Am letzten Donnerstag im August tauchen 13 Boote im Norden der Insel Lesbos am Horizont auf. In ihnen sitzen 540 Menschen. Dieser Augusttag ist eine Zäsur. Seit 2016 sind an keinem Tag so viele Flüchtlinge von der türkischen Küste nach Griechenland gekommen.
Vier Wochen später kniet Mina Aliwari, eine der 540 Geflüchteten, vor einem Brotofen im Olivenhain des Flüchtlingslagers von Moria. Zusammen mit ihrer Familie hat sie ihn in die Erde vor ihrem Zelt gegraben. Sie beugt sich, das Kopftuch hinter die Ohren geklemmt, über das tiefe Loch in der Erde. Bald ist die Asche soweit, um den Brotteig am heißen Stein zu backen.
Ein paar Meter weiter steht Moria, mit Stein, Beton und Stacheldraht, das größte Flüchtlingslager Europas. 13.000 Menschen leben zu diesem Zeitpunkt im Camp. Vier Mal mehr, als das Lager fassen kann.
Von Afghanistan brach sie auf, 58 Tage lief sie mit ihren beiden Kindern und ihrem Ehemann durch die Türkei. Acht Mal versuchten sie, mit einem Schlauchboot aus der Türkei zu fliehen. Acht Mal werden sie von der türkischen Küstenwache abgefangen. Doch an diesem Tag sah sie keine Polizisten an der Küste.
Aliwari und die anderen 539 Flüchtlinge kamen um vier Uhr nachmittags an, mitten am Tag. Normalerweise legen die Boote in der Nacht ab, um nicht von der türkischen Küstenwache erwischt zu werden.
Vielleicht haben die Schmuggler eine neue Taktik ausprobiert. Vielleicht hatten sie einfach Glück.
Oder die türkische Küstenwache hat einfach mal ausprobiert, was passiert, wenn sie nicht allzu genau hinschaut.
Es gibt viele Vermutungen, aber in Griechenland schrillen an diesem Augusttag die Alarmglocken. Stunden später reist der griechische Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis nach Berlin, um Angela Merkel zu treffen. Die Griechen fürchten, die Türkei habe die Kontrollen an der Grenze absichtlich gelockert. Der türkische Botschafter wehrt sich gegen diese Vorwürfe und verweist auf die Zahlen der Küstenwache. Danach sind sieben afghanische Geflüchtete auf dem Landweg und 16 auf dem offenen Meer an der Flucht gehindert worden. Ziemlich wenig im Vergleich zu 540 Menschen.
Die Behörden kommen nicht hinterher
30.000 Geflüchtete leben momentan auf den Ägäischen Inseln, den östlichen griechischen Inseln, nur ein paar Kilometer von der Türkei entfernt. Das sind so viele wie seit drei Jahren nicht mehr. Kamen im August 2018 insgesamt 1.725 Menschen auf Lesbos an, waren es im August 2019 mehr als doppelt so viele: 3.836. Das sollte das EU-Türkei-Abkommen vom März 2016 eigentlich verhindern. Was ist passiert?
Ziel des Abkommens war es, dass weniger Flüchtlinge die EU erreichen und sie auf ihrer Flucht über die Ägäis nicht mehr ihr Leben riskieren. Der Deal ist: Die Türkei nimmt alle abgelehnten Asylbewerber zurück, die die es von der türkischen Küste zu einer griechischen Insel geschafft haben. Im Gegenzug übernimmt die EU syrische Flüchtlinge aus der Türkei. Die Türkei bekommt Geld von der EU. Dafür kontrolliert sie die Grenzen zu Griechenland.
Der Deal funktionierte – einerseits: Es kamen weit weniger Menschen auf die Ägäischen Inseln als vor März 2016. Damals waren es an manchen Tagen über zehntausend. Doch auch in den vergangenen Monaten kamen so viele Menschen an, dass die Lager auf den ägäischen Inseln völlig überbelegt sind.
Das Hauptproblem: Die Behörden kommen mit den Asylanträgen nicht hinterher. Nur 2.000 Menschen schickten die griechischen Behörden in den letzten drei Jahren in die Türkei zurück. Damit hat Europa bisher etwa zehnmal mehr Syrer direkt aus der Türkei aufgenommen, als von den griechischen Inseln in die Türkei abgeschoben wurden.
