Kilometer 0: Eine Pipeline im Wald (Ramore, Ontario)
Wir sind hunderte Kilometer auf Straßen gefahren, die sich gerade bis zum Horizont strecken, durch Wälder und Seen, Holzhäuser und Tagebauten und stehen vor einem brummenden Stück Erde mit einem Zaun und einem Schild: Kompressionsstation 105. Betreten verboten.
Es ist der Beginn unserer Reise.
Blickt man nach Westen, sieht man in einem Korridor von 30 Metern Breite keinen Baum. Wie unter einer baumlosen Autobahn schlängelt sich die Trans-Kanada-Pipeline 3.000 Kilometer aus den gasreichen Gebieten Albertas nach Osten. Genau hier knickt sie nach Süden ab und läuft nach Montreal, der zweitgrößten Stadt Kanadas.
Hier, an Kompressionsstation 105, könnte ein neues Teilstück der Pipeline entstehen. 784 Kilometer lang, 14 Milliarden kanadische Dollar schwer: Das Gazoduq-Projekt, benannt nach der Firma, die den Bau plant. Die Pipeline soll das Erdgas aus Alberta bis zur Ostküste Kanadas bringen. Dort wird es von GNL Québec, der Muttergesellschaft von Gazoduq, verflüssigt, und nach Europa verschifft. Dort könnte es den deutschen Kohleausstieg vorantreiben. Der Bau der Pipeline soll 2022 beginnen – wenn es die Genehmigungen vom Staat gibt.
Die unterirdische TC-Energy-Pipeline durchquert Kanada wie eine 3.000 km lange Autobahn, auf der kein Baum wachsen darf. Hier in Ramore (Ontario) wird die Gazoduq-Pipeline angeschlossen. Philippe Pernot, 13.09.2019 Philippe Pernot
In der Klimakrise ist Erdgas eine beliebte Alternative zu Erdöl oder Kohle. Es besteht aus Methan und wird durch Bohrung oder Fracking gewonnen. Es wird als Brückentechnologie bezeichnet für Länder, die aus der Kohle aussteigen, aber noch nicht genug Energie aus nachhaltigen Quellen produzieren. Länder wie Deutschland.
Der Clou: Es soll das grünste Erdgas der Welt sein.
Die beiden Firmen behaupten: Erdgas ist die sicherste und grünste aller fossilen Energien. Und die Verflüssigungsanlage in Ostkanada soll die grünste Anlage ihrer Art weltweit sein – klimaneutral.
Aber wie grün ist dieses Erdgas wirklich? Um das herauszufinden, sind wir am gesamten Verlauf der geplanten Pipeline, von der Kompressionsstation bis zur Verflüssigungsanlage entlanggefahren, wir haben mit Wissenschaftler:innen, Politiker:innen und Aktivist:innen gesprochen. Hier kommen sie zu Wort.
Kilometer 100, Lac d’Alembert: Von Natur und Tradition
Mitten im Wald, an der Grenze zwischen Ontario und Québec, steigen Dutzende von Menschen aus Schulbussen. Sie wollen gegen die Pipeline demonstrieren. Sie singen, rufen politische Slogans aus, klatschen und entfalten ein großes Banner: Gazoduq ça passe pas, Gazoduq kommt hier nicht durch. Joel Godard ist einer von ihnen.
Godard ist ein „Métis“, ein Nachfahre der First Nation der Mi’k-Mak und weißer Bauern und Arbeiter, die hier in den 1930-er Jahren angesiedelt wurden. Nach der Demonstration lädt er uns zu einem Besuch des Gemeinschaftsterritoriums am d’Alembert-See ein.
Wir stehen auf einem Holzsteg, wo ein Kanu wartet. Vor uns erstrecken sich der See und der Wald. „Die Pipeline wird dort entlanglaufen”, sagt Godard und zeigt auf das andere Ufer des Sees. „Ein 30 Meter breiter Korridor, der an der Grenze unseres Landes verläuft, an Häusern und Gärten entlang. Man kann sich vorstellen, was das an Fauna und Flora anrichten wird.“
Mitglieder verschiedener Umweltschutz-Bündnisse singen an der Grenze zwischen Ontario und Québec Slogans gegen das Erdgasprojekt, 14.09.2019. Philippe Pernot
Für Godard und viele Einwohner der Region ist die Jagd und das Sammeln von Wildfrüchten und Wurzeln Teil der Tradition seiner Vorfahren. Er kauft so wenig im Supermarkt wie möglich. Stolz zeigt er uns Fische und Wildbeeren, die er für den Winter eingefroren hat. Und er macht sich Sorgen, ob das alles so weitergehen kann:
„Der Elch ist für uns heilig. Die Pipeline wird sein Territorium durchteilen. Er bewegt sich nicht ohne Deckung, denn im Freien ist er verwundbar. Ich habe beobachtet, dass er immer tiefer in den Wald vordringen muss, um vor den Menschen zu fliehen. Die wachsende Industrialisierung beeinflusst unser Verhältnis zu ihm, und diese neue Pipeline wird sicherlich unser Recht auf die traditionelle Jagd gefährden.“
Kilometer 200, Val d’or: Von Gold und Wirtschaftswachstum
Die 105 Kilometer lange Straße, die südlich vom Lac d’Alembert nach Val d’Or führt, führt an etlichen Goldgruben vorbei. Die Stadt Malartic wurde teilweise zerstört und einen Kilometer weiter neu aufgebaut, um das Bergwerk zu vergrößern. Die Kirche blieb bisher unangetastet, obwohl sich unter ihr ein großes Goldvorkommen befindet.
