Wir haben es versucht. Wir haben über die Europawahl berichtet, als wäre sie eine wirklich große Wahl. Wichtig, richtungsweisend. Wir haben das gemacht, obwohl wir ahnten, dass sie das nicht ist.
Vor drei Monaten haben wir die Mitglieder der Krautreporter-Community gefragt, was ihnen wichtig ist für die Europawahl. Hunderte Vorschläge haben sie eingereicht. Die haben wir sortiert, zusammengefasst und eine Liste von 15 Themen erstellt, über die mehr als 1.300 KR-Leser:innen abgestimmt haben. Am Ende stand eine Agenda – ein Arbeitsauftrag an uns: Wenn wir über die Europawahl berichten, dann haben wir sie immer im Hinterkopf.
Wir haben Texte über die Gewinner-Themen geschrieben, über Massentierhaltung, die Finanztransaktionssteuer, Asylpolitik; aus einem Thema, dem politischen Kampf um Klimaschutz, wird sogar eine ganze Serie von Artikeln entstehen.
Die Recherchen haben uns gezeigt: Ja, unsere Stimme hat Einfluss. Aber der ist klitzeklein.
Bei den wichtigsten Themen ist diese Europawahl nicht entscheidend
Nehmen wir das Beispiel Finanztransaktionssteuer: eine inzwischen 20 Jahre alte Idee, in der sich Konservative, Linke und Grüne wiederfanden: im vergangenen Jahr abgeräumt von den Regierungen Frankreichs und Deutschlands.
Nehmen wir die Asylpolitik. Dazu schreibt Bent Freiwald in seinem Artikel: „Bereits vor fast eineinhalb Jahren hat sich das Parlament über Länder- und Parteigrenzen hinweg geeinigt, die Verantwortung für Asylsuchende nicht mehr nur den Randstaaten aufzubürden, sondern gerechter auf die Mitgliedstaaten zu verteilen. Passiert ist seitdem nichts.“ Entscheidend sind die 28 Regierungen der EU, und die können sich nicht einigen.
Massentierhaltung, hier sieht es auf den ersten Blick ganz gut aus. Josa Mania-Schlegel zeigt uns: Ja, man kann Sonntag vielleicht Agrarlobbyisten aus dem Parlament wählen. Ja, das Parlament muss bei der Agrarpolitik einbezogen werden. Aber auch hier geht ohne die Regierungen nichts, und die schieben eine wirklich grundlegende Reform schon seit Jahren vor sich her.
Trotzdem sprechen Spitzenpolitiker von einer „Schicksalswahl“
Wer nach Gründen sucht, warum seine oder ihre Stimme am Sonntag einen Unterschied macht, wird sie finden: Das EU-Parlament setzt gegen die Regierungen schärfere CO2-Grenzwerte für Neuwagen durch! Es hilft dem bisher nutzlosen Emissionshandel auf die Füße! Das nützt in der Klimakrise, die für unsere Leser zur Europawahl auch sehr wichtig ist.
Wer danach sucht, wird allerdings auch immer wieder Gründe finden, warum die Wahl am Sonntag unwichtig ist: Über eine CO2-Steuer könnte das Parlament nicht entscheiden, selbst wenn es das wollte. Steuerfragen sind Sache der Regierungen, das Parlament kann nur beraten. Womit dann auch eine andere Besteuerung von Großkonzernen vom Tisch ist, das fünfte Topthema der Leser.
Okay, das EU-Parlament ist eben kein nationales Parlament. Das könnte man jetzt einwenden. Es gibt historisch nachvollziehbare Gründe dafür, dass das EU-Parlament nicht so mächtig ist wie zum Beispiel der Bundestag, der mit seinen Gesetzen die jeweilige Regierung auf ein bestimmtes Handeln verpflichten kann.
Aber die Politiker, die gerade um unsere Stimmen werben, sprechen darüber nicht. Ihre Parteien schreiben ihre Wahlprogramme voll, zum Teil auch mit Dingen, bei denen das EU-Parlament überhaupt nicht mitreden kann. Ist das aufrichtig?
Die Spitzenpolitiker sprechen sogar von einer „Schicksalswahl“. Da gibt es dann die ganz große Koalition. Denn Christian Lindner von der FDP verwendet dieses Wort, Andrea Nahles von der SPD und auch der CSUler Manfred Weber. Die Spitzenkandidatin der Grünen, Ska Keller, sieht es ähnlich, wie sie gerade dem Münchner Merkur sagte.
