Weniger als 100 Tage bis zur Europawahl. In den Wahlkampfzentralen der großen Volksparteien brummt es wie in frisch durchgeschüttelten Bienenstöcken. Neue Bürgerbewegungen sprießen wie Pilze aus dem Boden der Städte, Ideen wehen wie Sporen über die Marktplätze. Die Medien brennen ein Multimedia-Feuerwerk ab, Reporter arbeiten bis kurz vor den Herzkollaps, um über all die wichtigen Themen angemessen berichten zu können, zu denen sich die brillantesten Politiker des Landes in kontroversen Debatten die Argumente um die Ohren hauen. Endlich wieder Europawahl. Endlich gehts wieder um die … okay: Nee. Ironie Aus.
Europawahl: Öde statt Freude. Ich weiß nicht, ob Manfred Weber aus Niederbayern einer der brillantesten Köpfe unserer Zeit ist. Aber er ist auf jeden Fall der Spitzenkandidat der CDU/CSU für die Europawahl. Und weil er aus dem größten Mitgliedsland der EU stammt und der größten Fraktion im Europaparlament vorsteht, gilt er als der designierte EU-Kommissionspräsident. Keine Ahnung, was genau Manfred Weber vor hat, wenn er einmal gewählt ist. Auf seiner Homepage steht, er ist für Stabilität und Sicherheit.
Ende Mai sind rund 400 Millionen EU-Bürger dazu aufgerufen, ihre Abgeordneten für das Europaparlament zu wählen. Doch obwohl die Identifikation mit Europa allgemein sehr hoch ist (77 Prozent der Deutschen fühlen sich als Bürger der Europäischen Union) ist, sind unsere Europapolitiker ungefähr so beliebt wie ein Zivildienstleistender beim Veteranentreffen. Das haben uns auch die KR-Leser gezeigt, als wir sie gefragt haben, welche Themen ihnen wichtig sind bei dieser Wahl:
„Ich glaube nicht, dass es wichtig ist, möglichst viele Meinungen zum Thema Europa einzuholen. Wichtiger wäre, dass dargestellt wird, welche Stimmen welchen Einfluss haben und wie wenig das mit den Interessen der europäischen Bevölkerung zu tun hat“, findet KR-Mitglied Robert.
„Statt sich den Bürgern zu widmen, sitzen die Politiker im Schoß der Wirtschaft mit der Folge, dass Verbrennungsmotoren unsere Luft verpesten, dass Fliegen viel zu billig ist und subventioniert wird, dass die Klimaziele nicht erreicht werden und Lobbyisten in Brüssel mehr einzubringen haben, als der normale Bürger“, sagt Ralf.
Und Holger findet sogar: „Es ist sehr fraglich, ob die Politiker überhaupt etwas Sinnvolles zu entscheiden haben oder nur die gut bezahlten Abnicker der Entscheidungen der EU-Kommission sind.“
Tja. Ein Porträt von Manfred „Stabilität-und-Sicherheit“ Weber werden wir uns dann wohl getrost sparen können. Wie sollen wir also darüber berichten?
Um das herauszufinden, habe ich euch – die Krautreporter-Community – Ende Januar über unsere diversen Newsletter und die sozialen Netzwerke gefragt:
Auf welche konkrete(n) Frage(n) hättest du gern eine Antwort von den Kandidat*innen der Europawahl?
Ich habe das gefragt, weil unser Eindruck ist, dass bei Wahlen zu oft an den für die Bürger wichtigen Themen vorbeigeschrieben wird. Dass die Beliebtheit der Europapolitik auch deshalb so gering ist. Deswegen nutzen wir diese Europawahl für ein Experiment. Wir wollen die Schwerpunkte unserer Berichterstattung crowdsourcen. Wir tragen eine Agenda der Bürger zusammen und berichten nur darüber. Gehen also zu den Politikern und fragen sie zu euren Fragen, schauen uns die Parteiprogramme unter dieser Prämisse an. Wir stellen das Ganze vom Kopf auf die Füße! Wenn das klappt, werden wir es bei den nächsten Wahlen wieder so machen.
Aber nun zur Auswertung unserer Umfrage:
Insgesamt haben mir 359 Mitglieder geantwortet. Manche Replik bestand nur aus einem Wort (Klimaschutz!), manche sogar nur aus drei Buchstaben (Bedingungslose GrundEinkommen!). Andere haben mir sehr ausführlich geschrieben und zum Beispiel über frustrierende Erfahrungen als Arzt in einem Grenzgebiet oder ihren Schmerz über das untätige Zusehen der EU beim Sterben im Mittelmeer berichtet.
Ich habe alle Antworten anonymisiert in einer Tabelle gesammelt, die du hier einsehen kannst.
Die erste kleine Auswertung eurer Fragen zeigt mir zum Beispiel, dass die wachsende Ungleichheit der Lebensbedingungen und -chancen in den Ländern Europas mit 129 Nennungen das wichtigste Thema für die künftigen Kandidaten des Europaparlaments sein sollte. Genau das ist übrigens eine Frage, die für die deutschen Abgeordneten aus innenpolitischen Gründen eher unangenehm ist, erklärte mir kürzlich der Politikwissenschaftler Olaf Leiße in diesem Interview.
Das Thema, was euch nach der sozialen Gerechtigkeit innerhalb Europas mit 98 Nennungen am zweitwichtigsten war, lautete: Umweltschutz. Dass in Bayern gerade mehr als 1,7 Millionen Menschen mit Ausweis in der Hand in ihren Rathäusern erschienen sind, um ein Volksbegehren für mehr Umweltschutz zu unterzeichnen, und dass derzeit jeden Freitag Zehntausende Schüler für mehr Klimaschutz demonstrieren, zeigt, wie wichtig den Bürgern das Thema ist.
Die Regierungsparteien CDU und CSU lehnten hingegen ein neues Klimaschutzgesetz im Bundestag ab. Die Ziele seien zu ambitioniert. Die bereits vereinbarten Klimaschutzziele verfehlt die Bundesrepublik übrigens. Unions-Spitzenkandidat Manfred Weber hat zu dem Thema auf seiner Homepage gar nix zu sagen.
Wie nun weiter?
Wir wollen mit euch gemeinsam eine Agenda erarbeiten mit den fünf wichtigsten Fragen.
Dafür werden wir 15 Fragen zur Abstimmung stellen. Diese 15 Fragen sind gewichtet nach den Ergebnissen der ersten Umfrage (Details dazu in den Anmerkungen).
Dazu brauche ich noch einmal fünf Minuten deiner Zeit.
Stimm ab: Welche dieser 15 am häufigsten gestellten Fragen sind dir persönlich wichtig?
Du kannst jede Frage einzeln bewerten, indem du ihr ein Stern (nicht so wichtig) bis fünf Sterne (super wichtig) verleihst.
In ein paar Tagen stelle ich euch dir Ergebnisse dieser Umfrage vor, und erkläre, wie du dich weiter beteiligen kannst, wenn du magst.
Redaktion: Rico Grimm; Mitarbeit: Bent Freiwald; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.