Wovon Europas Gründer wirklich träumten – und was davon heute noch wichtig ist

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Interview: Wovon Europas Gründer wirklich träumten – und was davon heute noch wichtig ist

Robert Menasse hat 2018 eine viel beachtete Rede über Europa gehalten, die auch wir großartig fanden. Leider war die nicht ganz richtig.

Profilbild von Interview von Christian Gesellmann

Robert Menasses Essay „Eine kurze Geschichte der europäischen Zukunft“ war einer unserer meistgelesenen Artikel im Jahr 2018. Er gab damals einer alten Utopie neue Kraft: Ein Europa der Regionen. Ohne Nationalstaaten und damit ohne den zerstörerischen Nationalismus. Der österreichische Schriftsteller und Preisträger des Deutschen Buchpreises hatte jahrelang in Brüssel recherchiert und zitierte direkt aus Reden der Gründerväter der europäischen Idee und der Europäischen Union.

Auf Druck des Historikers Heinrich August Winkler musste er jedoch zugeben, Zitate darin erfunden zu haben: „Die Quelle (Römische Rede) ist korrekt. Der Sinn ist korrekt. Die Wahrheit ist belegbar. Die These ist fruchtbar. Was fehlt, ist das Geringste: das Wortwörtliche.”

Deshalb habe ich mich mit Olaf Leiße getroffen. Er ist Professor für Europäische Studien an der Universität Jena. Ich wollte von ihm wissen, was wir von Menasses Interpretation der Geschichte Europas und der Zukunft der Nationalstaaten glauben können – und was nicht. Und, keine Angst, ganz umsonst haben wir den Menasse-Text nicht gelesen!

Die politischen Gründerväter der EU sollen von Anfang an das Ziel im Sinn gehabt haben, die Nationalstaaten in Europa abzuschaffen – das hat Robert Menasse Jean Monnet, Walter Hallstein und Robert Schuman in den Mund gelegt. Wörtlich gesagt haben sie das nie, doch sie hätten es so gemeint, sagt Menasse. Stimmt das?

Nein. Es ging damals zunächst darum, dass überhaupt erstmal Kooperationen zwischen den Staaten beginnen. Und diese Kooperationen dann zu institutionalisieren, also auf feste Füße zu stellen. Es ging nicht darum, Staaten zu überwinden, sondern darum, sie dauerhaft aneinander zu ketten – in einem positiven Sinne wohlgemerkt. Vorher kannte man ja immer nur negative Kooperation. Gerade Deutschland und Frankreich, die sich immer auf Kosten des jeweils anderen zu sanieren versucht haben.

Aber könnte es nicht sein, dass das weiterführende Ziel trotzdem die Abschaffung der Nationalstaaten gewesen ist, wie Menasse behauptet, man diese große Idee aber mit kleinen Schritten angegangen ist?

Es gab eine große Bewegung der Föderalisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg auch sehr einflussreich war. Föderalisten hatten ein mehrstufiges Konzept im Kopf von einer Weltföderation, die an höchster Stelle stehen sollte, und darunter Kontinentalföderationen in Europa, Afrika, Asien, Amerika. Darunter weiterhin die Staaten, und unter ihnen Regionen und so weiter. Es sollte also verschiedene Ebenen geben, und der Nationalstaat wäre eben nur noch eine davon und seine Macht stark eingeschränkt. Das kann man auch als teilweise Auflösung der Staaten interpretieren, aber so dezidiert hat das keiner gefordert.

Vielleicht war das im Hinterkopf bei dem ein oder anderen, aber nach dem Zweiten Weltkrieg hatten viele Staaten auch erstmal andere primäre Ziele. Deutschland ging es zum Beispiel vorrangig um die Wiedervereinigung, gleichzeitig wollte man auch in europäische Strukturen eingebettet sein. Aber dass man von einer nachnationalen Epoche gesprochen hätte, wie Menasse behauptet, das ist mir aus den Schriften, die ich kenne, nicht bekannt. Die Föderalisten konnten sich am Ende ja auch nicht durchsetzen.

Olaf Leiße ist Professor für Europäische Studien an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und findet Robert Menasse trotzdem gut

Olaf Leiße ist Professor für Europäische Studien an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena und findet Robert Menasse trotzdem gut © privat

Sie bezeichnen sich selbst ebenfalls als Föderalisten. Was bedeutet das heute?

Es gibt die Föderalisten noch als politische Bewegung, sie trommeln für Europa, wollen den europäischen Gedanken beleben, führen Veranstaltungen durch, wirken auf politische Entscheidungsträger ein. Eine breite Massenbewegung ist das aber nicht. Zuletzt war es Pulse of Europe, die gezeigt haben, dass man mit der europäischen Idee heute noch Menschen auf die Straße bringen kann.