Die „Canadian Malartic“ Goldgrube in Malartic, 15.09.2019. Philippe Pernot
Einige Kilometer weiter, in der weißen Siedlerstadt Val d’Or empfängt uns Pierre Corbeil, Präfekt der Regionalgemeinde, zum Gespräch. Der frühere Minister und Abgeordnete der Liberalen Partei Quebecs sieht Erdgas als Übergangsenergie durchaus positiv, obwohl er, was die Pipeline angeht, noch keine finale Entscheidung getroffen hat.
Er sagt: „Erdgas ist eine Übergangstechnologie. Es ist sinnvoll, es in Länder zu exportieren, die auf nachhaltige Energien umsteigen wollen. Ich weiß, manche wollen die Energiewende noch weiter beschleunigen, aber die menschliche Natur verlangt Übergänge, wie sie Erdgas bietet. Es gibt keine Wunderwaffe gegen den Klimawandel.“
Ob es die neue Pipeline geben wird, hängt davon ab, ob die Firmen die staatlichen Aufsichtsbehörden und die Öffentlichkeit davon überzeugen kann, dass ihr Projekt weder Fauna noch Flora gefährden wird. Im Januar veröffentlichte Gazoduq eine detaillierte Beschreibung der Pipeline, demnächst sollte eine öffentliche Konsultation folgen – die staatliche Genehmigung könnte nächstes Jahr erteilt werden, sodass der Bau 2022 starten könnte. Die Leute von GNL Quebec, sagt Pierre Corbeil, brauchen hier viel Überzeugungskraft. In diesem Teil Kanadas sei Erdgas eine relativ unbekannte Energie – der Überfluss an Wasserkraft macht alles billig. „Die Firma hat eine gewaltige Aufgabe zu erfüllen“, sagt er. „Aber ihre Leute haben einen sehr offenen Ansatz. Das verbessert ihre Chancen.“
Im Juni 2020 kündigte die Regierung von Québec einen umstrittenen Gesetzentwurf zur Wiederbelebung der Wirtschaft nach Covid-19 an. Unter den vorgeschlagenen Maßnahmen: die Lockerung der Umweltvorschriften zur Genehmigung von Bauvorhaben in Quebec gegen eine finanzielle Entschädigung. Dieser Gesetzentwurf kommt zur rechten Zeit für die Projekte der Öl- und Gasindustrie, die während der Corona-Krise auf Standby waren.
Tatsächlich haben GNL Québec und Gazoduq insgesamt 27 Lobbyisten und mehrere Public-Relations-Firmen angeheuert und folgen einer strengen Kommunikationsstrategie. Wie viele andere Journalist:innen hatten auch wir große Schwierigkeiten, ein Interview mit GNL Québec und Gazoduq zu bekommen. Fast zehn Mails blieben unbeantwortet und wir wurden aus einer Pressekonferenz verwiesen.
Kilometer 784: Saguenay, Québec: Entwicklung
Hunderte von Kilometern weiter östlich liegt der Saguenay-Fjord. Zwischen den grünen Wäldern und dem dunkelblauen Wasser liegen kleine Hafenstädte. Dort, in dieser stolzen und beliebten Tourismusregion, sollen Verflüssigungsanlage und industrieller Hafen gebaut werden. Von dort aus könnte das Erdgas nach Europa gebracht werden. Dann könnten zu den Kreuzfahrtschiffen, Kajaks und Segelbooten hunderte Gastanker dazukommen.
Neben Kreuzfahrtschiffen, Segelschiffen und Kanus könnten innerhalb weniger Jahre auch 150 bis 200 LNG-Tanker jährlich den Fjord überqueren. Naturresort Cap Jaseux, 6.09.2019. Philippe Pernot
Die Stimmung in Saguenay-Lac-Saint-Jean ist gespalten. Ein Kilometer vor dem Bauort der Verflüssigungsanlage fürchten Einwohner, sie müssten wegen Lärm und Feinpartikelausstößen wegziehen. Andere versichern: „Niemand kann den Fortschritt stoppen.“ Das Unternehmen verspricht, dass in Saguenay 1.300 Jobs in und um die Anlage entstehen werden, gut bezahlte Jobs.