Es geht – so hört sich das an – ums Ganze. Aber wer hat denn jemals eine „Schicksalswahl“ für einen ganzen Kontinent gesehen, die so emotionslos diskutiert wurde? Kaum jemand, der da zur Wahl steht, kann wirklich überzeugend erklären, warum ausgerechnet diese Europawahl nun besonders wichtig ist.
Vier Vorschläge, um mit diesem Dilemma umzugehen
Klar, die neuen Nationalisten drohen, große Erfolge einzufahren, dagegen wollen die Pro-Europäer kämpfen. Doch selbst wenn die Rechtspopulisten fünf, zehn Prozent mehr bekommen, bedroht das nicht die Zukunft der Europäischen Union. Diese Macht hat das Parlament einfach nicht.
So bitter das für überzeugte Europäer klingen mag: Der Gedanke, dass am Sonntag nicht über Wohl und Wehe der EU entschieden wird, sondern nur über die Vergabe von 751 gut vergüteten Abgeordnetensitzen, die mit vergleichsweise wenig Verantwortung einhergehen, ist vielleicht gar nicht zynisch, sondern schlicht realistisch.
Und das stellt alle Bürger:innen, die am Sonntag wählen dürfen, vor ein fundamentales Problem: Irgendetwas scheint zur Wahl zu stehen, nur was genau eigentlich? Solange die Europawahl nicht aufgewertet wird, geht es hier nicht um Sachpolitik und die besseren Vorschläge. Es geht um symbolische Siege. Um die Deutungshoheit im politischen Raum.
Die Wähler:innen können dieses Problem allein nicht lösen, dafür bräuchte es auch jene, die von einer „Schicksalswahl“ sprechen. Aber sie können mit dem Problem ihrer eigenen unverschuldeten Machtlosigkeit umgehen. Das haben wir bei unseren Recherchen gelernt.
Ich habe vier Möglichkeiten dafür gefunden: den staatsbürgerlichen Selbstbetrug, das konsequente Wagnis, das ehrbare Dagegen und die Maria-Hilf-Wahl.
Jeder kann so tun, als wäre das Parlament mächtig, und das tun, was man bei Wahlen so macht: nach Themen wählen oder Personen oder welche Kriterien man sonst so anlegt. Das wäre richtig, denn wie wir gezeigt haben – völlig machtlos ist das Europaparlament nicht. Und überhaupt: Als guter Bürger ist es eine Pflicht, wählen zu gehen. Ein bisschen Selbstbetrug wäre das trotzdem, denn das EU-Parlament ist eben kein normales Parlament.
Die Bürger:innen können sich auch dem wachsenden Heer derjenigen Menschen anschließen, die unzufrieden sind, wie wenig Gewicht ihre Stimme bei der Europawahl hat – und einfach zu Hause bleiben. Vor der Bundestagswahl 2017 habe ich in einer Analyse über politische Alternativen geschrieben: „Wenn wirklich viele Menschen nicht wählen gingen, würde ernsthaft über Reformen des Systems und grundlegende Veränderungen diskutiert werden.” Genau das passiert in Europa, das seit Jahrzehnten Debatten über die demokratische Legitimation der EU führt. Es kommt an, weil die europaweite Wahlbeteiligung im Trend seit Jahren sinkt (Rekordhalter: Slowakei 2014 mit 13 Prozent). Nicht-Wählen wäre konsequent, aber auch ein Wagnis.
Denn bei der Europawahl gilt das gleiche wie bei der Bundestagswahl. Aus meinem Text von damals: „Wenn eine Partei es schafft, ihre Anhänger zur Wahl zu motivieren, spielt es ihr in die Hände, wenn die Wähler der anderen Parteien zu Hause bleiben.” Wir kennen das Zahlenspiel: 100 Leute gehen zur Wahl. 4 wählen die AfD. Das macht 4 Prozent für die AfD. Oder: 1.000 Leute gehen zur Wahl. 4 wählen die AfD. Das macht 0,4 Prozent für die AfD.
Im Zweifel rechter, rassistischer und antieuropäischer
Was könnten die Rechtspopulisten anrichten? Sie wollen schließlich die EU aushöhlen und zurückbauen und ein „Europa der Vaterländer“ errichten – was auch nur ein anderes Wort für jeder gegen jeden ist. Der Witz ist: Genau diese Macht hat das Parlament nicht. Das EU-Parlament kann nicht die EU umbauen, es kann keine Rechte neu verteilen und Institutionen auflösen. Könnte es das, hätten wir wirklich eine Schicksalswahl vor uns, dann könnten alle, die am Sonntag wählen gehen sollen, klar sehen, dass es hier um die Zukunft der EU geht.
Aber ein großer Neu-Nationalisten-Block im EU-Parlament könnte natürlich bedeuten, dass die wenigen Entscheidungen, die die Abgeordneten tatsächlich treffen dürfen, im Zweifel rechter, rassistischer und antieuropäischer ausfallen. Deswegen könnte man zur Wahl gehen, allein um die Rechtspopulisten kleinzuhalten, das wäre für jeden überzeugten Europäer ein ehrbares Ziel, aber auch wieder nur eine Stimme gegen etwas.
Es bleibt für uns Bürger noch eine letzte Möglichkeit. Wenn es um Inhalte kaum gehen kann, weil das System ist, wie es ist, dann muss es um das System selbst gehen. Hier wieder das aber (sorry!): Die größten Demokratie-Blockierer der EU werden auch nach der Wahl am Sonntag nicht im EU-Parlament sitzen, sondern in den Hauptstädten des Kontinents. Dort sitzt die Macht, die die EU vollends demokratisieren kann. Die politischen Entscheidungen der Regierungen im Europäischen Rat der Mitgliedsstaaten werden sich durch eine Wahlnacht nicht ändern. Schließlich wurden diese Regierungen ja auch gewählt und sind an ihren Wählerauftrag gebunden.
Ein eindeutiges Signal für eine Reform senden
Was bleibt? Die Dinge nehmen wie sie sind und das Beste hoffen; die Maria-Hilf-Wahl. Es geht uns darum, erstmal die Voraussetzungen zu schaffen, dass die eigentlichen Themen bei einer Europawahl zur Abstimmung stehen. Man könnte also jetzt sagen: „Dann wähle ich einfach eine Partei, die das Parlament stärken will, und alles wird gut.“
Nur könnten die Bürger:innen in der Wahlkabine blind wahllos ein Kreuz machen und trotzdem mit sehr, sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine Partei wählen, die genau das vorhat: das Parlament stärken. Allein AfD, NPD und andere rechtsextreme und ultranationalistische Parteien wollen das nicht. Sie wollen das Parlament abschaffen (AfD) beziehungsweise Deutschland aus der EU holen (NPD).
Eine große Mehrheit für eine Stärkung des Parlaments gibt es schon längst, und die gab es auch bei der letzten Wahl, und trotzdem hat diese Mehrheit wieder keine Folgen gehabt. An den Regierungen der Mitgliedstaaten führt einfach kein Weg vorbei.
Und grundsätzlich: Woher weiß die Öffentlichkeit, woher wissen die Regierungen der Mitgliedstaaten nach der Wahl, dass eine Stimme für FDP/CDU/SPD/Grüne/Linkspartei eigentlich eine Stimme für eine Reform der EU war? Niemand kann es wissen. Die anderen Themen der Parteien überlagern die Reformkomponente.
Um ein eindeutiges Signal zu senden, muss man eigentlich eine Partei wählen, die sich nur gegründet hat, um das System der EU zu ändern. Gut ist: Diese Parteien gibt es, zum Beispiel Volt, Diem25 und ja, in einem gewissen Sinne auch die PARTEI. Blöd ist: Die sind meist klein, unerfahren, ihr Personal ist unbekannt und hat noch nie bewiesen, dass es politische Schlagkraft hat. Es wäre eine Wahl, die das eigentliche Problem anpackt, aber nur dann symbolische Wirkung entfaltet, wenn viele andere genauso denken. (Diesen Text kannst du gerne teilen!) Immerhin: Da es keine Sperrklausel wie bei der Bundestagswahl gibt, können es die Kleinen auch wirklich ins Parlament schaffen.
Wir haben bei Krautreporter das Demokratiedefizit der EU immer wieder zum Thema gemacht. Wir haben sogar eine „EU-Kritik für Europafreunde” geschrieben. Aber nach unserer Europawahl-Aktion bleibt uns nur ein resigniertes Fazit, verbunden mit einer simplen Forderung: Die nationalen Wahlen sind die wahren Schicksalswahlen Europas, alle 28, jedes Mal aufs Neue, als nächstes in Griechenland, Portugal und Polen, wo im Herbst gewählt wird. Fordern müssen wir von den Leuten, die wir Europäer bei diesen Wahlen ins Parlament und in die Regierung schicken, nur eine Sache, wenn es um die EU geht: „Reformiert den Laden! Gebt uns wirklich eine Stimme!“
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel. Und Mitarbeit: Tausende KR-Leser - vielen, vielen Dank an jene, die mit Vorschlägen und bei den Abstimmungen unserer Europawahl-Berichterstattung geprägt haben!