Das war natürlich in den 50er Jahren einfacher. Sie kennen vielleicht die Bilder, die ich auch nur in Geschichtsbüchern gesehen habe, wie Demonstranten die Schlagbäume einreißen und fordern, dass die nationalstaatliche Abgrenzung aufhört. Das war eine Aktion, die von den Europäischen Föderalisten organisiert war. Die Ziele dieser Aktion wurden später im Schengener Abkommen Wirklichkeit. Auch wenn es ewig gedauert hat, rund 30 Jahre. Aber Politik ist eben auch das Bohren dicker Bretter.

Menasse beschreibt, dass die Gründungsväter der heutigen EU damals einmütig den Nationalismus als den Aggressor ausgemacht hätten, der zur Zerstörung Europas geführt habe. Ich fand das ein wenig widersprüchlich, weil man, glaube ich, nicht sagen kann, wichtige englische oder französische Politiker wie Winston Churchill oder Charles de Gaulle wären keine Nationalisten gewesen.

Richtig. Churchill stand auf Seiten der sogenannten Unionisten, das ist eine Gruppe, die sich zum Beispiel auf dem Haager Europa-Kongress 1948 für die Nationalstaaten sehr stark gemacht hat und auch wollte, dass die erhalten bleiben. Sie stellten sich, so wie de Gaulle auch, ein Europa der Vaterländer vor.

Das sind ja immer die zwei Ideen: Einmal das eher konservative Denken des Europas der Nationalstaaten, das sagt, wir brauchen eine möglichst enge Kooperation der Nationalstaaten, aber ohne jegliche Einschränkung ihrer Souveränität. Und die andere, eher föderalistische, die sich dafür ausspricht, dass substanzielle Rechte der Nationalstaaten auf eine gemeinsame Institution übertragen werden. Mittlerweile haben wir das ja in einigen Bereichen gemacht, der Währungspolitik zum Beispiel, in der Landwirtschaft- und Fischereipolitik, und Verteidigungspolitik ist auch immer im Gespräch, weil es natürlich sehr teuer ist und es besser ist, man macht es gemeinsam. Grenzsicherung ist im Moment auch ein Thema, das sehr stark europäisiert wird.

Aber natürlich kann man hier nicht von einer Abschaffung der Mitgliedsstaaten sprechen, sondern sie übertragen einfach bestimmte Aufgaben an die EU in der Hoffnung, dass daraus auch ein Mehrwert für sie selbst entsteht. Und weil Themen wie Migration oder Umweltschutz schlichtweg auch einfach nicht von Nationalstaaten allein entscheidend beeinflusst werden können.

Wenn man sich die einzelnen Schritte in der Geschichte der europäischen Integration anschaut, könnte man ja auch auf die Idee kommen, dass es da gar nicht vorrangig um ein politisch motiviertes Friedensprojekt ging. Sondern um bessere wirtschaftliche Kooperation. Welche Seite hat sie stärker beeinflusst – die Pragmatiker oder die Idealisten?

Im Mittelpunkt stand meines Erachtens die ideelle Seite, die politische Union und die militärische Zusammenarbeit – das Friedensprojekt. Aber es hat sich gezeigt, dass die Zusammenarbeit in diesem Bereich schwierig war. In den 50er Jahren fast aussichtslos. Wir hatten den Kalten Krieg, die dominanten USA in Westeuropa …

Frankreich und Großbritannien haben sich auch nicht so doll verstanden.

Genau. Auch dass die Deutschen wieder mitmischen und ihre eigene Souveränität zurückerlangen wollten, war ein Streitpunkt. Dennoch: Das Friedensprojekt stand im Mittelpunkt, das sehen wir auch daran, dass die Idee einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft gleich zu Beginn aufkam. Durchgesetzt haben sich aber eher die pragmatischen Aspekte.

Deshalb war die Grundidee – und die ist eigentlich auch ziemlich genial – von Schuman und Monnet: Wenn wir schon nicht das ganz große, politische Integrationsprojekt verwirklichen können, dann fangen wir mit dem an, was machbar ist. Und machbar war: wirtschaftliche Zusammenarbeit. Und das kann man auch in den Schriften nachvollziehen. Der Schuman-Plan sah von Anfang an vor, dass die Zusammenarbeit bei Kohle und Stahl einiger westeuropäischer Staaten nur der Kern der Zusammenarbeit sein würde, der sich auf weitere Bereiche ausdehnen sollte. Was dann auch geschah.

