnam, Malaysia oder in den Philippinen denkt, ist die Frage, wie die Wirtschaft ihres Landes und der Handel mit China läuft. Das Militär ist eines der letzten Dinge, über die sich diese Länder bezüglich der Beziehungen zu China Sorgen machen. Falls die USA in der Region aggressiver werden sollten, ist es wahrscheinlich, dass sich viele dieser Länder heraushalten werden.
Wir Amerikaner übersehen, dass unsere ostasiatischen Partner einige, aber nicht alle amerikanischen Prioritäten teilen. Das Letzte, was diese Staaten wollen, ist, sich für eine Seite im chinesisch-amerikanischen Wettbewerb entscheiden zu müssen. Deswegen glaube ich, dass wir die Wahrscheinlichkeit eines neuen Kalten Krieges in Ostasien überschätzen. Wenn die USA beschließen, ihre aggressive Haltung gegenüber China fortzusetzen, wird dies nicht in einen Kalten Krieg münden, da sich viele Staaten in Ostasien am liebsten heraushalten wollen.
Was bedeutet das für Deutschland und Europa? Sie wissen, dass Deutschland sehr wichtige wirtschaftliche Verbindungen zu China hat. Sollte auch Deutschland versuchen zu vermeiden, sich auf eine der beiden Seiten schlagen zu müssen? Wenn Sie die Bundesregierung beraten würden, was wäre Ihr Rat?
Die Europäer versuchen, China dazu zu bringen, sich an die Regeln der Weltwirtschaft zu halten. Kein Diebstahl von geistigem Eigentum, keine einseitigen Handelsbeschränkungen durch Zölle, keine Verstöße gegen die Regeln der Welthandelsorganisation WTO. Der Weg, China dazu zu bringen, sich versöhnlicher zu verhalten, besteht nicht darin, mit einem Angriff zu drohen. Es geht darum, den wirtschaftlichen Austausch weiter voranzutreiben. Die Erfahrung in Ostasien lehrt uns, dass China dazu tendiert, mitzuziehen, wenn sich alle übrigen Länder über die Regeln einig sind.
Das sehen nicht alle so. Chinas Kritiker verweisen beispielsweise auf das Urteil des Internationalen Schiedsgerichts in Den Haag, das im Juli 2016 Chinas Hoheitsansprüche auf Inseln im Südchinesischen Meer zugunsten der Philippinen ablehnte. Was waren die Gründe Chinas, das Urteil zu ignorieren?
In der Tat hat China das Urteil offen abgelehnt. Aber wenn sie sich ansehen, was das Land seitdem getan hat, merken sie, dass China in der Praxis alle Entscheidungen stillschweigend mitgetragen hat. Die chinesische Führung versucht auszuloten, wie es sich zu internationalen Institutionen verhalten soll. Das tatsächliche Verhalten Chinas in den letzten vier Jahren zeigt doch, dass es sich überraschenderweise an die meisten Regeln hält. Was wir nicht erwarten dürfen, ist die naive Vorstellung, dass China alle internationalen Regeln mit voller Transparenz einhält. Das wird nicht passieren. Als US-Bürger bin ich darauf nicht stolz, aber die USA halten sich auch nicht an alle Regeln. Wir verstoßen gegen Regeln, wenn wir wollen, aber in den meisten Fällen halten wir uns an die Regeln, und genauso geht China derzeit mit dem Urteil um.
Das britische Magazin „Economist“ fragte kürzlich, ob China wegen der Corona-Pandemie das große globale Machtspiel gewinnen könnte. Wie hat Corona die Außenpolitik Chinas verändert?
Ich denke, die Pandemie wird nicht so bedeutend für Chinas Aufstieg sein, wie manche vermuten. Offensichtlich hat die Pandemie massive wirtschaftliche Auswirkungen auf jedes Land der Welt. Aber speziell bei der Frage, ob andere Länder China anders sehen werden, glaube ich nicht, dass sich etwas gravierend ändern wird. Ja, das Virus stammt aus China. Ja, anfangs ist die chinesische Regierung sowohl auf Zentral- als auch auf Provinzebene unglaublich schlecht mit dem Ausbruch der Covid-19-Erkrankung umgegangen. Es wurde gelogen, verschleiert, vertuscht.
Was seitdem passiert ist, zeigt allerdings, dass die Chinesen sich in Sachen Krisenmanagement verbessert haben. Leider, so schlimm es auch in China war, denke ich, dass die Chinesen besser damit umgehen als unsere US-Regierung. Die gegenwärtige Krise könnte tatsächlich ein Ansporn für China sein, transparenter, aber auch zentralistischer zu werden. Die Chinesen haben erkannt, dass die lokalen und regionalen Strukturen nicht gut genug waren, um auf die Pandemie angemessen zu reagieren. Es gibt jetzt einen echten Anreiz für eine bessere Regierungsführung in China.
Eine letzte Frage zu den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA. Hat China einen Favoriten im Rennen zwischen Trump und Biden?
Soweit ich das einschätzen kann, würde die chinesische Führung gerne eine zweite Amtszeit von Donald Trump sehen. Eine Präsidentschaft von Joe Biden wäre viel professioneller. Biden ist ein amerikanischer Mainstream-Politiker. Ich denke, die Chinesen wissen genau, wie sie mit Trump umgehen müssen. Der Handelskrieg hat den USA mehr geschadet als China und wurde nicht mal wirklich umgesetzt. Trumps China-Politik ist insgesamt unzusammenhängend. Die Chinesen glauben zu wissen, wie sie mit diesem Präsidenten ihre Interessen schützen können. Zudem hat Trump die US-amerikanischen Allianzpartner in der Region geschwächt. Deswegen denken die Chinesen, dass sie durchaus auch mit vier weiteren Jahren Trump fertig werden können.
Redaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Verena Meyer