Mitte Oktober 2016 versammelten sich zwei Millionen Menschen am heiligen See Harsadi, südlich der Hauptstadt Addis Abeba. Das Volk der Oromo feierte das Ende der Regenzeit mit einer Zeremonie namens Irecha. Viele trugen ihre weiße Tracht, Speere und traditionellen Kopfschmuck. In verwackelten und unscharfen Handyfilmen der Teilnehmer:innen kann man sehen, wie sich diese religiöse Feier allmählich zu einer Protestaktion gegen die Regierung des Landes entwickelte.
Die Menge schrie: „Nieder mit der Regierung“ und „Wir wollen Freiheit“. Es entstand Panik, als die Polizei mit Tränengasgranaten und Gummigeschossen auf die regierungskritischen Demonstrant:innen schoss. Viele wurden auf der Flucht um ihr Leben zu Tode getrampelt.
Der damalige Ministerpräsident Hailemariam Desalegn kommentierte den Vorfall mit den Worten, die Demonstranten hätten diesen Protest geplant, es sei ein „vorausgeplantes Chaos“ gewesen. Er bestritt auch, dass die Sicherheitskräfte auf die Menge geschossen haben. „Als Folge des Chaos starben Menschen, und mehrere Verletzte wurden ins Krankenhaus gebracht. Die Verantwortlichen werden strafrechtlich verfolgt“, ließ die Regierung erklären.
Auf den Handyfilmen von der Veranstaltung kann man jedoch Schüsse hören, und Zeug:innen sagen, es sei Tränengas aus Hubschraubern abgefeuert worden. Die damalige Regierung gab später zu, dass 52 Menschen gestorben waren. Die äthiopischen oppositionellen Gruppen berichteten dagegen über Hunderte von Todesfällen.
Im selben Jahr, 2016, berichtete die in den USA ansässige Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, die Sicherheitskräfte hätten während dieser Protestwelle gegen die äthiopische Regierung mehr als vierhundert Menschen getötet.
Das sind vierhundert Menschen, die den Wandel, der jetzt das Land erfasst, nie erlebt haben – und vierhundert Menschen, die vergessen wurden. Wären im Jahr 2016 in Russland vierhundert Zivilisten erschossen worden, wäre der UN-Sicherheitsrat einberufen worden und das Ereignis hätte die Nachrichten dominiert. Aber Äthiopien ist seit langem ein Land, dem viele Grenzüberschreitungen ohne jegliche diplomatischen, wirtschaftlichen oder politischen Folgen zugestanden wurden.
Die Veränderung kam von innen aus der Gesellschaft
Genau deshalb musste der Wandel in Äthiopien von innen kommen. In einer Zeit, in der jeder der engste Verbündete der neuen Führung sein will, vergisst man leicht die Menschen, die diese Veränderung ermöglicht haben. Und ausgerechnet diejenigen, die jahrzehntelang ein Regime gelobt haben, das Journalist:innen inhaftiert hat, tauchen jetzt so oft wie möglich in Addis Abeba auf und sprechen ausführlich über die Bedeutung einer freien Presse.
Wer waren also diese sogenannten Queros – die jungen, furchtlosen Menschen, die sich gegen die Diktatur gestellt haben? Und wie hat alles angefangen?
Oromo ist nicht nur die größte Region Äthiopiens, sondern auch ein Volk und eine Sprache. Bei der letzten Zählung gab es 25 Millionen Oromo in einer Bevölkerung von 74 Millionen Äthiopiern. Doch das Volk der Oromo ist seit langem marginalisiert. Seine Sprache ist verboten, seine Geschichte zeugt von weitgehender Diskriminierung – man kann die Oromo als die Kurden von Afrika bezeichnen. Innerhalb der Oromo-Kultur gibt es eine Tradition, in der sich Jugendliche, die aus dem Kindesalter herauswachsen und zu Erwachsenen werden, für die Verteidigung des Dorfes und seiner Tiere einsetzen müssen. Diese Tradition wurde mit zunehmender Unterdrückung politisiert.
Es war das Volk der Oromo, das als erstes protestierte, als die Regierung einen neuen Plan für die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba vorgestellt hat. Sie wollte Ackerland, das seit Generationen den Familien der Oromo gehörte, enteignen, um neuen Wohngebieten Platz zu machen.
Aber die Protestbewegung wuchs schnell und konzentrierte sich bald auf größere Themen als die Enteignung des Landes. Die Bilder aus Krankenhäusern von Hunderten von Verwundeten und Toten, Bilder, die unter dem Hashtag #OromoProtests verbreitet wurden, stürzten das Land in seine schwerste politische Krise seit Jahrzehnten. Die Proteste wuchsen, auch die amharanischen Jugendlichen beteiligten sich, und sofort erhoben sich die beiden größten ethnischen Gruppen des Landes gegen die Machthaber. Die Sicherheitslage wurde kritisch, und als Folge der Proteste litt die Wirtschaft des Landes. Hinzu kam, dass sich die ethnischen Konflikte im Land verschärften. Diese Krise führte zum Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten – in der Hoffnung, damit das Land zu „retten“.
