Femi Oluwole wurde im Nordosten Englands geboren, einer typischen Arbeitergegend. Später hat er Europäisches Recht studiert, in Wien und Brüssel gelebt. Seit dem britischen EU-Referendum reist er durch sein Heimatland: von London durch die Midlands und Sunderland nach Schottland, von Nordirland nach Wales, Cornwall und Kent. Femi, wie er in Großbritannien nur genannt wird, kommt rum und zu fast nichts anderem mehr. Denn er hat ein Ziel: Zusammen mit seinen Mitstreitern von der Jugend-Aktivisten-Gruppe OFOC (Our Future – Our Choice) kämpft er dafür, dass Großbritannien in der EU bleibt. Das Besondere an seiner Arbeit: Er ist auf Augenhöhe mit den Leuten – auch mit den EU-Skeptikern.
Femis wichtigstes Argument: Eine Mehrheit der Alten hat einer Mehrheit der Jungen den Brexit vor die Tür gelegt. Die jungen Briten werden den Brexit ausbaden müssen. Kein Mitbestimmungsrecht, keine Niederlassungsfreiheit und keine Fördermittel aus Brüssel mehr für wichtige Infrastrukturprojekte. Femi und sein Team bei OFOC wollen verstehen, warum das passiert ist. Dafür hören sie den Leuten auf der Straße zu und rücken Missverständnisse über die EU gerade.
Die BBC und andere große TV-Sender und Radio-Stationen laden Femi regelmäßig in Talkshows ein. Seine Guerilla-Aktionen mit Brexit-Hardlinern sind in Großbritannien inzwischen legendär. Zum Beispiel seine Anrufe in der Radio-Show des Brexit-Posterboys Nigel Farage, dem Chef der europaskeptischen UKIP-Partei (Video) oder die Gespräche mit Pro-Brexit-Demonstranten in London (Video).
Und wenn man ihm so zuhört, versteht man schnell, warum seine Aktionen so einschlagen: Femi brennt für seine Mission. Er will nicht akzeptieren, dass Menschen gegen die EU sind, nur weil sie nicht verstehen, wie sie funktioniert und was sie für uns EU-Bürger tut. Bei aller berechtigten EU-Kritik: Nichtwissen wird als Anti-EU-Begründung von ihm nicht akzeptiert. Deshalb dreht er Aufklärungsvideos über die EU, wie zum Beispiel eines, in dem er den Vorwurf auseinandernimmt, in Brüssel bestimme eine „undemokratische Elite“ über die Europäer.
Femis Arbeit und die Kampagnen von OFOC wirken wie ein riesiges Nachhilfeprogramm für die Briten. Ich habe Femi angerufen und mit ihm über die Europawahl gesprochen.
Femi, die EU hat ein Lobbyproblem, trifft seltsame Entscheidungen zum Urheberrecht, die Leute haben Angst um den eigenen Job, weil es immer irgendwo in Europa jemanden gibt, der es billiger macht. Warum soll ich zur Wahl gehen?
Weil sich die EU trotz aller berechtigten Kritik für dich lohnt. Du musst dir nur einige Gesetze und Vorgaben anschauen. Jeder von uns hat was davon: von niedrigeren Preisen bis zur EU-weiten Krankenversicherung und niedrigeren Roaming-Gebühren für mobiles Telefonieren. Das kann man alles auf der Website der EU nachgucken.
Und denk mal daran, welchen Einfluss wir haben: Wir Briten haben 73 von 751 Sitzen im EU-Parlament, ihr Deutschen 96, nicht wahr? Das heißt, wir haben eine signifikante Stimme. Wenn, wie bei der letzten EU-Wahl 2014 nur 36 Prozent der Briten wählen gehen, und das überwiegend die Leute waren, die UKIP (Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs (Wikipedia)) wählten, dann ist das für das Parlament deshalb ein Problem, weil diese Partei nicht hinter dem EU-Projekt steht. Sie erzählt Lügen über die EU und versucht, alle zu stören und zu frustrieren. UKIP nennt die EU eine Mafia. Wir haben damals unsere Chance, die EU mitzugestalten, nicht genutzt. Stattdessen haben wir denen, die sie zerstören wollen, den Vortritt gelassen. Und du siehst, wohin das geführt hat: Die EU-Wahl hat sich auch auf unsere Innenpolitik ausgewirkt.
Die EU hat Probleme, aber mit Schwarz-Weiß-Denken kommen wir nicht besonders weit. Wir brauchen ehrliche Debatten. Und je mehr Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven mitdiskutieren, desto besser, denn desto ausbalancierter wird das.
Welche Reform wäre denn zum Beispiel wichtig aus deiner Sicht?
Welchen Einfluss Lobbygruppen haben, muss transparenter werden. Da braucht es mehr Regulierung. Und es wird sehr viel Geld verschwendet dadurch, dass es zwei Parlamente gibt – eins in Straßburg und eins in Brüssel. Das könnte man leicht ändern.
Kannst du uns ein bisschen mehr darüber erzählen, warum du diese Arbeit machst: durchs Land reisen, zuhören, erklären, Videos über die EU produzieren? Was ist dein Antrieb?
Weil ich EU-Recht studiert hatte, ist mir schon kurz nach dem Start der Kampagnen zur Brexit-Volksabstimmung klar geworden, dass wir in Großbritannien eine vollkommen verzerrte Debatte über die EU führen. Das fing schon damit an, dass ständig über den Binnenmarkt und die Zollunion geschimpft wurde, aber sich niemand die Mühe machte, diese beiden grundlegenden Pfeiler der EU genauer zu erklären. Jeder dachte, das ist furchtbar kompliziert. Die Pro-EU-Kampagnen sagten nur: „Vertraut den Experten.“ Aber das tat niemand. Und es reichte einfach nicht, dass die Experten auf die Bedeutung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit innerhalb der EU hinwiesen. Niemand verstand, was passieren würde, wenn es die EU nicht gäbe. Nämlich, dass jedes Land seine eigenen Regeln für die Produkte und Dienstleistungen machen müsste, die es anbieten will.
Das würde damit enden, dass es unzählige unterschiedliche Bestimmungen und Gesetze gäbe, die deine Waren erfüllen müssen, wenn du sie in ein anderes Land verkaufen möchtest. Das wäre doch furchtbar kompliziert und teuer. Das Handeln mit anderen Ländern würde sich nicht mehr lohnen, der Markt wäre viel kleiner, und alle verdienten weniger. In der EU gibt es aber einheitliche Gesetze und Regeln. Der Binnenmarkt und die Zollunion helfen jedem einzelnen von uns, weil wir entweder mehr beim Handeln verdienen oder weniger im Supermarkt bezahlen müssen. Das leuchtet doch jedem ein, oder? Ich kann das in 30 Sekunden erklären, aber die Kampagnen haben das in fünf Monaten nicht geschafft. Niemand hat geglaubt, dass uns der Brexit ärmer machen wird.
Aber es wurde ja auch viel über Migration geredet zu dieser Zeit.
Ja, aber auch wieder falsches. Uns wurde erzählt, dass allein die EU über die Einwanderungsgesetze bestimmt. Dadurch könne jeder herkommen und unser Gesundheitssystem schröpfen. Aber das stimmt einfach nicht. Denn in Artikel 7 der Freizügigkeitsrichtlinie der EU (PDF) steht, dass, wer sein Recht auf Freizügigkeit in Anspruch nehmen will, einen Job braucht oder genug Geld mitbringen muss, um sich selbst krankenzuversichern. Es ist ein Missverständnis, dass es okay ist, in die Wohlfahrtssysteme anderer EU-Staaten einwandern zu können. Ich hatte das dringende Bedürfnis, die ganzen Lügen, die vor dem Referendum erzählt wurden, geradezurücken. Das beschäftigt mich inzwischen schon drei Jahre.
Was hat dich während dieser Zeit am meisten beeindruckt?
Dass ich selbst den Journalisten der BBC widersprechen musste, die völlig falsche Dinge erzählten. Wenn die Chef-Brexiteers lügen, wie zum Beispiel Nigel Farage, ist das eine Sache. Aber dass selbst diejenigen, die einen Bildungsauftrag haben, nicht Bescheid wissen – das hat mich schon geschockt.
Ich würde sagen: Der Brexit ist ein Riesenbildungsprogramm gewesen. Jetzt ist kein Volk besser informiert als die Briten, wenn es um die EU geht. Hab ich recht?
