Sechs Forderungen nach dem Anschlag in Halle

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Nachrichten, erklärt

Sechs Forderungen nach dem Anschlag in Halle

Worte allein reichen nicht.

Profilbild von Ein Gastbeitrag von Shai Hoffmann

Es schauert mich noch immer, wenn ich daran denke, was geschehen wäre, wenn der Täter von Halle die Holztür doch aufgeschossen hätte. Die Betenden in der Synagoge haben an Jom Kippur ein neues Chanukkah-Wunder erlebt. Wäre der Täter in die Synagoge gelangt, hätte er vermutlich das schlimmste Blutbad an Juden in Deutschland seit dem Holocaust verrichtet.

Er wurde von einer Holztür gestoppt. Nicht von der Polizei – denn die Synagoge in Halle hatte keinen Polizeischutz. Absurd!

Nach dem Anschlag bekam ich, weil ich Jude bin, viele Nachrichten. Menschen schrieben mir, dass es ihnen „leidtue“, dass ein solcher Anschlag im Jahr 2019 passiere. Viele seien „bestürzt“ oder „schockiert“. Viele Politiker:innen solidarisierten sich mit der jüdischen Gemeinde in Deutschland und den Opfern des Attentats. Mögen die Opfer in Frieden ruhen.

Am Abend des Attentats lud die Berliner Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement, Sawsan Chebli, zur Kundgebung vor einer Berliner Synagoge. Ihre Botschaft war: Gemeinsam gegen Antisemitismus, Islamophobie und Xenophobie. Bundeskanzlerin Angela Merkel hakte sich dort bei der Rabbinerin Gesa Ederberg unter.

All die Worte ändern nichts am Unsicherheitsgefühl der Juden

Demonstrationen sind wichtig in schweren Zeiten. Sie stärken das Gemeinschaftsgefühl. Mir fallen auf Anhieb viele schöne medienwirksame Solidaritätsaktionen ein. Doch was haben sie, was haben die Debatten über die Sicherheit jüdischen Lebens, was haben all die Worte und Zeichen am Sicherheitsgefühl der Juden in Deutschland verändert? Nichts! Warum? Weil nach den Worten Taten ausblieben. Taten, die längst überfällig sind.

Die Zahl antisemitisch motivierter Straftaten ist seit Jahren hoch – und das sind nur die erfassten Straftaten, die Dunkelziffer ist nicht dabei. Wir erleben eine beunruhigende Tendenz, die viele Jüdinnen und Juden in Deutschland dazu bringt, sich ernsthaft mit der Frage zu beschäftigen, ob sie noch eine Zukunft in diesem Land haben: Einem Land, in dem reale körperliche Gefahr droht und in dem die stärkste Oppositionspartei im Bundestag offen Antisemitismus und anti-muslimischen Rassismus schürt.

Ich werde meine Heimat Deutschland nicht verlassen. Ich werde auch weiterhin für eine offene und tolerante Gesellschaft kämpfen. Ich werde gegen den ohrenbetäubenden Hass aufstehen und Projekte starten, die Extremismus und Faschismus den Nährboden entziehen.

Das müssen wir alle tun. Auf Solidaritätsbekundung muss sinnvoller Aktionismus folgen – von Politik und Zivilgesellschaft. Hier sind meine Vorschläge:

  1. Die Bundesregierung muss Demokratieförderung auf ihrer Agenda ganz nach oben setzen. Aber das tut sie nicht. Die Nachricht, dass sie den Förderetat des Anti-Extremismus-Programms „Demokratie leben!“ einkürzen wollte, sorgte für Empörung. Ein fatales Zeichen für alle, die für eine offene und demokratische Gesellschaft kämpfen. Erst nach großer Kritik stockte die Regierung den Etat wieder auf. Meine Forderung: Stärken Sie das Förderprogramm „Demokratie Leben!“ Die aktive Zivilgesellschaft ist der Kitt unserer Gesellschaft – wertschätzen Sie sie!

  2. Wir brauchen die Einrichtung eines Sonderkomitees beim Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung. Maßnahmen müssen aus allen Perspektiven gedacht und erarbeitet werden, um den größtmöglichen Erfolg im Kampf gegen diese menschenverachtenden Phänomene zu erzielen.

  3. Die Politik muss radikal gegen institutionellen Rassismus vorgehen. Die Aufarbeitung der NSU-Morde wurden von Mitarbeiter:innen des Bundesamtes für Verfassungsschutzes systematisch behindert. Das muss Konsequenzen haben. Es bedarf deshalb der Errichtung einer unabhängigen Stelle beim Bund, die gegen institutionellen Rassismus vorgeht, deren Untersuchungsergebnisse Gewicht haben und zu Konsequenzen führen.

  4. Wir sollten die Demokratie von morgen stärken, die in unserem Bildungssystem verhandelt wird. Lehrer:innen brauchen eine rassismuskritische Ausbildung. Die Lehrbücher sollten auf Stereotypen untersucht werden. Den Kultusminister:innen muss eine Expertenkommission aus Mitgliedern mit diversem Hintergrund zur Seite gestellt werden.

  5. Auch ihr könnt etwas tun: Wenn ihr euch aus Solidarität eine Kippa aufzieht, dann bitte auch ein Hijab oder eine Takke (eine Gebetskappe für Männer), wenn eine Moschee angegriffen wird. Denn Hass gegen Juden ist auch Hass gegen andere Minderheiten dieses Landes. Der Attentäter von Halle hat in seinem Helmvideo neben „Juden“ auch von „Kanaken“ gesprochen und einen Menschen vor einem Döner-Imbiss erschossen.

  6. Stellt euch gegen jede Art von antisemitischen, rassistischen und homophoben Äußerungen – ob am Arbeitsplatz, unter Freunden, oder beim Weihnachtsessen.

Lasst uns ein wenig mehr wie die Kinder sein

Ich könnte diese Liste endlos fortführen. Mir geht jedoch noch etwas anderes durch den Kopf. Es ist vielleicht trivial, aber ich möchte es gerne mit euch teilen:

Ich bin vor einem Monat Papa geworden. Das ist eine sehr aufregende Zeit, in der ich meinen Sohn sehr viel beobachte, weil mich dieses kleine Wunder fasziniert. Ich beobachte, wie er mit nur vier Wochen neugierig seine Augen aufreißt und die Gegend täglich ein Stück mehr erkundet. Er starrt oft die helle Wand an. Er ist rein und unschuldig, er weiß nicht, wie sich Hass gegenüber jemandem anfühlt, der schwul ist oder ein Hidschab trägt.

Lasst uns ein wenig mehr wie Kinder sein. Neugierig dem Unbekannten, Fremden und Ungewissen gegenüber. Lasst uns neugierig entdecken, was das Andere anders macht, und das finden, was wir gemein haben. Das ist mehr, als ihr vermutlich denkt. Wenn wir es schaffen, uns selbst zu öffnen und unseren Kindern diese Offenheit zu vermitteln, nur dann haben wir eine Chance. Dann werden, eines Tages, meine Vorschläge nicht mehr nötig sein.

Denkt daran: Wir waren alle einmal wie mein Sohn.


Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Verena Meyer.