Es ist der 6. März 2020, im Bauernhof des rechtsextremen Verlegers Götz Kubitschek in Schnellroda. Das AfD-Netzwerk „Flügel“ trifft sich. Der thüringische Landesvorsitzende Björn Höcke spricht davon, parteiinterne Gegner:innen „auszuschwitzen“. Die Anwesenden? Jubeln. Das zeigt ein später veröffentlichtes Video des Treffens. Dem „Flügel“ gehören etwa 20 Prozent aller AfD-Mitglieder an.
Zwei Wochen nach dem Treffen fordert der Bundesvorstand den Flügel auf, sich selbst aufzulösen. Zuvor hatte das Bundesamt für Verfassungsschutz das Netzwerk offiziell als Beobachtungsfall eingestuft. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang erklärte: Der Flügel verfolge „extremistische Bestrebungen“ gegen die Demokratie Deutschlands. Deswegen könne sein Nachrichtendienst die Flügel-Mitglieder nun mit allen Mitteln überwachen und zum Beispiel gezielt Informant:innen anwerben.
Daraufhin erklärte Andreas Kalbitz, der zweite wichtige Flügel-Mann: „Wir werden den Bundesvorstandsbeschluss umsetzen.“ Kalbitz ist AfD-Landes- und Fraktionschef in Brandenburg und hat laut Spiegel über 14 Jahre Kontakt zu dem 2009 verbotenen neonazistischen Verein „Heimattreue Deutsche Jugend“ (HDJ) gehalten. Zuvor bekräftigte Björn Höcke, AfD-Fraktionsvorsitzender in Thüringen, bereits die Entscheidung im Interview mit einem rechten Magazin: Man wolle „nicht zu denjenigen gehören, die sich durch verknotete Netzwerke daran hindern lassen, an der Stabilisierung der Partei mitzuarbeiten.“
Tragen Höcke, Kalbitz und die anderen Flügel-Leute nun die Konsequenzen für ihren Rechtsextremismus? Einerseits hat der Verfassungsschutz das Netzwerk tatsächlich in Bedrängnis gebracht. Andererseits ist der Flügel mehr Symbol einer Gesinnung als eine wirkliche Organisation.
Und Höckes Aussagen zeigen: Die Selbstauflösung lässt sich auch anders deuten. Sie passt geradezu perfekt in die sorgsam ausgearbeitete Strategie, mit der die extreme Rechte in Deutschland an die Macht gelangen will.
Die Auflösung des „Flügels“ ermöglicht die Selbstinszenierung als „bürgerliche Partei“
Dass ein Teil von ihr vom Verfassungsschutz beobachtet werden soll, ist für die AfD ein Problem. Denn sie braucht sogenannte bürgerliche Wähler:innen, um langfristig ihre Macht auszubauen. Die aber könnten davor zurückscheuen, eine Partei zu wählen, in der viele Mitglieder nun amtlich bestätigt als extremistisch gelten. Außerdem steht immer noch im Raum, dass der Verfassungsschutz die Beobachtung auf die ganze Partei ausweitet.
Sollten die „Gestaltungs- und Beeinflussungsspielräume“ des Flügels in den nächsten Monaten weiter zunehmen, komme „auch für die Gesamtpartei eine Hochstufung zum Beobachtungsobjekt (Verdachtsfall) in Betracht“, heißt es in dem entsprechenden Gutachten.
Die Auflösung ist daher konsequent: Einmal vollzogen, kann die AfD sich als vom Rechtsexremismus befreit inszenieren. Und diese Fassade einer „bürgerlich-konservativen Volkspartei“ dürfte gerade jetzt besonders wichtig werden: Die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Folgen der Corona-Krise sind derzeit noch nicht abzusehen. Doch wahrscheinlich werden zahlreiche Arbeitnehmer:innen ihre Jobs und Unternehmer:innen ihre Firmen verlieren oder sich verschulden müssen. Soziale Ungleichheit wird in sämtlichen Bereichen durch die Pandemie weiter verstärkt. Und wirtschaftliche Unsicherheit lässt Menschen eher Rechtsextreme wählen, das zeigen die Erfahrungen des vergangenen Jahrzehnts. 2021 steht die nächste Bundestagswahl an.
