Erinnert ihr euch noch an das Jahr 2012? Da war doch diese kleine Internet-Partei, die mit den Themen Digitalisierung und Datenschutz in vier deutsche Landtage einzog. Die Piratenpartei saß in Kiel, Düsseldorf und Saarbrücken im Landtag und im Berliner Abgeordnetenhaus. Die Wähler wählten sie als digitale Alternative, für einen modernen Politikstil, und weil endlich mal jemand angemessen mit dem Internet umzugehen versprach.
Was dann passierte?
Die Parteispitze zerstritt sich mehrfach. Reihenweise traten Abgeordnete aus der Partei aus. Die Piraten machten Schlagzeilen mit antisemitischen, rechtsextremen und peinlichen Aussagen. Und die Partei konnte den Wähler:innen nicht vermitteln, wofür sie neben Datenschutz eigentlich stand. Die Quittung: Seit 2013 haben die Piraten bei keiner Landtags-, Bundestags- oder Europawahl mehr als zwei Prozent der Stimmen geholt.
Doch es gibt ein Land, wo die Piraten erfolgreich sind: Tschechien. Bei den Europawahlen 2019 holten die tschechischen Piraten 14 Prozent der Stimmen, sie wurden drittstärkste Partei. Damit stellen sie drei von ganzen vier Piratenmandaten, die es im EU-Parlament gibt. In Prag regiert ein Bürgermeister der Piratenpartei. Bei den letzten Parlamentswahlen waren sie drittstärkste Kraft, bei den jungen Wählern unter 35 sogar die stärkste Partei.
Wie konnten die Piraten in Tschechien so erfolgreich werden? Und wer sind die tschechischen Piraten überhaupt?
2009 sammelte sich eine Studierendenbewegung um den jetzigen Vorsitzenden Ivan Bartoš. Sie hatten genug von der elitären Politik, sie forderten einen transparenten Staat, der die Perspektive ihrer Generation aufgreift. Noch im selben Jahr erfolgte die Gründung der Partei.
Bei den Parlamentswahlen 2010 erreichten sie 0,8 Prozent. Ab da ging es nur noch bergauf: 2,6 Prozent bei den Parlamentswahlen 2013, 2017 kamen sie auf 10,8 Prozent. 2018 wurde Zdeněk Hřib Prager Bürgermeister – er ist der einzige Piraten-Bürgermeister einer europäischen Hauptstadt.
Der erste Punkt ihres Programms widmet sich der Regulierung der Mächtigen, die weiteren Hauptaspekte sind: Digitalisierung, Liquid Democracy und die Reform des Sozialsystems. Die Piraten sehen sich als faktenbasierte Partei, fernab der Rechts-Links-Skala. Die Umwelt soll gerettet werden, das Internet muss freier werden, Waffenexporte gehören gestoppt. Kriegsflüchtlinge ja, Wirtschaftsflüchtlinge jein. Sie sind eine Partei irgendwo zwischen Volt, den Grünen und ja, auch den deutschen Piraten.
Und damit erfolgreich sein?
Um den Erfolg der Piraten in Tschechien zu verstehen, habe ich mit einem Politikwissenschaftler, einer Europaabgeordneten und zwei Wählern telefoniert. Ich denke, die Piraten sind aus drei Gründen erfolgreich: Sie werden als Opposition zum korrupten Establishment wahrgenommen. Sie stehen für einen transparenten Politikstil. Sie verkörpern die Stimme einer neuen Generation. Aber der Reihe nach.
1. Opposition zum Establishment
Holen wir mal etwas aus: Nach dem Ende der Sowjetunion bildeten sich in Tschechien zwei große Volksparteien: Die konservative ODS und die sozialdemokratische CSSD. Bis 2017 stellte immer eine der beiden Parteien den Ministerpräsidenten. Und bis zu den Parlamentswahlen 2010 waren sie die konkurrenzlos stärksten Parteien: Sie holten um die 30 Prozent der Stimmen, mal hatten die Sozialdemokraten ein paar Prozent mehr, mal die Konservativen.
2010 begann die Veränderung der politischen Landschaft. Die Volksparteien schrumpften auf 20 Prozent, die Konservativen konnten aber mit zwei neuen, liberalen Parteien eine Mitte-Rechts-Regierung bilden. Nach einem Korruptionsskandal (dazu später mehr) gab es Neuwahlen, die ODS stürzte auf 8 Prozent ab, die CSSD bildete eine komplizierte Koalition mit der populistischen ANO-Partei. 2017 dann wurde ANO die stärkste Partei und stellte mit dem Milliardär Andrej Babiš zum ersten Mal einen Regierungschef, der weder CSSD noch ODS angehörte.
Die politische Landschaft der vergangenen Jahre ist unruhig, die großen Volksparteien sind zu einer 15-Prozent- und einer Vier-Prozent-Partei geschrumpft. Aber wie konnten sie so enorm abstürzen?
Wahrscheinlich hat das mehrere Gründe; etwa Korruptionsskandale. Ein Beispiel: 2012 wollte der damalige ODS-Ministerpräsident Petr Nečas ein Sparpaket durchsetzen. Sechs Abgeordnete seiner Partei kündigten an, dagegen zu stimmen. Kurz vor der Abstimmung änderten sie ihre Meinung: Drei der Abgeordneten legten ihre Mandate nieder und stimmten gar nicht ab, zwei stimmten mit ja und einer enthielt sich. Das Paket wurde beschlossen.
Was man damals noch nicht wusste: Die drei Abgeordneten legten ihre Mandate nieder, weil ihnen von Nečas hohe Posten im Staatswesen angeboten wurden. Selbst nachdem der Skandal rauskam, wollte er im Amt bleiben. Doch das Parlament löste die Regierung auf, und es gab Neuwahlen.
Ein weiteres Beispiel ist der CSSD-Mann David Rath. Er nahm als Ministerpräsident Bestechungsgelder für die Sanierung von Krankenhäusern an und wurde zu achteinhalb Jahren Haft verurteilt. Rath hat gegen das Urteil Berufung eingelegt.
Aber die Probleme der alten Parteien gehen über Korruptionsskandale hinaus. Ich habe mit dem Politikwissenschaftler Lukáš Novotný telefoniert. Er lehrt an der Karls-Universität in Prag. Novotný sagt: „Sie sind klein geworden, weil sich die Ansprüche der Bürger gewandelt haben.“ Sie schafften es nicht mehr, ihr Stammklientel anzusprechen. Die Wähler glaubten nicht mehr daran, dass die ehemaligen Volksparteien ihre Versprechen noch umsetzen würden. CSSD steht nicht mehr für soziale Gerechtigkeit und ODS kaum noch für konservative Werte.
Davon profitieren die Piraten. Ich habe mit Markéta Gregorová telefoniert, seit Neustem Piraten-Abgeordnete im Europa-Parlament. Sie ist 26 Jahre alt, nennt sich selbst Aktivistin und träumt vom Weltfrieden. 2013 trat sie den Piraten bei – der einzigen Partei, die sie für die Probleme des 21. Jahrhunderts gewappnet sah.
Sie sieht den Erfolg der Piraten vor allem im Versagen der alten Parteien. Die Piraten stellten eine Abkehr davon dar. Sie sagt: „Die Leute wissen zwar nicht so ganz, was passiert, wenn wir an die Macht kommen würden – aber immerhin klauen wir den Staat nicht auseinander.“
Seit 2017 regiert Andrej Babiš Tschechien. Seine Partei ANO ist ganz um ihn gebaut. Der Multi-Milliardär bezieht seinen Reichtum aus der Gründung des Unternehmens Agrofert, einem Agrarkonzern mit mehreren Tochterfirmen. Und da fangen die Probleme auch schon an.
Babiš, damals noch nicht in der Politik tätig, gliederte eine Tochterfirma aus dem Mutterkonzern Agrofert aus. Die Tochterfirma ließ ein Wellness-Ressort bauen, das Storchennest-Hotel. Als kleiner Betrieb erhob sie für den Bau Anspruch auf 2 Millionen Euro EU-Subventionen. Nach einigen Jahren gliederte Babiš das kleine Unternehmen wieder in den Multi-Milliarden Konzern Agrofert ein. 2017 kam der Betrug heraus, inzwischen bekannt als Storchennest-Affäre.
Doch das ist nicht alles: Aktuell hat Babiš einen weiteren Skandal an der Backe. Es geht um 17,4 Millionen Euro an Subventionsgeldern, die er von der EU für seinen Konzern abgezwackt haben soll. Babiš spricht von einer „Attacke auf die Tschechische Republik“, obwohl ein Bericht der EU-Kommission den Verdacht der Veruntreuung erhärtet.
In Prag entsteht eine Bewegung gegen den aktuellen Ministerpräsidenten: Über 100.000 Demonstranten gingen am 4. Juni gegen Babiš auf die Straße. Die Unzufriedenheit gegen den aktuellen Regierungschef ist groß.
Das machen sich die Piraten zunutze: „Die Oppositions-Parteien versuchen sich gegen Babiš zu stellen. Und da gibt es manche, die es glaubwürdiger machen und manche, die es weniger glaubwürdig machen“, sagt Lukáš Novotný. Die Piraten werden als glaubwürdig angesehen. Wieso?
2. Neuer politischer Stil
Wie schafft es eine Partei, die Bevölkerung dazu zu bringen, ihr zu glauben? Gerade in einem Land, in dem Jahr für Jahr Korruptionsskandale die politische Landschaft erschüttern? Die Piraten haben sich für einen radikalen Weg entschieden: Sie sind vollkommen transparent.
Die tschechische Piratenpartei hat eine Webseite, auf der steht, woran die Abgeordneten arbeiten, was sie bereits erreicht haben und welche Versprechungen noch nicht erfüllt wurden. Außerdem wird die gesamte Buchhaltung offen geführt, genauso wie jegliche Lobby-Arbeit.
Da steht dann zum Beispiel, dass einem Politiker bei einem Treffen mit einem Vertreter einer lokalen Nachrichtenagentur ein „überzuckerter Cocktail“ und ein Flyer spendiert wurde. Oder, dass der Vorsitzende der Piraten dem Vorsitzenden von STAN, einer anderen Partei, bei einem Gespräch ein Frühstück und einen Kaffee spendierte. Oder man findet dort einen ausführlichen Bericht über ein Treffen mit Brexit-Befürworter Nigel Farage.
Markéta Gregorová sagt dazu: „Abgeordnete sollten den Menschen direkt zeigen, was ihre Arbeit ist und das modern kommunizieren. Nur so kann man verhindern, dass Extremisten und Populisten in die Parlamente gewählt werden.“
Die Logik ist simpel: Wenn die Menschen wirklich wissen, was die Politiker tagtäglich machen, glauben sie nicht mehr den Lügen und Halbwahrheiten der Populisten. Vorwürfe wie „Die machen sich in Brüssel doch nur einen faulen Lenz und streichen ihre Diäten ein” verlieren ihre Wirkung.
Aber selbst, wenn die Abgeordneten ihre Vorhaben nicht umsetzen können, kommunizieren sie das eindeutig. „Wir sind nicht die Weltenretter, wir machen natürlich auch Fehler”, sagt Gregorová. „Aber dann ist es wichtig offen zu sagen: Wir haben daran gearbeitet, aber es hat nicht funktioniert.“
Gerade bei einer jungen und unerfahrenen Partei wie den Piraten ist das Gold wert. „Sie schaffen es, die Menschen anzusprechen. Nicht von oben herab, sondern auf einer Ebene.“ So erklärt sich Lukáš Novotný einen großen Teil ihres Erfolgs. „Es ist nicht nur ihr Programm, das die Leute überzeugt. Es ist die Art der Politik, die Anklang findet.“
3. Stimme einer neuen Generation
Von den Wählern unter 35 Jahren wählten 30 Prozent die Piraten, die stärkste Partei dieser Altersgruppe. Mehr als jede andere Partei verkörpern sie die Stimme einer neuen Generation. Und das liegt nicht nur am Stil, sondern auch am Programm:
Wie bei den deutschen Piraten steht Digitalisierung im Vordergrund. Sie repräsentieren die Sorgen der Menschen, die befürchten, die Politik könne im Zeitalter des Internets nicht mehr mit dem gesellschaftlichen Wandel mithalten. Das Internet soll frei und unzensiert bleiben, Behörden sollen digital stattfinden und Informationen für jeden frei verfügbar sein.
