Frau Neumann, Sie haben Islamisten in sieben Gefängnissen in Österreich besucht. Was haben Sie herausgefunden?
Meine Befunde zeigen, dass Medien im Radikalisierungsprozess von Islamisten eine wichtige Rolle spielen. Zentral ist nicht nur islamistische Propaganda, die vor allem über soziale Netzwerke verbreitet wird – auch verschiedene Formen der Medienberichterstattung werden eingesetzt, um Rekruten weiter zu radikalisieren.
Wie funktioniert denn Radikalisierung von Muslim:innen durch Medien und Propaganda?
Eine große Rolle spielte bei meinen Interviewten YouTube. Viele haben Propaganda-Videos gesehen. Bei journalistischen Medien sind es verschiedene Inhalte, die eine radikalisierende Wirkung entfalten können. Zum Beispiel: negative und verallgemeinernde Islamberichterstattung. Aber auch Berichte, die den Zusammenbruch unseres politischen Systems suggerieren. Dadurch kann bei Islamisten der Eindruck entstehen: „Demnächst schlägt unsere Stunde, jetzt lohnt sich der Kampf.“
Was heißt genau negativ und verallgemeinernd?
Wenn Medien über Muslime oder den Islam berichten, dann häufig im Zusammenhang mit Kriminalität, Integrationsproblemen oder Terrorismus. So entsteht zum Beispiel das Stereotyp „Muslime sind ein Sicherheitsproblem“. Auch auf den Covern von Nachrichtenmagazinen findet sich manchmal diese Stereotypisierung, zum Beispiel in Form von Überschriften wie: „Wie gefährlich ist der Islam?”
Was verstehen Sie unter Propaganda?
Das ist eine Form der Kommunikation, die darauf ausgerichtet ist, systematisch und manipulativ Einstellungen zu verändern. Dabei geht es um die Vermittlung einer Ideologie, die Absolutheit beansprucht, also als ultimative Wahrheit präsentiert wird. Propagandisten sprechen Menschen entweder direkt an oder über das Internet. Viele Häftlinge, die ich interviewt habe, wurden über YouTube erreicht.
Und welche Rolle spielt sie?
Propaganda und Medienberichterstattung können unheilvoll zusammenwirken. Negative und verallgemeinernde Islamberichterstattung kann zu Diskriminierungsgefühlen führen. Propaganda kann diese Gefühle verstärken. Propagandisten nehmen dabei auf negative Medienberichte über Muslime Bezug. Es heißt dann sinngemäß: „Seht her, ihr seid hier unerwünscht, Staat, Medien und Gesellschaft lehnen euch ab.“ Die Lösung lautet dann: „Bekennt euch zum Islam, stellt den Islam über alles.“
Wie haben Sie es eigentlich geschafft, dass die Islamisten mit ihnen geredet haben?
Die befragten Häftlinge haben sich im Vorfeld des Interviews natürlich freiwillig dazu bereit erklärt. Die Anfragen liefen über die jeweiligen Haftanstalten in Österreich. Hauptmotivation der meisten Häftlinge war schlicht und ergreifend: Sie wollten der Langeweile des Gefängnisalltags für eine Weile entfliehen. Im Rahmen der Interviewführung haben wir natürlich einen konfrontativen Interviewstil vermieden, die Islamisten sollten sich nicht an den Pranger gestellt fühlen, aber auch nicht das Gefühl bekommen, dass wissenschaftliches Interesse der Lohn ihrer Taten ist.
Wie sind die Interviews abgelaufen?
Die Befragten wurden von Justizvollzugsbeamten in den Interviewraum geführt. In vielen Fällen blieb auch eine Aufsichtsperson zur Sicherheit mit dabei. Im Durchschnitt dauerten die Interviews zirka 30 bis 45 Minuten. Manche der Befragten hatten ein enormes Redebedürfnis, bei anderen war es schwieriger, sie zum Reden zu bringen. Wichtig war, strategisches Antwortverhalten zu vermeiden, die Befragten sollten nicht das Gefühl haben, sich auf eine bestimmte Weise präsentieren zu müssen. Deshalb habe ich sie zum Beispiel darauf hingewiesen, dass ihre Aussagen anonymisiert würden.
Wie war es für Sie, die Interviews zu führen?
Natürlich war es zunächst eine ungewohnte Situation, vor einer Haftanstalt zu stehen und zu wissen: „Gleich sitzt du jemandem gegenüber, der im sogenannten Islamischen Staat war.“ Zu Beginn war ich aufgeregt, weil ich nicht wusste, was mich erwartet. Die Interviews haben wir im Team zu zweit geführt, sonst wäre ich sicherlich nervöser gewesen. Aber Anspannung kann ja auch helfen, sich voll auf das Interview zu konzentrieren. Und der Studienpreis der Körber-Stiftung ist natürlich ein toller Lohn für den Stress, der mit der Interviewführung verbunden war.
Wie haben Sie sich nach den Interviews gefühlt?
Die erste Reaktion war Erleichterung. Erleichterung, dass es gelungen ist, Einblicke in die Gedanken- und Gefühlswelt der Islamisten zu erhalten. Der Prozess der Radikalisierung, der in den Medien gerne als mysteriös dargestellt wird, konnte meist gut rekonstruiert werden – egal, ob die Befragten nun nicht-gewaltbereit – das heißt politische Salafisten – waren oder dem dschihadistischen Milieu angehörten.
