Welchen Artikel ich nach der Europawahl endlich ins Archiv legen kann

© Martin Gommel

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Welchen Artikel ich nach der Europawahl endlich ins Archiv legen kann

Wie die jungen Europäer gewählt haben und die besten Links zu Klimakrise und Grundeinkommen findet ihr in meinem neuen Newsletter.

Profilbild von Autorenpost von Rico Grimm

Vor ziemlich genau drei Jahren hatte ich die Nase voll. Der Brexit war gerade vorüber, und überall machten sich eher alte Menschen lustig über vor allem junge Wähler, die zwar in der EU bleiben wollten, aber angeblich nicht wählen gegangen sind. Worüber niemand sprach: Selbst wenn alle jungen Menschen wählen gehen würden, könnten sie die Alten nicht überstimmen (gilt heute in Deutschland, galt auch für den Brexit). Deswegen forderte ich – mangels besserer Alternativen – eine Jugendquote für die Parteien.

Diese Forderung kann ich nun beiseite legen – vorerst. Denn junge Wähler haben in den vergangenen drei Jahren ihre Stimme erhoben. Sie waren (zumindest in Deutschland) auf der Straße, um gegen die EU-Urheberrechtsreform zu protestieren, haben mit Macht Klimaschutz zum Topthema gemacht. Und das alles ohne die Krücke einer Quote, sondern auf ihre Art, mit witzigen Memes, Schulstreiks und Youtube-Videos. Sie haben ihren demografischen Nachteil mit den Guerilla-Methoden verteilten Protests mehr als ausgeglichen. Denn so konnten sie auch Ältere von ihren Themen überzeugen.

Was wir in der vergangenen Woche aber vergessen haben: Das war eine Europawahl. Alle Debatten drehten sich um die deutschen Ergebnisse, die Folgen für die deutsche Politik.

Denn ja, die Europawahl war eine Klimawahl. Aber mit Sicherheit nicht überall. Sie war auch eine Wahl des wiedererstarkenden Nationalismus und brutalen Ressentiments. Gerade durch die jungen Wähler.

In Polen räumte die regierende „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) unter jungen Wählern ab. 31 Prozent der Menschen unter 30 gaben ihr ihre Stimme. Diese Partei hat in den vergangenen Jahren systematisch die Gewaltenteilung im Land untergraben. Auch der vor der Wahl zum ersten Mal vereinten liberalen Opposition gelang es nicht, die Dominanz der PiS zu brechen. Der Zeit (Paywall) sagte ein überzeugter Pro-Europäer, der PiS gewählt hat: „Seit PiS an der Regierung ist, spüre ich in Polen diesen Enthusiasmus, jeder will das Land nach vorn bringen.“ 1:0 für den Nationalismus.

In Frankreich: Ja, da gewannen die Grünen die Wahl der Jungen deutlich. 28 Prozent für die „Europäischen Grünen“, aber auch: 20 Prozent für Marine Le Pens „Nationale Versammlung“. Macrons Partei? Nur Dritter. Der Spitzenkandidat der Nationalen Versammlung ist übrigens 23 Jahre alt.

In Schweden punkteten eher die grünen und linken Parteien bei den jungen Wählern. (Statistiken für Polen, Schweden, Frankreich hier)

Im krisengeschüttelten Griechenland fuhren die Konservativen bei den Wählern bis 24 einen haushohen Sieg ein, wie die Tageszeitung Ekatherimni schreibt. Knapp 14 Prozent wählten aber auch die Faschisten der „Goldenen Morgenröte“.

Ich habe nicht für alle Länder genaue Statistiken über das Wahlverhalten der Jungen finden können, aber ein Blick in die Vergangenheit hilft. Die konservative FPÖ holte in Österreich bei der letzten Wahl knapp 30 Prozent der jungen Stimmen, 8 Prozent mehr als 2013. In Italien entschieden sich bei der letzten nationalen Wahl 17 Prozent der jungen für die neuen Faschisten der Lega Nord, angesichts ihres Rekordergebnisses bei der Europawahl dürfte der Anteil eher gestiegen als geschrumpft sein.

Die Ergebnisse sind so vielfältig, wie Europa selbst es ist. In den einen Ländern ist Klimaschutz das wichtigste Thema für Junge, in den anderen Migration oder Arbeitslosigkeit. Aber zwei Lehren lassen sich ziehen:

  1. Die jungen Europäer wählen nicht quasi-automatisch pro-europäisch. Sie wählen entsprechend ihrer aktuellen Situation. Das ist eine gute und eine schlechte Nachricht für die EU. Dass die Jungen überhaupt wählen gehen und dabei auf Themen setzen, die ihnen wichtig, sind, zeigt, dass sie die Wahl ernst nehmen. Wenn aber ihre Themen hauptsächlich von Anti-Europäern vertreten werden, dann haben sie auch kein Problem damit, bei denen ihr Kreuz zu setzen. Heißt: Nationales Interesse schlägt im Zweifel Europa-Interesse.