Gelingt es der AfD, ihr extremes Gesicht bis dahin glaubwürdig hinter der Maske der „Bürgerlichkeit“ zu verstecken, könnte sie möglicherweise einen enormen Zuwachs an Stimmen verbuchen. Um das zu erreichen, wird sie in den kommenden Monaten wohl noch stärker als zuvor auf eine Strategie setzen, die sie bereits in den letzten Wahlkämpfen anwendete.
Eine Strategie der Neuen Rechten: Selbstverharmlosung
„Selbstverharmlosung (…) ist der Versuch, die Vorwürfe des Gegners durch die Zurschaustellung der eigenen Harmlosigkeit abzuwehren und zu betonen, dass nichts, von dem, was man fordere, hinter die zivilgesellschaftlichen Standards zurückfalle“, schreibt Götz Kubitschek, Vordenker der extremen Rechten in Deutschland, in einem 2017 veröffentlichten Essay.
Darin umreißt er die Strategie, mit der die Rechte die „emotionalen Barrieren“ einreißen will, die die „Normalbürger“ bislang daran hindern, die AfD zu wählen. Im Klartext heißt das: Kubitschek überlegt ganz offen, wie konservative und bürgerliche Wähler:innen über die Ziele der extremen Rechten getäuscht werden können. Denn diese Wähler:innen brauche es „zur Eroberung (…) der parlamentarischen Verfügungsräume“, also um an die Macht zu kommen. Er schlägt dafür drei „ineinander verschränkte Methoden“ vor.
Die erste ist die der Provokation und bewussten Grenzüberschreitung. Dafür gelte es, immer wieder „in Grenzbereiche des gerade noch Sagbaren und Machbaren provozierend vorzustoßen und sprachliche oder organisatorische Brückenköpfe zu bilden, zu halten, zu erweitern und auf Dauer zum eigenen Hinterland zu machen. Das ist (…) nichts anderes als die Schaffung neuer Gewohnheiten“, schreibt er.
Die breite Gesellschaft soll an rechte Positionen und extremes Gedankengut gewöhnt werden. Was einst Empörung hervorrief, soll in Kultur und Sprachgebrauch einsickern. Ein Beispiel ist die Rede der Fraktionsvorsitzenden Alice Weidel im Bundestag, in der sie von „Kopftuchmädchen, alimentierten Messermännern und sonstigen Taugenichtsen“ sprach.
Die zweite ist die der Auflösung klarer Fronten zwischen der extremen Rechten und konservativen Parteien wie der CDU. Diese sogenannte Verzahnung soll ein Gegengewicht zur ersten Methode sein und für politische Gegner:innen ein „unklares Lagebild“ schaffen: Wenn die AfD in einigen Politikbereichen inhaltlich ähnliche Positionen wie die CDU vertritt, fällt es deren Politiker:innen deutlich schwerer, ihre Abgrenzung zur AfD verständlich zu begründen. Das wiederum erschwert auch Bürger:innen die Unterscheidung zwischen konservativ und rechts.
Ein Beispiel „verzahnter“ Positionen ist die inhaltliche Nähe von AfD und CDU-naher Werteunion in einigen Themengebieten. Ein anderes ist das jüngste Lob von Alexander Gauland, AfD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, für die aktuelle Grenzpolitik der Bundesregierung: „Man kann also die Grenzen schützen und wir werden die Regierung bei Gelegenheit daran erinnern“, sagte er im Bundestag.
Die dritte und laut Kubitschek wichtigste Methode ist die oben erwähnte Selbstverharmlosung: Die eigentlichen Ziele der Bewegung wollen die Rechtsextremen verschleiern, um sich selbst als harmlos präsentieren zu können. Denn nur so lasse sich letztlich die breite Masse der Wähler:innen gewinnen. Schließlich bestehe die Gefahr der ständigen Provokation darin, als „Gefährder des gesellschaftlichen Friedens und der jahrzehntelang gültigen Spielregeln geächtet zu werden“ – und deshalb trotz aller Sympathien als unwählbar zu gelten.
Kubitschek fordert, diese „emotionale Barriere“ durch die Vortäuschung von „Unterschiedslosigkeit“ abzusenken. Das geschieht bereits: Ob in Talkshows oder bei Wahlkampfauftritten; die AfD inszeniert sich permanent als eigentlich harmlose „bürgerlich-konservative Volkspartei“.
