Warum die LGBT-Bewegung in Polen jetzt immer wieder angegriffen wird

© Jens Mattern

Nachrichten, erklärt

Warum die LGBT-Bewegung in Polen jetzt immer wieder angegriffen wird

Die Rechte von Homosexuellen und Transmenschen sind in Polen zu einem Thema geworden, das die Parlamentswahlen Anfang Oktober entscheiden kann.

Profilbild von Reportage von Jens Mattern, Bialystok

Plastikflaschen mit Urin, Steine, Böller und wüste Beschimpfungen flogen bei der „Gay-Pride“-Parade im ostpolnischen Bialystok am 20. Juli durch die Luft. Die Polizei musste die 800 Teilnehmer:innen der Demonstration, die in Polen „Gleichheitsparade“ heißt, gegen 4.000 Gegner abschirmen. Immer gelang ihr das nicht. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schlimm wird“, sagte eine junge Frau aus Warschau zu mir, nachdem Männer in Fußballtrikots ihr und anderen Mitdemonstrantinnen unter Gebrüll eine Regenbogenfahne abgenommen hatten.

Für mich, ebenfalls aus Warschau als Beobachter angereist, kam das nicht so überraschend. Denn die Fußball-Ultras des Landes hatten zuvor einen einstweiligen Frieden untereinander beschlossen, um die Stadt vor den „Degenerierten“ zu verteidigen. Zudem protestierten Kirche und Politiker:innen der nationalkonservativen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“(PiS) scharf gegen die örtlichen Behörden von Bialystok, die die Demonstration genehmigt hatten.

Während in immer mehr Ländern der Welt gleichgeschlechtliche Paare heiraten und Kinder adoptieren dürfen, scheint das in Polen derzeit nicht möglich zu sein. Im Gegenteil: Die Situation für Homosexuelle verschlechtert sich dort sogar.

Die LGBT haben als Feindbild die Flüchtlinge abgelöst

Ohne Zahlen nennen zu können, berichtete mir eine Mitarbeiterin der „Kampagne gegen Homophobie“, dass sexuelle Minderheiten immer öfter angegriffen werden. Als Feindbild der Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) habe die Gruppe von lesbischen, schwulen, bisexuellen Menschen und Transgender (LGBT) in Polen inzwischen die Flüchtlinge abgelöst.

Schon als zweiten Punkt ihres Europa-Programms verwahrte sich die PiS gegen die „Sexualisierung der Kinder“ und setzte sich gegen das Adoptionsrecht von Homosexuellen ein, obwohl dies keine europapolitischen Themen waren. Sie gewann mit knapp 46 Prozent, ein Rekordergebnis.

Die Teilung des Landes zwischen Anhängern und Gegnern der PiS zeigt sich nun immer öfter an der Debatte über LGBT-Menschen. Einige Wojewodschaften (vergleichbar mit Bundesländern), Kreise und Kommunen haben begonnen, mehr für den Schutz sexueller Minderheiten zu tun. Andere, nationalkonservativ regierte Verwaltungseinheiten erklärten sich hingegen zur „LGBT-freien Zone“. Wie konnte es dazu kommen?

Der LGBT-Bewegung in Polen geht es vor allem darum, akzeptiert zu werden, so wie die Menschen sind, aber auch um Schutz vor Gewalt und Diskriminierung sowie um die Einführung der Homo-Ehe. Die Gegner wiederum glauben – dazu gehören die PiS, Gruppen, die weiter rechts von ihr stehen, sowie die Katholische Kirche – dass die LGBT-Bewegung ihre sexuelle Orientierung als Ideologie verbreite, dass sie Polen umerziehen wolle und dass dies alles ein Import aus dem Westen sei.

Schutz vor Gewalt und Diskriminierung – eine Forderung der Bewegung.