Der neue Ministerpräsident Abiy Ahmed nutzte seine ersten hundert Tage an der Macht und befreite Tausende von politischen Gefangenen, öffnete sich für eine Liberalisierung der Wirtschaft, lud die ehemals aus dem Exil arbeitenden Medien ein, ihre Büros in Addis Abeba wieder zu eröffnen, und sagte, er werde den Friedensvertrag mit Eritrea akzeptieren. Alles in allem hatte dies ein wahres politisches Erdbeben am Horn von Afrika zur Folge.
Aus dem Gefängnis soll ein Museum werden
Heute wird davon gesprochen, die Verhörräume in der Polizeistation in Maekalawi in ein Museum zu verwandeln. Mit großer Erleichterung kann ich sagen, dass keiner meiner Kolleg:innen mehr im Kality-Gefängnis aufwachen und die schrillen Stimmen der Wachen hören muss, die „kotera, kotera, kotera, kotera“ rufen, begleitet vom Klang ihrer Schlagstöcke, die auf das Wellblech schlagen. Und keine Journalist:innen stehen beim Zählappell in Zweierreihen – „hulet, hulet“ – außerhalb der Blechhütten im Schlamm.
Blogger:innen machen keine Witze mehr darüber, dass die Zellen „Sheraton“ genannt werden. Obwohl es ein erbärmlicher Ort mit kalten Holzböden war, mit Mitgefangenen, die Blut husteten, gab es einen noch schlimmeren Ort. Ein Ort, an dem Gefangene in völliger Dunkelheit gehalten wurden, kopfüber hingen, mit Gewichten an ihren Geschlechtsorganen und so lange geschlagen wurden, bis sie erfundene Verbrechen gestanden.
Diese Zellen wurden als „Hilton“ bezeichnet.
Humor war der letzte Vorposten der Verteidigung.
Aber obwohl diese Zellen bald zu einem Museum werden sollen, und die Witze über sie alles sind, was von ihnen bleibt, dürfen wir nie diejenigen vergessen, die dort Zeit verbringen mussten: All die Kolleg:innen, die die Wahl hatten, sich für ein problemfreies Leben zu entscheiden. Aber stattdessen hat sie ihre Liebe zur Wahrheit, zu Äthiopien, zu ihren Mitmenschen und zum Journalismus selbst dazu geführt, dass sie sich letztlich dem Schreiben zuwandten. Diese Liebe ließ sie zeigen, was Journalismus sein kann und sollte, aber was er nicht immer ist. Und für diese Liebe mussten sie einen Preis zahlen – den höchsten Preis von allen: Sie mussten ihre Freiheit aufgeben.
Man darf die wahren Held:innen nicht vergessen
Die Entschlossenheit dieser ehemals inhaftierten, aber jetzt freien Kolleg:innen ist ein Beispiel für die Art von Mut, den wir heute mehr denn je brauchen – ein Mut, der diese Veränderung ermöglicht hat. Ich glaube auch, dass wir uns jetzt, da sie frei sind, fragen müssen, wo wir waren und was wir getan haben, während sie im Gefängnis saßen.
Heute die Reformen zu loben, ist eine Sache. Natürlich können jetzt die ehemaligen Gefangenen für sich selbst sprechen. Deshalb brauchen sie heute nicht mehr unsere Stimmen – die Frage bleibt: Wo war die Unterstützung, als sie sie am meisten gebraucht haben?
Abiy Ahmed hat gezeigt, dass er seriös und eine ganz andere Art von Führer ist als alle früheren Ministerpräsidenten des Landes. Er hat sogar um Vergebung für das Unrecht gebeten, das seine eigene Partei gegen sein eigenes Volk begangen hat.
Ich hoffe jedoch aufrichtig, dass Abiy Ahmed, wenn er den Friedensnobelpreis entgegennimmt, diese frühen Vorkämpfer:innen der Demokratie nicht vergessen wird, denen wir diese historischen Entwicklungen zu verdanken haben. Um einen Ausdruck aus den USA zu übernehmen: Sie sind die unbekannten Held:innen – sie sind diejenigen, die die Hauptarbeit geleistet haben, um einen Raum zu schaffen, in dem andere wachsen und ins Rampenlicht treten können.
Diejenigen, die im Kampf für die Demokratie in Äthiopien starben und nie die Chance hatten, Freiheit zu erfahren, sind die wahren unbekannten Held:innen. Jetzt liegt es in der Verantwortung aller, dafür zu sorgen, dass sie nicht umsonst gestorben sind. Und weil es einen Nobelpreis zu vergeben gibt, sollte er mit denen geteilt werden, die diese Zeit der Freiheit nie erlebt haben – mit denen, die diese Entwicklung ermöglicht haben, die alles dafür gegeben haben.
Dieser Text ist zuerst auf Englisch bei „Blankspot“ erschienen. Wir haben ihn mit freundlicher Genehmigung von Martin Schibbye übersetzt.
Übersetzung: Vera Fröhlich; Redaktion: Bent Freiwald.