Ich bin in einem SPD-Umfeld aufgewachsen, war aber nie Parteimitglied. Gelegentlich habe ich im Ortsverband geholfen, aber nicht regelmäßig oder gezielt. Die SPD war eine Art gute Bekannte und immer meine Partei, über die ich stets auf dem Laufenden blieb. Bis zur letzten Bundestagswahl. Dort habe ich erstmals (und mit Magengrummeln) fremdgewählt.
Die SPD stürzte bei den Europawahlen ab. Ein Absturz, der sich schon seit der letzten Bundestagswahl andeutete. Wie bei den Abstürzen davor trat daraufhin die Vorsitzende, in diesem Fall Andrea Nahles, von ihrem Posten zurück, weil sie nicht mehr das „für ihr Amt erforderliche Vertrauen“ genieße. Wie bei allen Abstürzen davor auch wird das nichts ändern, denn der Vorsitz ist nicht das Problem der SPD. In normalen Zeiten hätte die Partei mit Nahles an der Spitze vermutlich keine Wahl gewonnen, sie wäre aber auch nicht großartig abgeschmiert.
Ja, Nahles fehlt die große Vision, wohin das Land gehen soll, oder zumindest gelingt es ihr nicht, diese Vision unter die Leute zu bringen. Das alleine disqualifiert sie aber nicht für den Vorsitz, denn klug ausgewählte Leute auf anderen Parteiposten könnten diese Schwäche ausgleichen. Nur, dort herrscht genauso Funkstille. Die gesamte SPD wirkt wie ein fleischgewordenes „weiter so“. Der Postillon unkte nicht ohne Grund, dass der gesamte SPD-Vorstand als Reaktion auf die Wahlniederlage zurückgetreten sei (und deutete damit an, dass es natürlich genauso weitergehen werde wie bisher).
Wie Nahles zur Vorsitzenden wurde, ist ein Problem
Mit einem „weiter so“ kann aber nur die Kanzlerin Wahlen gewinnen – und Kanzlerin ist Angela Merkel. Viele vergessen, dass Merkel ursprünglich als Reformerin (und sogar Klimakanzlerin) gestartet ist und erst im Laufe ihrer Kanzlerschaft dazu überging, Probleme auszusitzen und zu verdrängen. Außerdem war der Gegner von Merkel damals der sehr anders gestrickte Gerhard Schröder. Es gab einen starken Gegensatz zwischen beiden, während Nahles und Merkel einander eher ergänzen (vermutlich können sie deshalb so gut miteinander arbeiten).
Wenn der Absturz der SPD weder an Nahles’ Persönlichkeit noch an ihrer Politik liegt, kann man dann überhaupt von ihr auf die Ursachen schließen und ergibt der Rücktritt dann noch Sinn? Auf beide Fragen würde ich „ja“ antworten, denn wenn man sich ansieht, wie Nahles zur Vorsitzenden wurde, offenbart sich eins der großen Probleme der SPD. Denn Nahles wurde nicht Vorsitzende, weil sie sich in einem Wahlkampf durchsetzte, sondern weil sich die Spitzen der Landesverbände und die Parteiführung auf sie verständigt hatten. Ihre Wahl im April 2018 war so selbstverständlich, dass Nahles ihre unerwartete Gegenkandidatin Simone Lange nicht einmal zur Kenntnis nahm.
Diese Einmütigkeit bei der Vorstandswahl funktioniert, wenn eine Partei mit sich selbst im Reinen ist und alle innerparteilichen Strömungen in etwa gleich einflussreich sind. Dies ist bei der SPD aber nicht der Fall, die Partei ist seit etwa 20 Jahren innerlich zerrissen, ohne diesen inneren Widerspruch auszutragen. Trotz ständiger Beschwörungen, man habe aus Hartz IV gelernt, entwickelt sie nichts Neues. Die CDU löste dieses Problem bei ihrer letzten Vorstandswahl wesentlich besser, dort traten drei Kandidaten gleichberechtigt gegeneinander an, obwohl auch dort mit Jens Spahn einer nur als „Zählkandidat“ galt.
Mitmachen heißt: „Spende Geld!“ – mehr geht nicht
Auch die SPD-Mitgliederbefragung zum Eintritt in die Große Koalition 2017 war nicht mehr als ein bürokratisches Vorgehen: Hier gönnte sich die Parteispitze für ihren Standpunkt Vorteile, während sie den Gegnern Steine in den Weg legte. Rechtlich sicherlich einwandfrei, aber im Sinne einer demokratischen Streitkultur eher hinderlich.
Nach der Bundestagswahl 2018 sollte alles besser werden, dazu rief die Partei die Kampagne #SPDerneuern ins Leben. Die SPD-Zeitung Vorwärts veröffentlichte viele, viele Beiträge zu dem Thema. Hauptkritikpunkte: Mangelndes Leben in den Ortsverbänden, bürokratische Verkrustung, Unsichtbarkeit. Sehr schön zu sehen bei Ortsverbänden, wo unter „Mitmachen“ nur ein Punkt zu finden ist: „Spende Geld!“ Als Ursache für die Wahlniederlage präsentierte die Parteispitze dann aber nicht diese Ergebnisse, sondern die Analyse eines Beratungsunternehmens. Derzufolge waren die schlechte Organisation in der Parteizentrale, ungünstig gemanagte PR und Widersprüche in der Kommunikation schuld an der Wahlniederlage.
Die komplett anders gelagerten Beschwerden der Basis? Blieben verschwunden und vergessen.
All das sorgt dafür, dass die Mitglieder sich nicht mehr an der Parteiarbeit beteiligen. Nur noch jedes fünfte Mitglied ist überhaupt aktiv, der Rest besteht größtenteils aus Karteileichen. Dadurch ist die SPD einfach nicht mehr da, sie kümmert sich nicht mehr um ihre Mitglieder, sondern sieht sie nur noch als „Kunden“, denen man den „Kauf“ des eigenen „Produkts“ durch richtiges Marketing „schmackhaft machen muss“.
Was bleibt, ist ein Geflecht von Karrieristen und Funktionseliten, die sich größtenteils aus einem sehr engen Kreis rekrutieren und in erster Linie an sich selbst interessiert wirken. Da sämtliche neuen Köpfe aus eben diesem Kreis stammen, änderten auch die häufigen Vorsitzenden-Wechsel in den letzten Jahren nichts. Egal, wie der Nachfolger von Nahles heißt: Solange er aus diesem Kreis kommt und wie bisher erkoren wird, bleibt alles wie es ist.
Wenn sich etwas ändern soll, muss die Zerrissenheit der SPD in einem offenen Wahlkampf ausgetragen werden. Dazu muss die SPD bereit sein, wieder etwas zu riskieren. Nicht irgendwann später, wenn die Zeit reif ist, sondern genau jetzt. Der einzige und richtige Augenblick, um sich zu reformieren, ist genau jetzt. Ehrlich gesagt, glaube ich aber nicht mehr daran.
Onno Tasler ist KR-Mitglied und betreut die KR-Facebook-Gruppe „Gute Nachrichten - Lösungen hat die Welt“.
Redaktion: Susan Mücke; Schlussredaktion: Bent Freiwald; Fotoredaktion: Martin Gommel.