Schutz vor Gewalt und Diskriminierung – eine Forderung der Bewegung. © Jens Mattern

Dabei zeigt ein Blick in die Geschichtsbücher: Bereits 1932 wurde die Strafbarkeit von homosexuellen Beziehungen in Polen abgeschafft. In Deutschland geschah das erst 1969. Selbst als Polen mit Ende des Zweiten Weltkrieges unter sowjetischen Einfluss geriet und offiziell ein kommunistischer Blockstaat wurde, blieb dies unverändert. Toleranz herrschte trotzdem nicht. Nationale Minderheiten in Polen standen wie in anderen Ostblockstaaten unter Druck, sich dem Kollektiv anzupassen. So wurden geistig behinderte Menschen von der Öffentlichkeit ferngehalten, und Homosexualität existierte offiziell nicht. Die Betroffenen mussten unsichtbar sein oder „stillsitzen“, wie man auf Polnisch sagt.

Erst registriert, dann zur Aussage gegen „Solidarnosc“ gezwungen

Gleichzeitig wurden LGBT-Menschen erpresst. Der Inlandsgeheimdienst „SB“ legte von 1985 bis 1987 Karteikarten von Homosexuellen an. So konnte der Staat die Ausbreitung von HIV eindämmen, rechtfertigten sich die Behörden später. Aber einige der registrierten 11.000 Personen sollen auch gezwungen worden sein, gegen missliebige Oppositionelle der damals verbotenen Freiheitsbewegung und Gewerkschaft „Solidarnosc“ auszusagen.

Die Katholische Kirche hingegen wirkte in Polen bis zur Wende 1989 als der große Gegenspieler zur staatlichen kommunistischen „Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei“. Schließlich sollte sie nach der Ideologie der damaligen Machthaber selbst irgendwann abgeschafft werden. Als einflussreichster Geistlicher Polens gilt Karol Wojtyla, der 1978 als Papst Johannes Paul II. gewählt wurde. In seiner Enzyklika „Veritatis splendor“ (Der Glanz der Wahrheit) schrieb er 1993 Verhütung, Abtreibung und Homosexualität einer „Zivilisation des Todes“ zu. Diesmal ging es gegen den Westen und seinen moralischen Relativismus, der Sozialismus war ja schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung passé.

In den Nachwendejahren verloren sehr viele Polen ihre Arbeit und ihr Einkommen. Vielen von ihnen, die strenger katholisch waren, wurden dabei von „Radio Maryja“ aufgefangen. So nennt sich das Medienimperium von Pater Tadeusz Rydzyk, der mit seinen nationalkatholischen Programmen gegen die Dekadenz des Westens, die postkommunistische Seilschaften, anfangs auch gegen die „Juden“ ansendete.

Heute ist Rydzyk mit Radio- und Fernsehsender, Zeitung, Journalistenausbildung zu einem Machtfaktor herangewachsen, der von niemandem mehr in der Bischofskonferenz kritisiert wird, wie dies noch vor einigen Jahren vorkam. Die Kirche ist somit aggressiver gegenüber denen geworden, die vom traditionellen Mainstream abweichen, also auch gegenüber Homosexuellen.

In Polen gibt es das Bedürfnis, sich abzuschotten

Allerdings kann diese Geschichte nicht allein erklären, warum so viele Polen die LGTB-Bewegung ablehnen. Um das besser zu verstehen, müssen wir noch auf zwei Phänomene schauen – die Wagenburg-Mentalität und den polnischen Messianismus. Ersteres ist das Bedürfnis, sich gegenüber ausländischen Einflüssen abzuschotten, auch gegen „fremde Ideologien“. Dazu gehören Trends im und aus dem Westen, wie eben die bessere Akzeptanz von sexuellen Minderheiten. Die Wagenburg-Mentalität entstand auch dadurch, dass Polen immer wieder überfallen und besetzt wurde, zuletzt durch NS-Deutschland und die Sowjetunion.

Doch schon bereits Ende des 18. Jahrhunderts, bei der Aufteilung Polens durch Russland, Preußen, Österreich, entstand das polnische Selbstbild vom „Christus der Nationen“. Dies bedeutet auch, dass Polens Kampf um die Freiheit stellvertretend für andere Nationen stehen sollte. Gleichzeitig gilt die in Polen verbreitete, traditionelle Form des katholischen Glaubens als etwas, das dem säkulären Westen Europas vermitteln werden müsse.