Die Selbstauflösung des Flügels fügt sich perfekt in diese Strategie. Und vieles deutet darauf hin, dass sein Einfluss hinter den Kulissen nicht kleiner werden wird, im Gegenteil.
Höckes Aussagen zeigen, dass der „Flügel“ weiterhin den Kurs der AfD bestimmen wird
„Ich habe klar gesagt, dass Björn Höcke in der Mitte der AfD steht“, erklärte Alexander Gauland vergangenen Herbst. Das war nicht immer so. Nach Höckes Dresdner Rede vom 17. Januar 2017, in der er das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal der Schande“ bezeichnete, leitete der damalige Bundesvorstand unter Leitung von Frauke Petry ein Parteiausschlussverfahren ein, auch wegen seiner Beiträge in NPD-Zeitschriften unter dem Pseudonym „Landolf Ladig“. Das Ergebnis ist bekannt: Petry verließ die Partei, Gauland und Weidel übernahmen, und die AfD zog erstmals in den Deutschen Bundestag ein. Das Ausschlussverfahren lief ins Leere, und die Partei rückte unter Einfluss des Flügels immer weiter nach rechts.
„Wir alle wissen, dass der Flügel vor fast genau fünf Jahren mit der ‚Erfurter Resolution‘ sein Gründungsdokument vorlegte, um den Einbau der AfD ins Establishment zu verhindern“, sagt Höcke im Gespräch mit Kubitschek kurz nach der Auflösungsforderung des AfD-Bundesvorstands. Das sei erfolgreich verhindert worden. Deshalb hätte der Flügel schon vor dem eigentlichen Vorstandsbeschluss begonnen, sich selbst aufzulösen.
Höckes Aussage belegt dreierlei: Der Flügel wurde gegründet, um die Partei immer weiter nach rechts zu führen (was er geschafft hat). Die Gruppierung ist sich der eigenen Macht innerhalb der AfD sehr bewusst. Und deshalb ist auch in Zukunft keine Distanzierung von rechtsextremen Inhalten zu erwarten, im Gegenteil: Die Bewegung hält sich inzwischen für einflussreich genug, um inhaltlich in der Gesamtpartei aufzugehen – und sich damit selbst überflüssig zu machen.
All das zeigt: Der „Flügel“ ist bereits die AfD. Seine Auflösung ist eine durch den Verfassungsschutz beschleunigte Bekräftigung der eigenen Macht. Höcke selbst sagt, es brauche jetzt einen „neuen Impuls, der über den Flügel hinausgeht.“ Schließlich sei dieser „ebenso wie die Partei kein Selbstzweck.“ In anderen Worten: Er verfolgt einen politischen Auftrag. Daran wird sich durch die formale Auflösung des Flügel nichts ändern: „Andreas Kalbitz, ich selbst und alle anderen politikfähigen Flügler werden ihren politischen Kurs im Sinne der AfD weiterführen“, erklärt Höcke selbstbewusst am Ende des Interviews.
Hinter der neuen Fassade der „Bürgerlichkeit“ versteckt die AfD ihr extremes Gesicht
„Letztlich ist es das Ziel der radikalen Rechten, den verhassten Liberalismus abzuschaffen und individuelle Freiheiten kollektiven Zwängen unterzuordnen“, schreibt Rechtsextremismus-Experte Matthias Quent in seinem neuen Buch „Deutschland rechts außen: Wie die Rechten nach der Macht greifen und wie wir sie stoppen können“.
Höcke, Kalbitz und der Flügel wissen: Um ihr Ziel zu erreichen, müssen sie Wahlen gewinnen. Dafür setzen sie auf „Selbstverharmlosung“. Die Auflösung des Flügels lässt sich hervorragend als Teil dieser Strategie einsetzen: Die Fassade der Partei wird gesäubert. Inhaltlich färbt sie sich weiter braun. Und vor uns steht höchstwahrscheinlich eine lange Phase der wirtschaftlichen Unsicherheit – der perfekte Nährboden für rechte Parteien. Das macht die AfD jetzt gefährlicher denn je.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel