Was ich mitbekommen habe: Der Bundestag ist zu groß und die Große Koalition will verhindern, dass er weiter wächst. Was ist da genau passiert?
Seit Jahren versuchen die Parteien im Bundestag, über eine Reform des Wahlrechts einig zu werden. Jetzt, nach sieben Jahren, haben sich Union und SPD auf ein paar Schritte geeinigt. Das Wichtigste in Kürze:
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Zur nächsten Wahl 2021 sollen drei Überhangmandate nicht mehr ausgeglichen werden. Überhangmandate kommen dadurch zustande, wenn eine Partei mehr Mandate über die Erststimmen gewinnt, als ihr nach den Zweitstimmen zustünden. Weil die Zweitstimmen entscheidend sind, und das Wahlergebnis nicht verzerrt werden soll, wurden Überhangmandate durch Ausgleichsmandate ausgeglichen. Das sollt jetzt nicht mehr so sein - zumindest für die ersten drei Überhangmandate. Das kommt der Union entgegen, die die meisten Überhangmandate gewinnt.
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Der restliche Überhang wird einerseits teilweise wie bisher ausgeglichen. Andererseits soll er auch teilweise kompensiert werden, und zwar mit Listenmandaten der eigenen Partei in anderen Bundesländern. Wenn zum Beispiel die CDU in Nordrhein-Westfalen Überhangmandate bekommt, könnte etwa die CDU Hamburg Listenmandate verlieren. Wie genau dieser Mechanismus aussehen soll, steht nicht in der Einigung der Koalition. Dazu müssen wir die Änderung des Wahlgesetzes abwarten.
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Bei der übernächsten Wahl, 2025, sollen die Wahlkreise verringert werden: von 299 auf 280.
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Und es soll eine Reformkommission geben, die weitere Reformvorschläge entwickelt. Sie wird unter anderem über Wahlalter, Frauenanteil und die Länge der Legislatur diskutieren. Im Sommer 2023 soll sie ihre Ergebnisse vorstellen.
Aber, ganz ehrlich, das war kein großer Wurf.
Warum nicht?
709 Abgeordnete hat der Bundestag gerade. Damit ist er das zweitgrößte Parlament der Welt. Und eigentlich sollte eine Reform den Bundestag kleiner machen. Aber das wird er wahrscheinlich nicht. Der Mathematiker Christian Hesse hat bei Zeit Online von einer “sehr geringen Bremswirkung” für das Wachstum des Bundestags gesprochen. Es könnte 2021 Bürocontainer an der Spree geben, weil nicht für alle Abgeordneten Platz ist. Gleichzeitig werden die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag durch die Reform sogar sehr wahrscheinlich verzerrt. Wenn das Wahlergebnis sehr knapp ausfällt, kann das entscheidend für die Bildung einer Regierungsmehrheit sein.
Es gäbe viel bessere Möglichkeiten, das Wahlrecht zu reformieren und den Bundestag kleiner zu machen.
Warte mal. 709 Abgeordnete sind doch nicht so viele. Und überhaupt, was ist so schlimm daran?
Zum einen ist da der Kostenfaktor. Demokratie muss uns etwas wert sein. Dieses Argument darf aber kein Blankoscheck sein, das Parlament zu vergrößern. Abgeordnetengehälter, Mitarbeiter:innen, Büromaterialien – einen Bundestag mit 800 Abgeordneten zu betreiben ist teuer. Lange nicht so teuer, wie eine Armee zu unterhalten oder Straßen zu bauen, aber die symbolische Kraft dahinter ist enorm.
Und es gibt ein Platzproblem in Berlin. Die Abgeordneten brauchen nicht nur Platz im Plenarsaal, sondern auch Büros für sich und ihre Mitarbeiter:innen. Und kommen 2021 tatsächlich noch einmal 100 Abgeordnete dazu, bedeutet das: Es werden Büros für zusätzliche mehrere hundert Menschen gebraucht. Schon jetzt ist das Parlamentsviertel weitläufig, von einer Ecke zur anderen braucht man zu Fuß schon eine Viertelstunde.
Dazu kommt, dass der Bundestag durch mehr Abgeordnete nicht automatisch arbeitsfähiger wird – das sagt einer, der es wissen muss, nämlich Norbert Lammert, ehemaliger Bundestagspräsident, dem ZDF. Man kann sich das so vorstellen wie Gruppenarbeiten in der Schule – mehr Leute in der Runde für die gleiche Aufgabe sind nicht automatisch produktiver. Einige der Ausschüsse des Parlaments, in denen die Gesetzesentwürfe im Detail besprochen und abgeändert werden, könnten bald größer sein als der Saarländische Landtag.
Ist ein größeres Parlament nicht näher an den Bürgern dran?
Das hat sich KR-Mitglied Sebastian gefragt. Das Argument dahinter: Je mehr Abgeordnete, desto stärker sind die Abgeordneten vor Ort vertreten. Aber: Die zusätzlichen Sitze werden jedoch nach den Parteilisten besetzt – sie müssen also keine Wahlkreise gewinnen. Zwar gibt es auch Listenabgeordnete, die sehr gute Wahlkreisarbeit machen. Viele Abgeordnete kümmern sich jedoch mehr um den Listenplatz in ihrer Partei und weniger um den Wahlkreis. So berichtet etwa KR-Mitglied Matthias von einem Listenabgeordneten, den er trotz (halbwegs) guter lokaler Vernetzung noch nie gesehen oder gehört hat.
Warum sitzen eigentlich so viele Abgeordnete im Bundestag?
Das liegt am deutschen Wahlrecht. Es hat sich seit 1949 fast nicht verändert. Es funktioniert so: Der Bundestag hat 598 Mindestsitze. Alle Sitze werden gemäß der Stimmanteile der Parteien verteilt. Wenn also die Hälfte der Menschen die FDP wählt, bekommt die FDP die Hälfte der Sitze. Das ist die Zweitstimme, mit denen wir eine Partei wählen. Gleichzeitig kommen die Gewinner in den Wahlkreisen sicher ins Parlament. Das ist die Erststimme, die an den Kandidaten geht. Die Hälfte der Mindestsitze geht an die direkt Gewählten (Erststimme), die andere Hälfte an Politiker:innen von den Parteilisten (Zweitstimme).
Anfangs existierte in Deutschland ein Zweieinhalb-Parteien-System: Die mächtige Union, die stolze SPD und ein bisschen FDP. In den Wahlkreisen duellierten sich Union und SPD – wenn eine der Parteien schwächelte, verlor sie auch viele Wahlkreise. Das ist lange her: Heute sitzen im Bundestag sechs Parteien, und die beiden großen Parteien werden immer schwächer.
Das wirkt sich auf die beiden Stimmen unterschiedlich aus: Bei den Zweitstimmen ist es relativ einfach – Union und SPD verlieren nach und nach Sitze. Bei den Erststimmen ist es etwas anders – vor allem die Kandidat:innen der Union können ihr Direktmandat meist verteidigen. Denn es ist egal, ob sie (wie früher) 50 Prozent der Erststimmen bekommen oder 27 (wie heute) – Hauptsache, sie haben mehr Stimmen als der oder die Zweitplatzierte. Das führt dazu, dass die Union zu viele Wahlkreissiege für ihre Anzahl an Zweitstimmen hat. Diese Differenz an Mandaten, die die Partei behalten darf, „hängt über“. Daher der Name: Überhangmandate.
Warum fällt das jetzt erst auf und nicht schon vor Jahrzehnten?
Weil Überhangmandate jahrzehntelang sehr selten vorkamen und nie Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag hatten. Das hat sich geändert: 2009 gab es schon 24 Überhangmandate. Die Opposition klagte deshalb vor dem Bundesverfassungsgericht. Das Gericht erklärte entscheidende Teile des Wahlgesetzes wegen der Überhangmandate für ungültig. Der Bundestag musste vor der Wahl 2013 handeln. Er beschloss eine Reform.
Seitdem werden Überhangmandate nun vollständig ausgeglichen. Vereinfacht gesagt heißt das, dass so lange mehr Sitze hinzugefügt und auf die anderen Parteien verteilt werden, bis die Stärke der Parteien im Parlament wieder dem Ergebnis der Wahl nach Zweitstimmen entspricht. Der Name dafür liegt nahe: Ausgleichsmandate.
Die Wahl 2013 produzierte vier Überhangmandate, also nicht besonders viele. Aber diese vier Überhangmandate mussten mit stolzen 29 Ausgleichsmandaten ausgeglichen werden. Mitverantwortlich dafür ist der Föderalismus: Nicht nur das Verhältnis der Abgeordnetenstärke zwischen den Parteien muss passen, sondern auch zwischen den Bundesländern. Es braucht deshalb nur ein bisschen Überhang in einem Bundesland, um sehr viele Ausgleichsmandate entstehen zu lassen. Und weil es Bayern gibt, und darum die CSU, gibt es auch das „bayerische Problem“: Der Überhang der CSU wirkt sich besonders stark aus, weil sie als eigene Partei antritt.
Kann man nicht einfach die Erststimme abschaffen?
Das meint KR-Mitglied Gundi. Den Vorschlag kann man auf zwei Weisen verstehen: Wenn das bedeutet, dass die Wahlkreise abgeschafft werden, wäre das Problem mit dem Überhang gelöst, aber es gäbe eben auch keine direkt gewählten Abgeordneten mehr. Wenn es aber bedeutet, dass man mit einer einzigen Stimme sowohl eine Partei als auch ihre:n Kandidat:in wählt, hilft das nicht wirklich gegen den Überhang. Dieser wird, wie oben erläutert, im Kern durch die verschiedenen Systeme in den Wahlkreisen und im Bund verursacht.
Alle bisher dargestellten Vorschläge zeigen, dass die Direktmandate der entscheidende Punkt bei der Reform sind. Die Vorschläge von Wolfgang Schäuble und der Opposition etwa würden den Überhang tatsächlich senken, jedoch zu Lasten der Wahlkreise. Es gibt jedoch noch ein weiteres Modell.
Welches denn?
Rekapitulieren wir kurz: Wir haben aktuell zwei Stimmen, eine für die lokalen Kandidat:innen und eine für die Parteien. Die Wähler:innen sind es gewohnt, dass ihre Parteistimme sich in Sitze umwandelt. Die Wahlkreise sollten außerdem nicht noch größer werden als sie bereits sind. Schlussendlich wäre da noch das oben beschriebene „bayerische Problem“.
An dieser Stelle kann man kritisieren, dass doch schon jetzt die Bürgernähe durch Wahlkreise eher ein politisches Märchen ist. Bloß in wenigen umkämpften Wahlkreisen ist tatsächlich der Einsatz der Kandidat:innen entscheidend. Nun stellt sich die Frage, ob wir dieses Ideal einer lokal verwurzelten Demokratie aufgeben oder aber versuchen, es zum Leben zu erwecken.
Der Vorschlag von KR-Mitglied Helmuth geht in letztere Richtung. Er schlägt vor, dass man für ein Direktmandat 40 Prozent der Erststimmen benötigt. Das würden die meisten Kandidat:innen nicht schaffen. Also könnte man fragen: Warum nicht ein Drittel oder eine flexible Zahl, die exakt so ausfällt, dass es keinen Überhang gibt? Diese Festlegung wäre schwer nachzuvollziehen. Das Bundesverfassungsgericht hat aber bereits in einem Urteil im Jahr 2008 ein verständliches Wahlrecht gefordert.
Und was jetzt?
Es gibt eine demokratische Hürde, die einfach und für jede:n zu verstehen ist – die absolute Mehrheit: 50 Prozent der Stimmen. Kandidat:innen, die die absolute Mehrheit erreichen, sind ohne jeden Zweifel demokratisch legitimiert. Allerdings erreichen heute die wenigsten Kandidat:innen diese Zahl im ersten Wahlgang. In den meisten Fällen wären also Stichwahlen notwendig. Das Problem: Zur Stichwahl gehen aller Erfahrung nach sehr wenig Leute.
Mithilfe der sogenannten „integrierten Stichwahl“ lässt sich die absolute Mehrheit aber auch in einem Wahlgang erreichen. Bei diesem Verfahren kreuzt man nicht nur einen einzigen Kandidaten an, sondern nummeriert die Kandidat:innen wie bei einem Ranking durch. So ungefähr:
Beim Auszählen wird dann zunächst nur die erste Präferenz, die Nummer 1, ausgezählt. Wenn niemand die Hälfte der Stimmen bekommen hat, scheiden nach und nach die schwächsten Kandidat:innen aus. Die Stimmzettel dieser Wähler:innen werden entsprechend der Nummerierung auf die restlichen Kandidat:innen verteilt. Wenn man also zum Beispiel in einem ländlich geprägten Wahlkreis mit der „1“ für eine chancenlose Kandidatin der Linke oder einen aussichtslosen Kandidaten der FDP stimmt, geht die Stimme nicht verloren. Sie wird dem Kandidaten oder der Kandidatin mit der Nummer 2 zugeschlagen. Wenn Nummer 2 rausfliegt, wird Nummer 3 gezählt. Und so weiter. Durch die Nummerierung nimmt man auf das Ergebnis weiter Einfluss.
Dieses System wird bereits etwa bei der Parlamentswahl in Australien verwendet. Der Vorteil ist, dass mehrere Kandidaten eine Chance haben, das Mandat zu gewinnen, und sie in einem zivilisierten Wahlkampf mit ihrer Person überzeugen können. Selbst wenn eine Partei in einem Wahlkreis relativ stark ist, gewinnt sie diesen nicht mehr automatisch. Auf 299 Wahlkreise verteilt – so zeigen australische Wahlergebnisse – würden sich die Direktmandate gleichmäßiger auf die Parteien verteilen. Das Ausmaß des Überhangs würde sich deutlich verringern.
Kann es noch zu einer großen Reform kommen?
Wir können nur auf die Expert:innen der Reformkommission hoffen. Sie werden 2023 ihre Arbeit vorstellen. Hoffentlich werden sie die Politik mit ambitionierten Reformvorschlägen unter Druck setzen.
Redaktion: Rico Grimm und Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.