Bei meinem Besuch in Bialystok spürte ich vor allem die Wagenburgmentalität. Vor der Kathedrale der Stadt waren Megaphone postiert. Es fuhren Lieferwagen herum, aus deren Lautsprechern eine monoton-salbungsvolle Stimme vom Band ertönte, die davor warnte, dass Homosexuelle „Krankheitsträger“ seien und in die Schulen eindringen wollten, um dort die Kinder umzuerziehen.

Was nicht passt, wird entsorgt.

Was nicht passt, wird entsorgt. © Jens Mattern

Zudem lud die „Allgemeinpolnische Jugend“ (MW) vor der Kathedrale zu einem kollektiven Rosenkranzbeten. Dabei sind Mitglieder dieser Gruppe nicht so sehr für gewaltlose Aktionen bekannt. Sie und die noch gewalttätigeren Mitglieder des „Nationalradikalen Lagers“ (ONR) nutzen gegen Homosexuelle und Linke eigentlich lieber Fäuste und Tritte als „Argumente“. Für diese Gruppen ist das Kreuz, der katholische Glaube, Teil einer nationalen „Corporate Identity“. Sie sehen sich als Schutztruppe der Marke Polen an. Ein LGBT-Umzug, mit teils wild kostümierten Teilnehmern passt da nicht hinein.

Aber vielleicht gibt es noch einen weiteren Grund für die Wut.

„Junge und Mädchen, eine wunderbare Familie“ (dies reimt sich auf Polnisch) riefen sie den Paradeteilnehmern neben den Beschimpfungen zu. Doch mit dem Familiengründen ist es im Polen des 21. Jahrhunderts gar nicht so einfach. Als Grundlage für die Eheanbahnung gilt hier der Wohnungskauf oder Hausbau, was bei den steigenden Immobilien- und Grundpreisen eine Verschuldung auf Jahrzehnte mit sich bringt. Besseres Geld verdient man im westlichen Ausland oder in den großen Städten, wofür Fremdsprachenkenntnisse, Selbständigkeit und Flexibilität notwendig sind; nicht alle können hier mithalten. Allerdings sind die krawalllustigen Paraden-Gegner nicht alle ungebildete Niedrigverdiener; die „Allgemeinpolnische Jugend“ speist sich aus vielen Studenten.

Polens bekanntester Schwuler ist der Aktivist Robert Biedron

Dass die LGBT-Bewegung in Polen überhaupt so sichtbar werden konnte wie heute, ist stark mit dem Aktivisten und Linken Robert Biedron verbunden. Er ist heute Polens bekanntester Schwuler und wird im nächsten Jahr erstmals an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen. Er kommt aus der Provinz und eher einfachen Verhältnissen, als er aber bei einem Aufenthalt in Berlin die dortige Schwulenszene kennengelernt hatte, wollte er danach als Homosexueller in Polen selbstbewusster in der Öffentlichkeit auftreten.

Er gründete die bis heute existierende NGO „Kampagne gegen Homophobie“ und engagierte sich bei den ersten Gleichheitsparaden, die zu Beginn der Nullerjahre in Warschau erstmals illegal stattfanden. Er wurde zum bekanntesten Gesicht der polnischen LGBT-Bewegung, kassierte von rechten Hooligans mehrfach Prügel und bekam sogar deren Anerkennung, da er dennoch weitermachte. Er zog 2014 ins Rathaus der nordpolnischen Großstadt Slupsk (Stolp) als Bürgermeister ein und wurde so zu einem Liebling der liberalen Medien innerhalb und außerhalb Polens.

Diesen Februar gründete er die Partei „Frühling“, die bei der Europawahl über sechs Prozent erreichte und auch an den Parlamentswahlen am 13. Oktober teilnehmen will. Die sehr auf Biedrons Person zugeschnittene Partei will den Einfluss der Katholischen Kirche in Polen zurückdrängen und orientiert sich an westlichen Linken.