Wenn Sie von Radikalisierung sprechen, was meinen Sie damit? Was ist eigentlich Radikalisierung?
Radikalisierung verstehe ich als Prozess, in dem Menschen zu Extremisten werden, in diesem Fall zu Islamisten. Dabei kann Radikalisierung zum einen auf einer kognitiven Ebene stattfinden. Menschen entwickeln dabei Einstellungen und ein Weltbild, das den politischen Status quo und bestimmte Grundwerte fundamental infrage stellt. Zum anderen kann sich Radikalisierung im Handeln von Menschen zeigen, besonders drastisch dann, wenn sie Terroranschläge planen oder ausführen.
Welche Personen sind für Radikalisierung anfällig?
Es gibt unterschiedliche Bausteine oder Risikofaktoren, die für Radikalisierung anfällig machen, aber Radikalisierung keineswegs festlegen. Das gilt zum Beispiel für persönliche Krisen oder Diskriminierungserfahrungen. Diese können zu Bedürfnissen nach Identität, Zugehörigkeit oder gar Abenteuerlust führen.
Eine extremistische Ideologie kann solche Bedürfnisse vermeintlich befriedigen. Wenn Personen dann in die falsche Gruppe geraten, auch wenn sie nur virtuell ist, kann es unter Umständen gefährlich werden. Auch Personen, die in jungen Jahren Gewalterfahrungen gemacht haben, weisen damit einen Risikofaktor auf.
Ist der Einfluss von persönlichen Kontakten nicht viel entscheidender bei Radikalisierungsprozessen? Das sieht man doch auch daran, dass Personen, die sich dem IS angeschlossen haben, aus den gleichen Städten kommen, etwa aus Solingen, Bonn oder Wuppertal.
Die Rolle sozialer Kontakte ist nicht zu unterschätzen, sonst gäbe es nicht immer wieder Brennpunkte. Man sollte die Einflussfaktoren aber nicht als Konkurrenten betrachten, sondern ihr Zusammenwirken verstehen. Das ist eine große wissenschaftliche Herausforderung.
Wie können Sie eigentlich herausfinden, dass Medien ein wichtiger Faktor für Radikalisierung ist und nicht andere Umstände, wie Eltern, Freund:innen im Sportverein oder frustrierende Erlebnisse?
Durch bestimmte Interviewtechniken kann man sich die Rolle der Medien und das Gewicht anderer Einflüsse erschließen. Und wenn ein Islamist erzählt, wie er sich nach einem bestimmten Propaganda-Video gefühlt hat, ist das wissenschaftlich wertvolles Material. Man kann den Einfluss der Medien auf hochgradig radikalisierte Personen allerdings nicht exakt bestimmen, wenn man nur Interviews führt. Aber: Ein Experiment, in dem man Propaganda zeigt und andere Einflüsse möglichst kontrolliert, verbietet sich aus forschungsethischen Gründen.
Das heißt, Sie können sich nie ganz sicher sein, dass Medien der Grund für die Radikalisierung sind?
Die Medien sind niemals die alleinige Ursache für Radikalisierung. Unterschiedliche Faktoren müssen zusammenwirken, damit sich Menschen radikalisieren. Problematisch ist, wenn sich Muslime im realen Leben diskriminiert fühlen. Das schafft unter Umständen einen Nährboden für problematische Wirkungen negativer und verallgemeinernder Islamberichterstattung.
Wäre es besser, wenn Journalist:innen nicht über islamistische Anschläge berichtet würden?
Das ist unrealistisch, Medien haben einen Informationsauftrag. Entscheidend ist, wie berichtet wird. Im Idealfall werden Medien ihrem Informationsauftrag gerecht, ohne dass Terroristen die Berichterstattung als Belohnung empfinden. Das erscheint zunächst als Quadratur des Kreises. Aber Journalisten haben Spielräume, wenn es um die Überschriften, das Framing, die Bildauswahl geht.
Was raten Sie Journalisten:innen, damit Berichte Muslime nicht radikalisieren?
Journalisten sollten erklären, warum sie über den Islam auf eine bestimmte Art und Weise berichten. Wie sie arbeiten, warum sie welche Nachrichten angesichts der Zwänge der Medienproduktion auswählen, diese Medienkompetenz kann man nicht immer beim Publikum voraussetzen. Wichtig ist, dass Muslime nicht das Gefühl haben, dass die Islamberichterstattung so aussieht, weil Journalisten den Islam pauschal ablehnen.
Welche Fehler machen Journalist:innen aus Ihrer Sicht, wenn sie über Islamist:innen berichten?
Problematisch ist es, Bilder von Islamisten in heroischen Posen zu zeigen und damit deren Wunschdarstellung zu entsprechen. Wichtig ist auch, dass Journalisten zwischen gewaltbereiten und nicht-gewaltbereiten Islamisten unterscheiden. Gerne wird eine Dramatik konstruiert, indem Journalisten eine Beziehung nicht-gewaltbereiter Islamisten zum Thema Terrorismus herstellen.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich.