Im Jahr 1948 verkündeten die Vereinten Nationen die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“. Diese Erklärung war wegweisend, für unser Grundgesetz genauso wie für die Europäische Menschenrechtskonvention.
Im Jahr 2000 verabschiedeten die Vereinten Nationen die „Millenniums-Erklärung“. Ihr Hauptziel: „Milliarden von Menschen aus bitterster Armut befreien.“
Im Jahr 2015 verkündeten die Vereinten Nationen das Pariser Klimaabkommen, mit dem sich fast alle Länder dieser Erde verpflichten, die Erderwärmung als große Gefahr für die Menschheit anzuerkennen und mehr für den Klimaschutz zu tun.
Und im Dezember 2018 haben die Vereinten Nationen den „Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration“ mit überwältigender Mehrheit angenommen.
Die Etablierung allgemeiner Menschenrechte, der Kampf gegen Armut und Klimawandel und nun eine Absichtserklärung zur globalen Zusammenarbeit für eine sichere Migration. Man könnte dankbar sein für die Arbeit der Vereinten Nationen und deren unermüdliches Engagement für eine bessere Welt für uns und unsere Kinder.
Oder eben auch nicht.
Denn einige Länder, darunter die USA, Israel und Österreich lehnten den Migrationspakt ab. Deutschland nahm ihn zwar an, aber erst nachdem die AfD mit einer gezielten Kampagne gegen das Abkommen anging. Denn wer sich im Deutschen Bundestag über die Erklärung der Menschenrechte echauffiert, über den „lebensbejahenden afrikanischen Ausbreitungstyp“ schwadroniert und auf bizarrste Art und Weise den menschengemachten Klimawandel leugnet, der wird – wir ahnen es – bei einer Absichtserklärung, die den Titel „Migration“ im Namen trägt, nicht anders als mit einem freundlichen Blutsturz reagieren.
Aber wer sich mit dem Papier der Vereinten Nationen näher beschäftigen möchte, kommt nicht umhin, die 32-seitige Erklärung selbst und vollständig durchzulesen.
Der Pakt kurz zusammengefasst: Die Vereinten Nationen wollen „Migrationsbewegungen“ als globale Herausforderung anerkennen und diese mit einem Bekenntnis zu „einer sicheren, geordneten und regulären Migration“ adressieren. Auf Basis dieses Migrationspaktes haben sich nahezu alle Staaten der Welt darüber verständigt, wie Migrantinnen und Migranten besser geschützt werden können und der besondere Schutz von Kindern gewährleistet werden kann. Zudem haben sie darüber beraten, wie Migration minimiert, Fluchtursachen reduziert, Schleuserkriminalität bekämpft und die Sicherung der Länderaußengrenzen verbessert werden kann.
Die AfD wollte den Migrationspakt „wegspenden“
Der Text ist zwar einfach gehalten, doch scheinen insbesondere Abgeordnete der AfD bei der Lektüre längerer Texte mit argen Verständnisproblemen zu kämpfen. Anders lassen sich die politischen Forderungen der AfD im Zuge der Migrationspakt-Debatte kaum erklären.
So wollten sie die „Armutsmigration“ stoppen, den Familiennachzug einstellen, Sozialleistungen kürzen (beziehungsweise Migranten und Flüchtlinge ausschließlich mit Sachleistungen versorgen), häufiger und schneller abschieben (auch in Kriegs- und Krisengebiete) und die deutschen Außengrenzen militärisch sichern. Den Migrationspakt wollten sie erst „wegspenden“ (sie haben ihre Unterstützer zu Spenden aufgerufen), dann stoppen und anschließend, mithilfe einer völkerrechtlichen Protokollerklärung, seine Überführung in deutsches und europäisches Recht verhindern.
Der FDP-Politiker Olaf in der Beek fasst die völkerrechtliche Expertise der AfD folgendermaßen zusammen: „Jetzt wollen Sie für diesen völkerrechtlich nicht bindenden Pakt eine völkerrechtliche Protokollerklärung, dass der völkerrechtlich nicht bindende Pakt völkerrechtlich nicht bindend ist. Genau mein Humor!“
Aber bei dem ganzen Streit über den Migrationspakt haben wir übersehen, worum es eigentlich geht: die Situation von Millionen Migranten weltweit.