Anders als 2015 dürfen die Geflüchteten die Inseln nicht mehr verlassen. Sie müssen bleiben, bis ihre Asylanträge entschieden sind. Aber das kann Jahre dauern. Manche Interviews sind erst für 2023 angesetzt. Und so wurden die Flüchtlingslager in der Ägäis zu unübersichtlichen Slums mit verheerenden Folgen für die Geflüchteten.
Seit einem Jahr lebe ich auf der Insel Lesbos. In einer kleinen Wohnung in der Hafenstadt von Mitlini, eingequetscht zwischen dem Gerichtssaal, in dem alle Asylanträge entschieden werden, und einem kleinen Obstladen.
Gehe ich durch den Pinienwald hinter meinem Haus zur alten Burg hinauf, habe ich das Gefühl, von dort aus in die Türkei spucken zu können. An der engsten Stelle sind es nur acht Kilometer von der türkischen bis an die griechische Küste. Drehe ich mich auf die andere Seite, sehe ich die Küstenstraße nach Moria. In der vergangenen Woche fuhr ich jeden Tag dort hin. Und zwei Mal auch in der Nacht.
Es brennt in Moria
Sonntag, Ende September, 16.45 Uhr. Zwei Feuer brechen in Moria aus. Eines in einem Container, eines etwa 400 Meter hinter dem Camp. Löschflugzeuge starten aus der Hafenstadt. Innerhalb von Minuten sind die Straßen gesperrt. Menschen rennen aus dem Haupteingang in die umliegenden Olivenhaine, mit Schlafsäcken und Plastiktüten in der Hand. Vor wenigen Minuten ist eine Frau in einem Container verbrannt. Die Menschen sind wütend, eine kleine Gruppe fängt an, Steine auf Polizei und Feuerwehr zu werfen. Der Rest flieht vor dem Rauch. Und der Gewalt.
Die Polizei feuert Tränengas. Ich renne die Straße hinauf zum sogenannten „Olive Grove Camp“, das mit 7.000 Menschen zu einer Art zweiter Zeltstadt neben dem Lager geworden ist. Geflüchtete biegen den Stacheldraht unter dem Abschnitt des schwer bewachten Abschiebegefängnisses hoch, zwängen sich darunter durch und lassen sich drei Meter in die Arme Helfender fallen. Weiter die Straße herunter halten sich Menschen Zwiebeln unter die Nase, das hilft gegen das Tränengas.
In den Stunden danach suchen viele Eltern ihre Kinder. Sie sind in der Panik verloren gegangen. Bis spät in die Nacht bringen Campbewohner verletzte Menschen in die Feldklinik, die die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen eingerichtet hat. Viele Gesichter sind voller Trauer, Panik und Wut.
Keiner weiß zu diesem Zeitpunkt, wie das Feuer angefangen hat und wie viele Menschen gestorben sind. Die Polizei gibt noch in der Nacht ein Statement heraus, nach dem Flüchtlinge das Feuer gelegt haben sollen. Das stellt sich als falsch heraus. Es war ein Kurzschluss in einer Glühbirne.
Einen Tag später bewegt sich eine Gruppe von ungefähr 100 geflüchteten Frauen in Richtung Hafenstadt. In ihren Händen halten sie Schilder und Transparente, einige haben Kinder auf den Schultern, sie rufen „Wir wollen Sicherheit!“. Seit 30 Minuten sind die Frauen unterwegs, jetzt stoppen sie. Vor ihnen steht ein Spalier von Polizisten in schusssicheren Westen.
Etwa zehn Meter hinter ihnen setzt sich eine Gruppe von etwa doppelt so vielen Männern auf den Asphalt. Sie geben den Frauen die Stimme. Niemand möchte die Polizei provozieren.
An diesem Tag wird kein Tränengas verschossen.
Die meisten Flüchtlinge sind aus Afghanistan
3,6 Millionen geflohene Syrer leben in der Türkei. Lange war deren Situation in einem prekären Gleichgewicht. Sie wurden geduldet, sie fanden Jobs im boomenden türkischen Baugewerbe. Doch jetzt erhöht sich der Druck auf sie. Türkische Behörden organisieren immer mehr Busreisen nach Syrien. Laut Berichten von Menschenrechtsorganisationen und Flüchtlingen selbst werden immer mehr Syrer aus der Türkei abgeschoben.
Laut Human Rights Watch wurden Syrer in zahlreichen Fällen gezwungen, Dokumente über eine freiwillige Rückkehr nach Syrien zu unterschreiben. Präsident Recep Tayyip Erdogan möchte in Nordsyrien eine Sicherheitszone einrichten, um Flüchtlinge dorthin abschieben zu können.
Im Frühjahr hatte die syrische Armee mit Luftangriffen auf Idlib begonnen. Die Provinz im Norden des Landes ist das letzte Gebiet, das in der Hand der Assad-Gegner ist. 300.000 Menschen flohen in Richtung Türkei, doch die wenigsten schafften es über die 764 Kilometer lange türkische Grenzmauer.
Nur 13 Prozent der Flüchtlinge, die im September auf den griechischen Inseln angekommen sind, sind laut UNHCR Syrer. Fast die Hälfte der Ankommenden sind Afghanen. Viele von ihnen haben in der Türkei auf dem Bau oder auf Gemüseplantagen gearbeitet, doch seit der Wirtschaftskrise finden sie keine Jobs mehr. Auch bekommen sie keinen dauerhaften Aufenthaltsstatus mehr, manche werden nicht mal mehr als Flüchtlinge registriert. Seit Januar hat die türkische Regierung nach eigenen Angaben mehr als 300.000 Flüchtlinge ohne Papiere festgenommen und zehntausende Afghanen deportiert.
Der türkische Präsident drohte Ende September in Richtung Europa: „Entweder Sie teilen diese Last, oder wir müssen die Tore öffnen.“ Er beklagte mehrfach, dass er mehr finanzielle Unterstützung brauche und das Geld nicht schnell genug in der Türkei lande. Im Zuge des Abkommens sagte die EU der Türkei 2016 sechs Milliarden Euro zu. Davon sind nach EU-Angaben 4,2 Milliarden Euro vertraglich vergeben, aber nur 2,6 Milliarden ausgezahlt. Außerdem forderte der türkische Staatspräsident, dass die Visumspflicht für türkische Staatsbürger im Schengenraum aufgehoben wird und dass die Zollunion ausgeweitet wird.
Die deutsche Regierung versucht, das Abkommen zu retten
„Erdogan muss begreifen, dass er der EU und Griechenland nicht drohen kann, um mehr Gelder zu sichern“, reagierte der griechische Ministerpräsident Mitsotakis auf einer Pressekonferenz in Thessaloniki.
Doch darauf kann die deutsche Regierung in diesem Moment nicht eingehen. Oberste Priorität ist es, das Abkommen zu retten. Am vergangenen Wochenende besuchte Innenminister Horst Seehofer die Türkei. Er lobte die türkische Regierung und sicherte Athen Unterstützung zu. Und er gab Bild am Sonntag ein Interview: „Wir müssen unseren europäischen Partnern bei den Kontrollen an den EU-Außengrenzen mehr helfen. Wir haben sie zu lange alleine gelassen. Wenn wir das nicht machen, werden wir eine Flüchtlingswelle wie 2015 erleben – vielleicht sogar eine noch größere als vor vier Jahren.“
Es ist Anfang Oktober geworden im Camp Moria. Während Helfer zusammen mit den Bewohnern den meterhohen Müll die Straßen hinuntertragen, weil die Stadtverwaltung aus Sicherheitsgründen vorübergehend keine Müllmänner mehr schickt, ziehen die Wolken über Moria zusammen. Und die Elektrizität fällt aus.
Ein paar Stunden später brechen sintflutartige Regenfälle über die Insel herein. Einige Geflüchtete versuchen mit Feuerzeugen und Nägeln in der Nacht einen Abwasserkanal vor ihrem Zelteingang zu graben, doch schon nach fünf Minuten sind die Zelte vollgelaufen. Aus den Gullys werden Springbrunnen, den Müll spült es die Olivenhaine in Flüssen hinunter, Kinder schreien in den Zelten, sie haben Angst vor dem Donner.
„Warum hilfst du uns nicht?“ fragt mich ein Mann, der mit seiner Tochter im Arm gegen den Wasserstrom des Camp-Hügels emporläuft. Eher langsam als schnell. Durchnässt wie er ist, weiß er nicht mehr, wohin.
Als ich später, meine Kleidung von Abwasser getränkt und schmutzig, nach Hause komme, dusche ich. Ich kann das. Er und seine Tochter nicht. Sie haben nicht einmal mehr ein Zeltdach über dem Kopf.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Verena Meyer.