„Es darf nicht sein, dass unser Premier ein Oligarch ist, dem die Medien gehören und der sich unser Steuergeld in seine Taschen steckt!“ Der Redner, Mikuláš Minář, rote Haare, gelbes Hemd, macht eine Kunstpause. Die Demonstranten klatschen, pfeifen und buhen. Dann sagt Minář: „Wir fordern den sofortigen Rücktritt von Andrej Babiš!“ Die Menschen rufen Hanba, Hanba, Schande, Schande! Sie jubeln, ohrenbetäubend laut.
Letná-Park, in der Prager Innenstadt. Ein riesiges Stück Grün, umgeben von Plattenbauten und dem Stadion von Sparta Prag. An einem anderen Sonntagnachmittag würden hier Familien picknicken, Kinder Drachen steigen lassen und ein paar Ambitionierte joggen. Heute hängt an einem Riegel Plattenbauten eine tschechische Flagge, drei Stockwerke hoch. Überall Menschen: Menschen auf Dächern. Auf dem Rasen. Auf der Straße. Vor mir, hinter mir, neben mir. Es sind 250.000 gekommen. Die größte Demonstration in Tschechien seit dem Fall des Kommunismus 1989.
250.000 Demonstranten in einem Land, in dem zehn Millionen Menschen wohnen. Das ist so, als würden in Berlin zwei Millionen Menschen auf die Straße gehen.
Die Demonstranten haben eine Forderung: Den Rücktritt von Andrej Babiš. Gegen den tschechischen Premierminister gibt es viele Vorwürfe, der gravierendste: Er soll sich an EU-Subventionen bereichert haben. Viele Demonstranten befürchten, Tschechien könnte sich in ein zweites Ungarn verwandeln. Über Wochen und Monate gab es Demonstrationen in ganz Tschechien, organisiert von Mikuláš Minář und seiner Organisation: „Eine Million Augenblicke für die Demokratie.“ Minář ist 26, Student, und politisch unerfahren.
Ich fragte mich: Wie bekommt so jemand so viele Menschen auf die Straße? Also bin ich nach Prag gefahren, habe die Demo miterlebt, mit Teilnehmern und mit den Organisatoren der Kundgebung. Ich wollte verstehen, wie eine Gruppe von Studenten die größte Demo in der jüngeren tschechischen Geschichte auf die Beine stellen konnte.
Und ich habe unter diesen jungen Leuten eine erstaunlich altmodische Antwort gefunden: Sie kämpfen für Anstand.
Aber der Reihe nach.
Die Bewegung ist überparteilich – das macht sie so erfolgreich
Sonntag, 23. Juni, 15.30 Uhr. Eine Stunde vor Beginn der Demo strömen Menschen auf den Letná-Park. Sie tragen tschechische und europäische Flaggen, manche halten Plakate hoch: „Dear EU, don´t feed the oligarch“ steht darauf. Oder: „Keine Lügen, kein Hass!“ Ein paar Polizisten in kurzen Hemden stehen entspannt im Schatten und rauchen. Ein Fotograf sagt mir: „Das ist das größte Event, auf dem ich je war.“