Naja, so einfach ist es nicht. Unter denjenigen, die für das Verlassen der EU gestimmt haben, herrscht ein Gefühl vor, dass man ihre demokratische Entscheidung gerade ignoriert. Sie sind deshalb eher wütend und nicht wirklich bereit, die Argumente der EU-Fans zu hören. Aber diejenigen, die unentschieden waren oder sowieso für einen Verbleib gestimmt haben, haben auf jeden Fall mehr Argumente jetzt. Und diese Gruppe wird immer lauter: Im März waren über eine Million Menschen in London auf der Straße und sechs Millionen haben eine Online-Petition unterschrieben, die fordert, den Brexit abzublasen. Das ist durchaus die größte pro-europäische Bewegung, die es in der EU jemals gegeben hat.
Der ehemalige britische Außenminister Boris Johnson hat kürzlich gesagt, die Europawahl sei undemokratisch, weil ja niemand seinen Europaabgeordneten kennen würde. Hat er da nicht einen Punkt?
„Wenn die Medien nur annähernd so viel über das europäische Parlament berichten würden, wie über das in London, würde jeder besser verstehen, was die EU tut und welchen Einfluss unsere Abgeordneten in Brüssel haben.“
Deshalb wäre es wichtig, dass die regionalen Medien mehr tun, um die Kandidaten vorzustellen und das, wofür sie einstehen. Wenn zum Beispiel unsere Zeitungen und Fernsehsender nur annähernd so viel über das europäische Parlament berichten würden, wie über unser Unterhaus, wären wir nicht in dieses Chaos geraten. Denn dann würde jeder besser verstehen, was die EU genau tut, wie sie funktioniert und welchen Einfluss unsere Abgeordneten in Brüssel haben.
Im Moment sieht es so aus, als ob die Briten an der Europawahl Ende Mai teilnehmen. Falls sich aber die Abgeordneten im britischen Parlament auf die Unterzeichnung des Austrittsvertrags einigen, könnte es sein, dass du am 23. Mai zu Hause bleiben musst. Wie geht es dir damit?
Ich bin sehr ärgerlich darüber. Denn was wir durchmachen, ist, glaube ich, der größte Betrug, den zumindest ich in meinem Leben gesehen habe. Man hat uns 2016 erzählt, die EU braucht uns Briten so dringend, dass sie uns einen super Vertrag geben werden. Und jetzt behaupten die Brexiteers, die 17,4 Millionen Briten, die für den EU-Austritt gestimmt haben, wollten einen Brexit ohne Vertrag. Das schadet uns doch mehr als der EU. Aber gut ist das für niemanden.
„Den Leuten muss klar werden, dass sie mit ihrer Stimme auch darüber entscheiden, dass ihre eigene Region besser von EU-Gesetzen profitiert – überall in Europa.“
Ich bin überzeugt, dass es besser ist mitzugestalten. Den Leuten muss klar werden, dass sie mit ihrer Stimme auch darüber entscheiden, dass ihre eigene Region besser von EU-Gesetzen profitiert – überall in Europa.
Aber derzeit haben viele den Eindruck, die EU tut nur was für diejenigen, die in den Metropolen wohnen. London, Berlin, Paris. Der Rest fällt hinten runter. Da bricht sich auch so eine Verdrossenheit über den Kapitalismus Bahn, der die Unterschiede zwischen denen, die einen leichten Start haben und denen, die hart arbeiten müssen, immer nur vergrößert.
Was würdest du am meisten vermissen, wenn du kein EU-Bürger mehr wärst?
Dass ich nicht mehr in anderen EU-Ländern leben und arbeiten kann. (Femi wird still, und sagt schließlich leise) … und den Respekt vor meinem Heimatland. Den werde ich am meisten vermissen. Der Brexit bedeutet für mich, dass mein Land niemals wieder in Ordnung kommt.
Was wünschst du dir für die Wahl? Und für Europa?
Ich wünschte, wir würden alle besser verstehen, dass die EU einen Rahmen schafft, in dem es uns besser geht. Jedem von uns. Und dass wir zusammen daran arbeiten müssen, dass die EU sich immer weiter verbessert. Dafür sind die Wahlen gut. Ich bin froh, dass wir Briten noch einmal mitwählen können, und ich hoffe, dass die Wahl die Voraussetzungen schafft, die EU zu reformieren. Nicht, sie zu zerstören. Deshalb ist es wichtig, dass so viele wie möglich wählen gehen. Damit wir ein bunt gemischtes EU-Parlament bekommen, in dem man Kompromisse finden muss.
Femi Oluwole ist Mitgründer der britischen Aktivisten-Gruppe Our Future – Our Choice (OFOC) und setzt sich dafür ein, ehrlicher über die EU zu reden.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.