Eigentlich ist KR-Mitglied Tobias Hoffmann seit drei Jahren in Katalonien, um als Biomediziner zu erforschen, wie sich Tumore verändern. Daran ändert auch der Konflikt um die Unabhängigkeit von Katalonien nichts. Allerdings wohnt er in Barcelona im Stadtteil Gràcia an einer Straße, die „gut zu blockieren ist“, wie Tobias es nennt. Der Konflikt kam zu ihm nach Hause, buchstäblich.
Tobias hat seine Meinung zu den brennenden Barrikaden mittlerweile geändert. An denen muss er vorbeilaufen, wenn der Bus wegen der Blockade nicht fährt. Er könne die Wut der Protestierenden jetzt verstehen, sagt er. „Eine Eskalation war unausweichlich, weil Mittelpositionen einfach untergehen.“ Ich will genauer wissen, warum Tobias seine Meinung geändert hat, und rufe ihn an.
Um was geht es nochmal auf der Iberischen Halbinsel? Die extreme Kurzfassung: In der Region Katalonien im Nordosten Spaniens wollen viele Menschen unabhängig von der Zentralregierung in Madrid werden, diese will das nicht und geht immer wieder hart gegen die Demonstrierenden vor. Wer mehr wissen will: Hier erklärt Efthymis Angeloudis die Entstehungsgeschichte und die Hintergründe des Katalonien-Konflikts genauer.
Nun, am 10. November 2019 haben die Spanier:innen ein neues Parlament gewählt. Größtes Wahlkampfthema: der Konflikt in Katalonien. Es war die vierte Wahl in vier Jahren. Nach der letzten im April gelang es dem sozialistischen Ministerpräsidenten Pedro Sanchez nicht, eine regierungsfähige Mehrheit zu finden. Die Sozialisten wurden zwar (wie jetzt auch) stärkste Kraft, mit einer Neuwahl erhoffte Sanchez sich aber ein eindeutigeres Ergebnis. Ohne Erfolg – Die Situation nach der jetzigen Wahl ist ähnlich wie im April.
Tobias, warum kannst du die Wut in Katalonien mittlerweile verstehen?
Jahrelang haben hunderttausende Katalan:innen friedlich demonstriert. Zuerst wurde versucht, mehr Autonomie zu bekommen. Als das zurückgenommen wurde, hat die katalanische Regionalregierung versucht, ins Gespräch mit der spanischen Regierung zu kommen, auch das wurde nicht angenommen.
Das nicht genehmigte Referendum im Oktober 2017 hätte einfach ignoriert werden können, stattdessen gab es Polizeigewalt. Es war zwar klar, dass die Separatistenführer verurteilt werden, aber ich ging eher von vier Jahren aus, von denen die Menschen zwei ja schon in Untersuchungshaft gesessen haben. 13 Jahre Gefängnis ist unverhältnismäßig hart. Auf die Proteste hat die Polizei dann mit Gummigeschossen reagiert. Es ist doch klar, dass das die Leute noch mehr anstachelt. Jetzt sagen einige: Erst lasst ihr uns nicht bestimmen, dann hört ihr uns nicht zu – dann versuchen wir es jetzt eben mit Gewalt.
Aber es gab doch auch schon vorher heftige Proteste.
Nicht alle Menschen, die weiter für die Unabhängigkeit demonstrieren, sind gewalttätig. Mittlerweile gibt es aber eine neue Form der kurzfristigen Mobilisierung, ähnlich wie in Hongkong. Die Leute schließen sich über Telegram-Channels und über eine App, die Tsunami Democràtic heißt, zusammen und haben es auf diese Weise ja auch schon geschafft, den Flughafen zu blockieren.
Ist die Unabhängigkeit in deinem Freundeskreis überhaupt noch Thema?
Meine eine Mitbewohnerin will über das Thema nicht mehr reden – sie sagt, das sorgt immer nur für Streit. Ich bin aber eine Person, die sehr gerne diskutiert und habe zwei katalanische Freunde, die eher in der Mitte stehen.
Wie steht man bei diesem Thema in der Mitte?
Was in Spanien abgeht, ist nicht so, wie man sich das als demokratische junge Person vorstellt. Der komplette Wahlkampf hat so funktioniert, dass die Rechten Stimmung gegen die katalanische Unabhängigkeit gemacht haben, und von hier aus Katalonien kam die Forderung nach dieser Unabhängigkeit und der Aufruf, die Gefangenen zu befreien.
Gruppierungen, die Dialog wollen, haben es sowohl in Spanien als auch in Katalonien schwer durchzukommen, weil es an den Rändern so laut ist. Diese mittleren Positionen kommen in der Debatte viel weniger vor. Aber da wird zum Beispiel auch gespiegelt, dass die Independència an sich keine Lösung anbietet – außer Unabhängigkeit und dann ist alles gut.
Spielt die Unabhängigkeitsbewegung bei dir am Institut eine Rolle?
Ich habe einen Kollegen, bei dem man merkt, dass es ihm wirklich in die Arbeit reinspielt. Er fühlt sich als Unabhängigkeitsbefürworter unterdrückt. „Jetzt siehst du, wie die sind“, sagt er dann zum Beispiel zu den Protesten. Man will sich nicht in die Haare kriegen, weil man zusammen arbeitet, aber trotzdem ist es spalterisch.
Und die Nicht-Spanier:innen?
Die Forschung ist generell sehr pro-europäisch und daher eher gegen eine Unabhängigkeit. Und die Forschung lebt vom freien Austausch, deswegen ist man natürlich gegen jede Grenze, die den einschränken könnte.
Sind die Leute aus deiner Umgebung überhaupt noch zur Wahl gegangen?
Ja, obwohl ich schon sagen würde, dass sie wahlmüde sind. Die Politiker:innen konnten mit dem Resultat ja schon vorher nichts machen, aber alle, die sich darüber beschwert haben, sind dann doch wählen gegangen. Das Credo war, dass, wenn man zu Hause bleibt, die Rechten noch mehr Stimmen bekommen.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel.