War die Wahl ein abgekartetes Spiel?
Eines vorweg: Ob es direkte Absprachen zwischen der AfD und der FDP gab, ist bisher nicht bekannt und wird von den Beteiligten verneint. Dubiose Hinterzimmergespräche wie in House of Cards gab es wohl nicht. Dafür spricht vor allem das chaotische Verhalten der Parteien nach der Wahl, aber auch Aussagen der AfD, die ihren erfolgreichen Plan feiern. Trotzdem gibt es drei „Aber“.
Erstens gab es schon im November erste Versuche der AfD, mit CDU und FDP gemeinsame Sache zu machen. Der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke bot den Parteien eine neue Art der Zusammenarbeit oder eine Expertenregierung an. Hauptsache: Der Linke Bodo Ramelow ist weg. Damals haben CDU und FDP das Angebot abgelehnt. Sie wussten aber dadurch, dass die AfD eine:n Kandidat:in unterstützen könnte. Deswegen verzichtete die CDU auch auf eine:n eigenen Kandidat:in. So hat CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer es nach der Wahl nochmal betont.
Zweitens war das Szenario auch schon vor der Wahl bekannt. Nicht nur der Thüringer Journalist Martin Debes wusste Bescheid, auch der SPD-Vorsitzende Wolfgang Tiefensee fragte den FDP-Landeschef Thomas Kemmerich am Morgen des Wahltages, ob an den Gerüchten etwas dran sei.
Drittens waren Kemmerich und seine Parteikollegen auf die Möglichkeit der direkten Unterstützung durch die AfD vorbereitet. Sie haben überlegt, ob man sich aufstellen soll. Und sich dafür entschieden. FDP-Chef Christian Lindner hat grünes Licht für die Kandidatur gegeben. Währenddessen hat Annegret Kramp-Karrenbauer die FDP vor der Kandidatur gewarnt und sie gebeten, aus den bekannten Gründen eben nicht zu kandidieren. Die Thüringer CDU hat mit der Wahl von Kemmerich übrigens ausdrücklich gegen die Empfehlung der Bundespartei gehandelt.
Neue Recherchen der FAZ haben aber ergeben, dass einige rechte CDU-Abgeordnete der AfD schon in der Nacht zu Mittwoch den Plan verraten hätten, im letzten Wahlgang Kemmerich zu wählen. Das sei die Grundlage für den Plan der AfD gewesen, berichten AfD-Abgeordnete der FAZ. Das heißt nicht, dass es einen Plan gab, aber es zeigt sehr deutlich, dass die CDU-Abgeordneten sehr genau wussten, was sie tun. Ob sie die Reaktionen unterschätzt haben oder dachten, die Kontrolle über die Debatte behalten zu können, bleibt aber unklar.
Warum musste es überhaupt so weit kommen?
Ende Oktober wurde in Thüringen ein neuer Landtag gewählt. Damals war recht schnell klar, dass es kaum Möglichkeiten gibt, wie eine Regierungskoalition gebildet werden kann. Das regierende Bündnis aus Linke, SPD und Grünen hat die eigene Mehrheit verloren, die CDU hat auch verloren und die AfD kräftig zugelegt Deswegen gab es nur die Möglichkeit einer Minderheitsregierung beziehungsweise einer Regierung wechselnder Mehrheiten. Dies hätte bedeutet: Ramelow hätte für jedes seiner Vorhaben neue Mehrheiten finden müssen. Er brauchte aber, um überhaupt Ministerpräsident werden zu können, Stimmen der CDU (oder der FDP). In der CDU gab es damals große Diskussionen, ob man eine Minderheitsregierung unter dem Linken Ramelow akzeptieren könnte. Das Ergebnis: Nein, könnte man nicht. Deswegen stimmte die CDU geschlossen gegen Ramelow und für den FDP-Kandidaten.
Viele KR-Leser:innen haben mich in den letzten Tagen gefragt, warum die CDU Ramelow partout nicht wollte. Für viele in der Thüringer CDU bleibt die Linke auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung die Nachfolgepartei der SED. Und damit verantwortlich für Unterdrückung und Schießbefehle. Das hat sich auch immer im Wahlkampf gezeigt, in dem Ramelow oft als rote Gefahr dargestellt wurde.
Dabei haben damals schon Umfragen gezeigt: Mehr als die Hälfte der CDU-Anhänger:innen halten Ramelow für einen guten Ministerpräsidenten. Und auch innerhalb der Abgeordneten gab es einige, die zumindest eine Tolerierung befürworten. Als sich dann der ehemalige Bundespräsident Joachim Gauck zu Gesprächen mit den Vorsitzenden von Linke und CDU traf, um zu vermitteln, schien zumindest ein Burgfrieden möglich.
Aber es gibt immer noch eine Unvereinbarkeitserklärung in der CDU: keine Zusammenarbeit mit der Linken, nirgendwo. Und so blieb Ramelow nichts anderes übrig, als es einfach zu probieren. Seine alte Koalition arbeitete einen Koalitionsvertrag aus. Am Mittwoch wollte Ramelow sich dann zum Ministerpräsidenten wählen lassen. Die CDU hatte keine:n Kandidat:in aufgestellt, nur die AfD hat mit dem parteilosen Christoph Kindervater einen Gegenkandidaten. So war die Ausgangssituation am Mittwochmorgen.
Was genau ist dann bei dieser Wahl passiert?
Die Ministerpräsidentenwahl funktioniert ähnlich wie die Bundeskanzler:innenwahl, den oder die wir auch nicht direkt wählen. Stattdessen wählen die Abgeordneten in einer geheimen Wahl eine:n Kandidat:in. In Thüringen gibt es aber eine Besonderheit, die auch im Vorfeld für Diskussionen gesorgt hatte. Hier kann der Ministerpräsident im dritten Wahlgang auch gewählt werden, wenn er einfach mehr Stimmen als andere Kandidat:innen erhält.
In Thüringen ist der Plan von Bodo Ramelow nicht aufgegangen, denn im dritten Wahlgang hat die FDP, die selbst nur 5 Sitze im Thüringer Landtag hat, Thomas Kemmerich aufgestellt. Sie selbst sagt: als Kandidaten der Mitte. Das hat sie erst so spät getan, weil Kemmerich vorher ohnehin chancenlos war. Das bekannte Ergebnis: Die AfD lässt ihren eigenen Kandidaten fallen und wählt gemeinsam mit FDP und CDU Kemmerich zum Ministerpräsidenten.
Warum haben sich so viele Menschen darüber empört und sprechen von Tabubruch? Es war eine demokratische Wahl.
Das Ergebnis erschüttert erst den Landtag, dann die sozialen Netzwerke und die Medien. Der Tenor: Kemmerich ist ein Ministerpräsident von der Gnade der AfD. Außerdem ohne Programm, ohne Plan für Minister:innenposten, ohne Mehrheiten. Aber das hat in der Diskussion kaum eine Rolle gespielt. Viel wichtiger war: Kemmerich hat sich von der AfD wählen lassen. Nur um Bodo Ramelow zu verhindern und an die Macht zu kommen, hat er die Hilfe der AfD angenommen – ausgerechnet von dem extremsten Landesverband mit Björn Höcke, der für NPD-Zeitschriften schrieb und den rechtsextremen Flügel der Partei repräsentiert.
Zum allerersten Mal haben in der Bundesrepublik Deutschland Rechtsextremisten entschieden, wer an die Macht kommt. Darin lag der Tabubruch. Das war das, was viele als „historischen Moment“ bezeichneten.
Es geht aber noch weiter: Kemmerich hat mit der CDU gerade mal 26 Stimmen im Landtag, was bei weitem nicht genug ist, um Gesetzesinitiativen durchzubringen. Weil Linke, SPD und Grüne aber schnell klargemacht haben, mit dem arbeiten wir nicht zusammen, bleibt nur die AfD. Kemmerich wäre also auf die AfD angewiesen. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich vorzustellen, wie so eine Regierungsarbeit aussehen könnte.
Ein Beispiel: Kemmerich hat im Wahlkampf von schnellerem Internet gesprochen. Die AfD sagt: Alles klar. Wir machen mit. Aber dafür hebt ihr alle Regelungen zur gendergerechten Sprache auf. So wäre die AfD faktisch mit an der Macht.
Kann man die AfD mit der NSDAP vergleichen?
In den Stunden nach der Wahl haben viele die Situation mit der Weimarer Republik oder sogar der Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler durch Paul von Hindenburg verglichen. Immerhin war die NSDAP ausgerechnet in Thüringen das erste Mal in einem Bundesland an der Macht, als es ganz ähnliche Machtverhältnisse gab: einen großen linken Block und einen konservativen. Auch damals ein Tabubruch: Eine konservative Regierung wird durch Nazis unterstützt.
Ist also ein Vergleich angebracht? Die Historikerin Christina Morina hält das für zu alarmistisch. Es sei zwar wichtig, die Geschichte zu kennen, aber die würde sich nicht einfach so wiederholen. So sagte sie es dem ZDF. Und sie hat einen interessanten Punkt: Durch ständige Vergleiche mit Hitler werde Höcke vollkommen überhöht. Davon lebe sein Image als „Gesandter der Geschichte“.
Unabhängig davon ist durch die Wahl von Kemmerich aber etwas mit der Demokratie passiert, da sind sich viele Beobachter einig. Die AfD ist normalisiert worden. Die Idee dahinter: Mit jeder gemeinsamen Wahl, mit jedem gemeinsamen Projekt wird die Partei wählbarer. „Wenn Politiker:innen mit der AfD zusammenarbeiten, kann sie ja gar nicht so schlimm sein“ – das ist der Gedanke, der bei den Wählern dadurch erzeugt werden würde.
Demokratische Parteien haben auf kommunaler Ebene schon öfter mit der AfD kooperiert. Trotzdem wird es nach den heftigen Reaktionen der Öffentlichkeit so etwas auf Landes- oder sogar Bundesebene zumindest in nächster Zeit wohl nicht geben.
Wer regiert denn jetzt eigentlich gerade Thüringen?