Einer, der das Projekt kritisiert, ist Adrien Guibert-Barthez, Student und Sprecher der Umweltschutzgruppe „Coalition Fjord“. Er sagt: „Die Behauptung, Erdgas sei eine Übergangsenergie, ist irreführend. Bis wann wird dieser Übergang dauern? Es gibt kein Ablaufdatum für solche Projekte. Stattdessen wird für ewige Zeiten Öl- und Gasinfrastruktur gebaut, obwohl Erneuerbare heute teilweise schon billiger sind als fossile Energien.“
Er versteht, dass sich viele Einwohner:innen Entwicklungsmöglichkeiten für die Region wünschen. „Aber wieso können wir nicht lokalen Unternehmen helfen, die schon in der Region tätig sind? Zum Beispiel geht es der Forstwirtschaft nicht gut, man könnte sie mit dem Ausbau der Biomasse als Heizmaterial unterstützen.“
Bei Vollbeschäftigung und Arbeitskräftemangel wird es aber „wahrscheinlich dazu kommen, dass Menschen die Forstwirtschaft verlassen, um einen besser bezahlten Job bei GNL Québec anzunehmen“, sagt Guibert-Barthez.
Die Coalition Fjord, eine Gruppe von Bürger:innen und Aktivist:innen, wurde vor einem Jahr gegründet, um sich der Industrialisierung des Saguenay Fjords „durch Großunternehmen“ zu widersetzen. Die Aktivist:innen vermitteln ein Gefühl der Dringlichkeit, denn am Ufer des grünen Fjords soll nicht nur die Verflüssigungsanlage von GNL Québec gebaut werden, sondern auch ein industrieller Hafen für den Export von Phosphor und ein weiterer für ein Bergbauunternehmen, Metaux BlackRock. Die Planung der Verflüssigungsanlage unterläuft gerade einer staatlichen Untersuchung, der Bau könnte bereits 2021 beginnen.
Die Mitglieder der Coalition Fjord befürchten als Folgen die Verschmutzung von Luft und Wasser, Bodenkontamination und Lärmbelästigung. „Wenn diese drei Projekte verwirklicht werden, sind alle unsere Bemühungen, den CO2-Ausstoß zu reduzieren, wie der Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs oder das Recycling, nutzlos!“, sagt Guibert-Barthez.
GNL Québec verspricht, dass die Verflüssigungsanlage klimaneutral sein werde. Das könnte stimmen: Dank des kalten Klimas, der Stromversorgung durch Wasserkraft und der zusätzlichen Herstellung von Biogas aus Holzabfall könnte die Verflüssigungsanlage ihre Emissionen kompensieren.
Das behaupten zumindest zwei wissenschaftliche Studien von den Universitäten Montréal und Québec im Auftrag von GNL Québec. Das Gesamtprojekt, also Fracking, Pipeline, Verflüssigung und Verschiffung, könnte im globalen Maßstab bis zu 28 Megatonnen CO2-Äquivalente einsparen, aber nur, wenn das Erdgas in Europa und China tatsächlich zum Ausstieg aus Kohle und Öl eingesetzt wird.
„Dieses Szenario ist optimistisch, und wir können uns nicht über die reale Lage der Märkte in Europa und China äußern“, sagt Pierre-Olivier Roy, Verfasser der Studie. Aktivist:innen befürchten, dass das Gas in Europa und China nicht etwa die Energie aus Kohle ersetzt, sondern erneuerbare Energien, und dass es die Nachfrage für fossile Energien nur steigern wird.
Auf der anderen Seite des Atlantik, 5.000 Kilometer weiter östlich, sehen das Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und seine Partei, die regierende CDU, anders. „Gas ist sexy“, sagt Altmaier.
Für ihn gilt es, wie für die Befürworter:innen des kanadischen Projekts, als Brückentechnologie: Weil so viele Kohlemeiler abgeschaltet werden, brauche es Gas, bis das Land komplett mit erneuerbarer Energie laufen könne. Die Bundesregierung will deswegen, dass in Deutschland Anlagen entstehen, an denen nordamerikanisches Erdgas angelandet werden kann. In der engeren Auswahl der Standorte sind Brunsbüttel (Schleswig-Holstein), Wilhelmshaven und Stade (Niedersachsen).
Was Altmaier nicht sagt: Fracking-Gas ist deutlich klimaschädlicher als herkömmliches Erdgas, da bei dessen Förderung große Mengen des hochpotenten Treibhausgases Methan entstehen. Gleichzeitig, so die Kritik von Klimaschützer:innen, werde mit den Anlagen neue fossile Infrastruktur geschaffen, während es doch eigentlich darum gehen müsse, sie zurückzubauen.
Ob die Anlagen gebaut werden, ist noch nicht klar. Aber die Kritik an dem Vorhaben wächst. Es steht die Frage im Raum, ob es hier wirklich nur um Klimapolitik geht. Oder nicht doch um Geopolitik.
Denn die US-Regierung unter Donald Trump will, dass insbesondere Deutschland das (teurere) Fracking-Gas ihrer Produzenten importiert anstelle von russischem Gas. Diesen Forderungen schickten sie indirekt Sanktionsdrohungen mit. Öffentlich gibt niemand zu, dass die neue Erdgas-Infrastruktur nur dazu dienen soll, die US-Regierung zu beschwichtigen. Hinter vorgehaltener Hand sind sich aber viele Beobachter:innen einig, dass dieses Argument ausschlaggebend ist.
Profitieren würden am Ende natürlich auch die Kanadier.
Mitarbeit: Rico Grimm, Redaktion: Philipp Daum, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Martin Gommel.