Ein weiteres Thema junger Menschen: der Umweltschutz. Die tschechischen Piraten sind im europäischen Parlament Teil der Grünen-Fraktion. Nachhaltige Landwirtschaft, eine Abkehr von fossilen Energieträgern und der Erhalt der Artenvielfalt stehen im Programm.
Eine der neuen Wählerinnen ist Jitka Holčáková. Sie ist Mitte 20, geisteswissenschaftliche Studentin, politisch Mitte-Grün. Sie hat die Piraten gewählt, weil sie liberal sind, modern und nicht dem alten Establishment angehören. „Sie arbeiten wirklich daran, was sie umsetzen wollen, sie machen keine leeren Versprechen.“ An ihnen sehe man endlich, was die Politiker denn jetzt wirklich machen; und ja: Sie sind gegen Babiš. Das ist bestimmt auch kein Nachteil.
Laut Novotný herrsche in Tschechien eine schwierige Beziehung zwischen Politik und Bürger. Und da sei es wichtig, dass die Politiker sagen, was alle anderen denken: Die Politik soll normal funktionieren und nicht dem Bürger das Geld aus der Tasche ziehen.
Das schätzt auch Martin Vacula. Er promoviert in Physik und wählt eigentlich nicht. Wenn, dann geht seine Stimme eher an die national-konservativen Parteien. Doch der Stil der Piratenpartei hat ihn überzeugt: „Sie haben mich mit ihrem modernen Ansatz bekommen. Und dass sie auch mal an die jüngere Generation gedacht haben.“
Die Piraten sind nicht wegen konkreten Zielen erfolgreich, sondern weil sie eine Protest-Partei für das liberale Bürgertum und für akademische Städter sind. Sie sind eine Partei für diejenigen, die weder die ehemaligen Volksparteien möchten noch Andrej Babiš. „Die jungen Leute haben Angst um den Staat”, sagt Lukáš Novotný. „Sie wollen ein Tschechien ohne all die Probleme, die Babiš und ODS/CSSD symbolisieren.“
Aber: Das ist keine stabile Wählergruppe. „Wir hatten schon mehrmals solche Parteien, die dann nach ein, zwei Wahlperioden unter 5 Prozent waren“, sagt Novotný. Ein Beispiel: Die Partei „Věci veřejné“, die einen seriöseren Stil der Politik propagierte und für die direkte Demokratie warb. Nach immerhin 11 Prozent bei den Parlamentswahlen 2010, traten sie bei der nächsten Wahl nicht einmal an. Oder die liberal-konservative TOP 09, die mal 17 Prozent bekam und sich jetzt mit der Fünf-Prozent-Hürde rumschlagen muss. So schnell die Bevölkerung neuen Parteien ihr Vertrauen schenkt, genauso schnell fordern sie es wieder zurück.
Immerhin haben die Piraten jetzt Geld, die EU-Wahl kam für sie zum richtigen Zeitpunkt. Die Frage ist, ob die Partei es schafft, glaubwürdig zu bleiben. Der Politikwissenschaftler Novotný sagt: „Wenn sie ihre Versprechen halten und sich nicht untereinander zerstreiten, schaffen sie das.”
Auch die Abgeordnete Gregorová ist optimistisch: „Am Anfang dachten die Leute noch: Hier kommen ein paar Rebellen, die bringen etwas frischen Wind rein und dann verschwinden sie wieder. Aber jetzt sagen sie: Aha, Politik kann auch ganz anders gehen.“
In Tschechien ist die Lage gerade so: Das alte Establishment ist verhasst, die Volksparteien sind am Boden, und der neue Ministerpräsident ist womöglich korrupt. Die Piraten können einen Anstoß zur Veränderung geben. Oder, wie es Gregorová sagt: „Ich glaube, dass wir die politische Kultur in Tschechien grundlegend verändern können.“
Redaktion: Philipp Daum. Schlussredaktion: Vera Fröhlich. Bildredaktion: Martin Gommel.