Auch durch Biedrons Erfolge wurde die LGBT-Bewegung selbstbewusster. Selbst in der Provinz, wo Homosexuelle sich kaum offiziell outen, veranstaltete sie Gleichheitsparaden. Allein, dass sie ausgerichtet werden konnten, war ein Erfolg.

Gleichzeitig sind diese Demonstrationen aber auch ein Zeichen gegen den Zeitgeist, der mit dem Sieg der nationalkonservativen PiS unter dem Parteichef und Strategen Jaroslaw Kaczynski im Herbst 2015 Einzug hielt. Diese Partei, die sich gegenüber Brüssel emanzipieren will und ein Europa der Nationalstaaten fordert, verschlechterte die Lage der LGBT-Personen in Polen. Denn der Staat gilt wieder mehr als das Individuum, das ähnlich wie im Sozialismus unter größerem Anpassungsdruck steht. Das nationale Kollektiv mit seinem Leitbild von der traditionellen Familie sieht sexuelle Minderheiten nicht als Teil eines Ganzen. Über 90 Prozent der Polen gehören der Katholischen Kirche an.

Wer kann wem besser das Kinderschänder-Image anhängen?

Bezeichnenderweise ist diese polnische Regierung mit dem derzeitigen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki so nahe am Klerus wie keine andere zuvor. Der Wahlkampf wurde von der Bischofskonferenz unterstützt sowie von „Radio Maryja“. Gleichzeitig gewährte die PiS den nationalistischen Gruppen mehr Freiräume, schaffte Anti-Rassismus-Programme in Fußballstadien ab und überließ Rechten bis Rechtsradikalen am Nationalfeiertag das Zentrum Warschaus für Aufmärsche. So sollte das liberalere Polen, der gemeinsame Feind, bedrängt werden.

Die LGBT-Organisationen wollen sich jedoch nicht zurückdrängen lassen. Dabei scheuen sie auch nicht den Konflikt mit der Kirche. Szymon Niemiec, einer der Gründer der Gleichheitsparaden, hielt im Juni bei der Warschauer Parade eine Messe in einer Regenbogen-Soutane ab.

Der Krakauer Erzbischof Marek Jedraszewski sprach nach den Krawallen in Bialystok von einer „Regenbogen-Seuche“ und erhielt Unterstützung von dem Vorsitzenden der Bischofskonferenz, der eine „Revolution“ befürchtete und der LGBT-Bewegung ein „totalitäres Denken“ unterstellte – eine deutliche Anspielung, dass die Homosexuellen, die sich in Polen an die Öffentlichkeit wagen, die neuen Kommunisten seien.

Diese aggressive Linie hat wohl mit einem akuten Glaubwürdigkeitsproblem der Institution Kirche zu tun: das Ausmaß von sexuellen Übergriffen an Kindern durch Geistliche kommt in Polen immer offener zu Tage. Die Dokumentation „Sag nichts niemandem“ des renommierten TV-Journalisten Tomasz Sekielski über Missbrauch und Vertuschung durch den Klerus erreichte auf Youtube 22 Millionen Zugriffe. In Polen leben insgesamt 35 Millionen Menschen.

Eine Fortsetzung soll diesen Herbst folgen, eventuell vor den Parlamentswahlen am 13. Oktober. Mit einem größeren Fokus auf die Vertuschung der Fälle durch die Kirche und der Behörden. Im schlimmsten Fall kann es dann im Wahlkampf darum gehen, wer überzeugender mit dem Kinderschänder-Image behaftet wird – der Klerus oder die LGBT-Organisationen.

Bis jetzt erscheint die Opposition allerdings plan- und kraftlos, es stehen wohl noch einmal vier Jahre PiS in Polen an. Und Parteichef Jaroslaw Kaczynski, dem mehr Macht zugeschrieben wird als Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, hat bereits angekündigt, wie es dann weitergeht. Er werde die Paraden einschränken, denn niemand dürfe „die polnische Kultur, die polnische Kirche verderben. Und um das werden wir kämpfen“.


Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotos: Jens Mattern.