Die Europäische Gemeinschaft wurde 1957 gegründet, um die Staaten und Völker immer weiter zusammenzuführen. Das sollte ein Prozess sein. Aber eben immer nur so weit, wie es gerade möglich ist. Niemals ging es um den großen Wurf, der offensichtlich zum Scheitern verurteilt ist, sondern immer um einen Schritt nach dem andern.

Das klingt ja fast nach der Merkelschen Politik?

Ich sehe Deutschland unter Angela Merkel nicht als Reformmotor oder als Land, das die europäische Integration wesentlich vorantreibt.

Deutschland und Frankreich haben gerade die Aachener Verträge über mehr Zusammenarbeit unterzeichnet. Die sehen unter anderem auch eine Vereinfachung kommunaler Zusammenarbeit vor. Das ist doch was, oder nicht?

Meine Bemerkung bezog sich auf die europäische Integration, nicht auf die deutsch-französische Kooperation. Der Aachener Vertrag ist eine Verlängerung des Élysée-Vertrages von 1963, und ich sehe das auch in einer kontinuierlichen Linie. Über ein „Europa der Projekte” wird versucht, näher miteinander zu arbeiten. Ich war überrascht, dass es so viel Kritik daran gab, von links wie rechts. Meine Prognose wäre, dass es hier um eine pragmatische Zusammenarbeit geht.

Und auf europäischer Ebene? Wer steht da im Moment für mehr Zusammenarbeit?

Ich sehe starke Bemühungen von der Europäischen Kommission unter Jean-Claude Juncker, von Frankreichs Präsident Macron, aber Deutschland sehe ich in einer sehr passiven Rolle.

Offenbar hat das Europa der Regionen, wie es Menasse beschrieben hat, eine sehr große Anziehungskraft. Was für einen Einfluss haben denn die Regionen Europas im Moment in der EU?

Eher wenig. Viele EU-Mitgliedstaaten kennen die Region zwar als historische, aber nicht als politische Einheit im engeren Sinne. Sie sind nicht föderal organisiert wie Deutschland. Das trifft beispielsweise für kleinere Staaten wie die Niederlande oder Tschechien zu. Aber auch größere Staaten wie Polen, Frankreich und Rumänien sind mit ihrem Departement-System eher zentralistisch organisiert, die Regionen bestehen hier teilweise nur im folkloristischen Sinne. Selbst zwischen den Staaten, die die Region auch als politische Einheit kennen, gibt es große Unterschiede zu dem gefestigten Föderalismus Deutschlands, wo die Bundesländer routiniert zusammenarbeiten. Ich denke da zum Beispiel an Spanien oder Italien.

Es gibt ja seit 1994 den Europäischen Ausschuss der Regionen. 350 Regionen aus allen EU-Mitgliedsstaaten sind dort vertreten. Was ist der wert?

Es ist vor allem ein Mechanismus, mit dem regionale Wünsche eingebaut werden können. Zum Beispiel, wenn es darum geht, neue Umweltschutzgebiete auszuweisen oder um Wärmedämmung in Häusern, und Regionen davon betroffen sind, weil sie über Immobilien verfügen, die dann entsprechend saniert werden müssten. In solchen Fällen werden sie angehört und gefragt: Wie steht ihr dazu? Sie haben eher weiche Mitentscheidungskompetenzen.

Auf den Tisch hauen können die Regionen nicht. Aber da Europa eigentlich ohnehin ein Riesenkonsensprojekt ist, ist der Einfluss nicht zu vernachlässigen. Es gibt sehr viele Akteure, viele Interessen werden berücksichtigt, alles fließt irgendwie ein. Die deutschen Bundesländer haben nicht umsonst Vertretungen in Brüssel.

Ein guter Punkt, den Menasse in seinem Text macht, ist das Thema Gleichheit in Europa bei den Lebensverhältnissen und Chancen.

In der Präambel der Römischen Verträge von 1957 steht tatsächlich, dass diese Verträge geschlossen werden, um möglichst gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen und eine harmonische wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Das ist ein Auftrag der Europäischen Gemeinschaft, nicht nur irgendein Ziel, und die Staaten sind daran gebunden.

Allerdings muss man heute feststellen, dass die wirtschaftliche Entwicklung sehr unterschiedlich ist. Das liegt aber auch daran, dass die EU immer größer geworden ist, und mit der Ost-Erweiterung auch Länder aufgenommen wurden, die einfach den Standard nicht erreicht haben. Während der Standard zwischen den sechs Gründungsmitgliedern schon sehr ähnlich und hoch ist. Da sind auch große Umstrukturierungen und Erfolge erzielt worden. Länder wie Luxemburg waren im Zuge des Niedergangs der Stahlindustrie mal richtig arm. Mittlerweile haben die mehr Arbeitsplätze als Einwohner.