Am Samstag hat Kemmerich seinen sofortigen Rücktritt verkündet, aber solange es keine:n neue:n Ministerpräsident:in gibt, bleibt er geschäftsführend im Amt. Da er aber keine Minster:innen ernannt und kein Kabinett hat, ist er zurzeit das einzige Mitglied der Landesregierung. Nachdem die bisherige Landesregierung um Ramelow die Räume in der Staatskanzlei schon am Mittwochabend geräumt hat, ist er wohl der einsamste Regent der Welt.
Die große Koalition hat die Wahl in einer Koalitionserklärung als „unverzeihlichen Vorgang“ bezeichnet und hat gefordert, „schnell für stabile und klare Verhältnisse in Thüringen zu sorgen.“ Das könnte zum Beispiel auch durch Neuwahlen passieren.
Wie geht es weiter?
Ich habe das mal in dieser Grafik zusammengefasst:
Kemmerich hat angekündigt, den Thüringer Landtag auflösen zu wollen. Wie das geht? Für den Antrag braucht er 30 Stimmen, damit er auch angenommen wird 60 Stimmen. Zurzeit sieht es aber so aus, als ob er die nicht zusammen bekommen würde, weil Linke und CDU angekündigt haben, Neuwahlen nicht zuzustimmen.
Kommt die Auflösung des Landtags nicht zustande, bleibt Kemmerich nur die Vertrauensfrage. Wenn ihm weniger als die Hälfte des Parlaments das Vertrauen aussprechen, ist er nicht mehr Ministerpräsident und das Parlament kann einen neuen Ministerpräsidenten wählen. Bodo Ramelow hat angekündigt, sich wieder zur Wahl zu stellen. Passiert das nicht, müssen die Thüringer:innen einen neuen Landtag wählen.
Für die CDU war der kurze Ausflug mit Kemmerich ein Debakel. Nicht nur, dass sie in den Umfragen abgestürzt ist. Auch Landeschef Mohring hat wohl keinen Rückhalt mehr und könnte seinen Posten verlieren. Zwar hat ihm der Landesvorstand vorerst das Vertrauen ausgesprochen, Medienberichten zufolge soll es aber im Mai zu Wahlen zum Fraktionsvorsitz geben, zu denen Mohring nicht mehr antreten wird.
Die Linke in Thüringen hat zwar Neuwahlen auch nicht ausgeschlossen, aber betont, dass Ramelow erst versuchen möchte, doch noch durch den aktuellen Landtag zum Ministerpräsidenten gewählt zu werden. Dafür benötigt er aber zumindest in den ersten beiden Wahlgängen immer noch mindestens vier Stimmen von der CDU oder FDP. Ob das passieren wird, ist unsicher. Die Thüringer CDU lehnt eine aktive Unterstützung ab, aber trotzdem gibt es vereinzelte Stimmen, die eine Tolerierung befürworten.
Sechs Parteien im Parlament. Einige, die nicht zusammenarbeiten wollen. Wie können denn da unsere Parlamente noch funktionieren?
Selbst wenn es Neuwahlen gibt, wird das Problem in ostdeutschen Bundesländern weiter bestehen. Überall, wo die AfD mehr als 15 Prozent bekommt, haben die demokratischen Parteien Probleme, Koalitionen zu bilden. In Sachsen gibt es beispielsweise eine Kenia-Koalition aus CDU, Grünen und SPD. Aber auch Vierer-Bündnisse mit der FDP stehen zur Debatte, solange die CDU an der Unvereinbarkeit mit der Linken festhält.
In der Krautreporter-Facebook-Gruppe hat Onno Ideen für künftige Regierungsarbeit gesammelt. Sein Blick geht nach Hessen und in die Schweiz, wo es das Kollegialitätsprinzip gibt. Das heißt, dass alle an der Regierung beteiligten Personen gleichberechtigt sind und nach außen hin mit einer Stimme reden. Für Thüringen wäre dann zum Beispiel denkbar, dass in Sitzungen der Minister:innen und der oder des Ministerpräsident:in Themen besprochen und intern abgestimmt werden. Die Minister:innen wären dann vollständig unabhängig von Ministerpräsident:innen.
Eine andere Idee: Expert:innen- oder Technokrat:innenregierungen. Wenn sich niemand mehr einigen kann, dann setzt das Parlament auf parteiferne Expert:innen, die aufgrund ihrer Expertise Entscheidungen treffen und Gesetze vorschlagen. So war der Wirtschaftswissenschaftler Mario Monti zwei Jahre italienischer Präsident. Bisher waren Expert:inenenregierungen oft nur kurz an der Macht, und die Erfahrungen sind auch unterschiedlich.
Und zuletzt gilt es auch nochmal eine Lanze zu brechen für das Modell Minderheitsregierung. Die sind deutlich besser als ihr Ruf, wie dieser Artikel zeigt. Länder wie Schweden und Dänemark haben sehr oft Minderheitsregierungen. Und niemand würde sagen, dass die Bewohner dieser Länder darunter besonders gelitten hätten.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Verena Meyer.