  2. Wer nur auf die westdeutsche Debatte schaut, kann nicht erkennen, wie es Europa wirklich geht. Denn die Ergebnisse der Europawahl lassen zwei sich völlig widerstreitende Schlüsse zu. Die neuen Faschisten sind auf dem Vormarsch, genauso wie die Grünen. Es ist da kein ganz unwichtiges Detail, dass genau das auch für Ostdeutschland gilt, wo AfD und Grüne fast gleichauf bei den jungen Wählern liegen. Wer den Blick auf ganz Europa richtet, schaut also auf Deutschland mit anderen Augen: Der Westen ist die Ausnahme, nicht der Osten.


Unter meinem letzten Text hatte ich gefragt, wie ihr euch zur Europawahl entschieden habt. Das sind die Ergebnisse der Leserwahl – und ich sage es mal so: Ginge es nach den Abstimmenden müssten sich Volt, Die PARTEI und Diem25 um den Komissionsvorsitz streiten 😉

PS: Alles natürlich nicht repräsentativ. 330 Leute haben mitgemacht.


Vielen Dank an alle, die bei meiner Umfrage zur Anti-Klimaschutz-Lobby teilgenommen haben. Ich steige auf Basis eurer Fragen in den nächsten Wochen in das Thema tiefer ein. Vorher kommen noch Texte zur Effektivität von Online-Petitionen (am Beispiel der EU-Urheberrechtsreform), wenn es klappt ein Interview mit Chinas erster Fridays-for-Future-Aktivistin und ein Fotoessay aus Dhaka, Bangladesch, aus einer Stadt, die gerade im Staub erstickt. Und falls ihr Lust habt, hier findet ihr eine länger laufende Umfrage zu fünf grundsätzlichen Klimathemen, denen wir uns widmen könnten. Welches ist zunächst am wichtigsten?


Sechs interessante Links zur Klimakrise

  • Fridays for Future rufen alle Menschen zu massenhaftem Widerstand in einer weltweiten Aktionswoche ab dem 30. September auf. ✊
  • Krasse Zahl: Durch die Trockenlegung von Mooren wird in Deutschland genauso viel CO2 freigesetzt wie durch Tierhaltung oder Inlandsflüge. Rettet die Moore! 🐸 (Seit diesem Text plane ich schon meine Karriere als Wasserbüffel-Farmer in Brandenburg).
  • Nach Fukushima schossen die japanischen CO2-Emissionen in die Höhe, weil das Land alle AKWs abschalten ließ. Heute sind nur 10 von 50 Reaktoren wieder am Netz – und die Emissionen sind niedriger als vor dem Unfall. Dank erneuerbarer Energie. Das Detail habe ich in diesem spannenden Text eines Mannes gefunden, der mal die US-Atomindustrie überwacht hat und heute glaubt, dass sie verboten gehört. ☀️
  • Eines der stärksten Argumente für Klimaschutz fasst hier ein ehemaliger Klimaleugner (!) zusammen: Es ist einfach fahrlässig anzunehmen, dass die optimistischsten Prognosen zutreffen. 💡
  • Huch! Die AfD-Jugend in Berlin will, dass ihre Mutterpartei aufhört, den Klimawandel zu leugnen. 😂
  • Weniger überraschend als die AfD-Meldung, trotzdem fürchterlich: Die US-Regierung beginnt gerade, Klimawissenschaftler zu zensieren. ☠️

Fünf interessante Links zum Grundeinkommen

  • Wow! In Kanada gibt es einen Arzt, der armen Menschen eines der effektivsten Medikamente „verschreibt“, das wir kennen: Geld. 👨‍⚕
  • Das ist ein sehr guter Deep-Dive zu Andrew Yang, der das Grundeinkommen als US-Präsident einführen will. Besonders schön der Slogan „MATH - Make America Think Harder“. 💭
  • Der Verein Mein Grundeinkommen hat Details zu seinem eigenen BGE-Experiment verraten: 100 Teilnehmer, 1.200 Euro im Monat, 3 Jahre lang mit wissenschaftlicher Begleitung. 👩‍🔬
  • Deutschland hat seine erste Professur zur Erforschung des Grundeinkommens in Freiburg bekommen. Bernhard Neumärker übernimmt den Lehrstuhl. 👨‍🔬
  • Details zum BGE-Experiment im kalifornischen Stockton im Atlantic 💵

Der letzte Link

Ich frage mich nach diesem Text, ob ich acht Staffeln lang Game of Thrones geschaut und die ganze Zeit zu den Falschen gehalten habe …