Aber wir sehen natürlich Staaten in Osteuropa, denen es richtig schlecht geht. Die von Migration betroffen sind, Ungarn, Bulgarien oder Rumänien etwa, die haben bis zu 20 Prozent ihrer Einwohner verloren seit der politischen Wende. Und da tut sich wenig. Hier müsste die EU sehr viel stärker harmonisierend eingreifen. Aber das funktioniert offensichtlich nicht.

So was wie ein Länderfinanzausgleich auf europäischer Ebene wäre doch was?

Ja, das gibt es ja über die EU-Strukturfonds. Aber die verteilen nicht so viel Geld, wie nötig wäre, um eine harmonische wirtschaftliche Entwicklung zu fördern. Dafür müsste man die Strukturfonds verdrei- oder -vierfachen.

Bei Bayern hat das mit dem Länderfinanzausgleich ja auch geklappt. Das war mal ein bettelarmes Land mit einer korrupten Regierung. Denen hat man viel Geld geben, und heute ist es das reichste Bundesland.

Könnte ein Ansporn sein. Aber erklären sie mal den reichen Ländern Westeuropas, dass die Strukturfonds aufgestockt werden sollen, und die Nutznießer ausschließlich in Osteuropa sitzen werden. Viel Glück.

Wir haben jetzt festgestellt, dass Menasse in seiner Rede mit relativ wenig recht hatte. Warum hat sie uns beiden dennoch so gut gefallen?

Für mich besteht der Reiz der Reden und Schriften Menasses darin, dass er eine Utopie formuliert. Das ist heutzutage selten geworden. Wer pro-europäisch eingestellt ist und sich engagiert, der macht das nicht nur aus rationalen, sondern auch aus idealistischen Gründen. Dieses Gefühl, dass wir in Europa alle zusammengehören, dass wir gemeinsame Werte teilen, dass wir Standards teilen, was Wirtschafts- und Menschenrechte angeht. Das sind nicht nur hehre Worte, es ist im politischen Alltagsleben tatsächlich weitestgehend umgesetzt.

Es ist sehr schade, dass Menasse seine kraftvollen Reden ein wenig ruiniert hat, indem er versuchte, historische Vorbilder heranzuziehen, die aber in einem ganz anderen Kontext gehandelt, vielleicht auch ganz anders gedacht haben. Die Utopie einer Europäischen Republik, die Menasse verfolgt, hat auch ihre eigene Würde, und er hat zu recht diese emotionale Ebene angesprochen, die mindestens seit der Finanzkrise viel zu kurz kommt. Denn über ein „Europa der Projekte” und der kleinen Schritte kann man die Menschen auf der Straße nur schwer erreichen.

Aus einer europäischen Rüstungsagentur oder Arbeitslosenversicherung wird keine Herzensangelegenheit der vielen, egal wie viel Sinn das macht. Von daher ist es gut, wenn es Menschen wie Menasse gibt, die uns daran erinnern, dass Europa auch ein ideelles Konstrukt und mehr als eine enge Kooperation der Nationalstaaten ist.

Also heiligt der Zweck die Mittel? Drücken wir ein Auge zu bei Menasse?

Er ist über das Ziel hinausgeschossen. Ich finde historische Genauigkeit sehr wichtig. Ich denke das zum Beispiel jedes Mal, wenn ich nach Erfurt fahre, und dort am Hauptbahnhof ankomme und diesen Spruch sehe „Willy Brandt ans Fenster“…

Ein Kunstwerk auf dem Dach des ehemaligen Hotel Erfurter Hof, das daran erinnern soll, dass hier Bundeskanzler Willy Brandt 1970 zum ersten Mal auf den DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph traf. Die Bürger in Erfurt waren damals euphorisch über das Ereignis.

Das ehemalige Hotel Erfurter Hof, in dem der Willy den Willi traf.

Das ehemalige Hotel Erfurter Hof, in dem der Willy den Willi traf. © Wikipedia / Michael Sander

Es stimmt zwar, dass die Bürger Willy Brandt ans Fenster riefen. Aber natürlich haben sie nicht „Willy Brandt ans Fenster“ gerufen. Sondern: „Willy, Willy, Willy!“

Sonst hätte es Ärger mit der Stasi gegeben. Umso größer die Demütigung für den DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph, dass trotzdem jeder wusste, seine Bürger rufen nach dem Willy aus dem Westen.

Genau das war die Doppeldeutigkeit. Und die geht verloren, wenn man sich nicht an den exakten Wortlaut hält.


Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.