Gemäß einer Erhebung der Internationalen Arbeitsorganisation der Vereinten Nationen leben 277 Millionen Menschen, darunter 43 Millionen Kinder unter 15 Jahren, nicht in dem Land ihrer Geburt. Von diesen 277 Millionen Menschen gehen 164 Millionen einer Erwerbstätigkeit nach und verbessern dadurch ihr eigenes Einkommen – und häufig auch das ihrer Familie.
Doch leider gehört zur Realität der Migration auch:
- die permanente Lebensgefahr durch kriminelle Schleuser
- die Inhaftierung in Foltergefängnisse
- die Trennung der Familie
- die Ausbeutung unter unmenschlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen
Gerade sagte die Internationale Arbeitsorganisation, dass 40 Millionen Menschen in einer modernen Form der Sklaverei gefangen gehalten werden. Besonders gefährdet: Migrantinnen und Migranten.
Vier besonders gravierende Beispiele:
7.000 Tote für die Fußball-Weltmeisterschaft
In Katar schuften 1,8 Millionen Migranten als „moderne Sklaven“ für die Errichtung von Fußball-Stadien für die Fußball-WM 2022. Bis zum Beginn der Weltmeisterschaft werden voraussichtlich 7.000 von ihnen durch „unhaltbare arbeitsbedingte Verletzungen und Krankheiten“ zu Tode kommen.
In einer Reportage für stern TV erzählt ein Arbeiter dem ehemaligen deutschen Arbeitsminister Norbert Blüm, dass ihm bei der Einreise sein Pass weggenommen wurde und dass bereits mehrere seiner Kollegen zu Tode gekommen seien. Die internationale Presse beschreibt die Zustände bereits seit längerem als moderne Form der Sklaverei, und auch Amnesty International hat einen Schwerpunktbericht zur Situation der Migranten in Katar herausgegeben mit dem Titel: „The ugly side of a beautiful game.“
Geschäftsmodell: Folter von Migranten
In Libyen existieren Flüchtlingslager, in denen laut Mitarbeitern der deutschen Botschaft im Niger „KZ-ähnliche Verhältnisse“ herrschen. Die Organisation Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières – MSF) konnte sich Zugang zu einem Internierungslager in Zuwara beschaffen und beschrieb die dortigen Zustände als „unmenschlich“.
Zudem berichten die Vereinten Nationen von unterirdischen Lagern, in denen Menschen gefoltert, getötet und vergewaltigt wurden. Dort sollen infolge der Vergewaltigungen 16 Kinder geboren worden sein, die allesamt innerhalb der ersten Lebensmonate gestorben seien.
Zudem scheint sich in Libyen mit der Folter von Migranten ein „Geschäftsmodell“ etabliert zu haben. So werden in den Flüchtlingslagern Menschen gezwungen, ihre Angehörigen anzurufen, nur um im direkten Anschluss gefoltert und gequält zu werden, „damit die Familie zu Hause die Schmerzensschreie hört und bereit ist, so viel Geld wie möglich zu schicken“.
Mittlerweile blüht auf libyschen Marktplätzen der offene Sklavenhandel. Der Preis für ein menschliches Leben: 400 US-Dollar. Es ist eben jenes Libyen, das die EU zum Kooperationspartner für ihre Migrationspolitik erkoren hat und dessen Gefängnisse sie mit fünfstelligen Millionensummen mitfinanziert.
Chinesische Arbeitsstandards in Italien
In Italien haben sich tausende chinesische Textilfabrikanten niedergelassen und produzieren dort zu chinesischen Bedingungen Kleidung „Made in Italy“. Die chinesischen Arbeiterinnen und Arbeiter, die in der Fabrik arbeiten und leben, kommen dort auf einen Stundenlohn von einem Euro. Die Arbeitsbedingungen wirken wie eine Verhöhnung aller europäischen Arbeitsschutz- und Arbeitssicherheitsstandards.
Und dennoch ergeht es den chinesischen Textilarbeitern durchweg besser als den afrikanischen Erntehelfern, deren Einsatz von weiten Teilen der internationalen Presse als moderne Sklaverei bezeichnet wird. Einer der Erntehelfer berichtet: „Nach einem 14-Stunden-Tag in der Hitze und unter Schlägen blieben nur 4 Euro.“ Immer wieder sterben Menschen.
Deutschland – das Bordell Europas
Auch in Deutschland herrschen durch die Ausbeutung von Migrantinnen und Migranten in gleich mehreren Branchen Zustände wie zu Zeiten der Sklaverei. Aufgrund des massenhaften Aufkommens von Zwangsprostitution, Menschenhandel und Zuhälterei spricht man im Rotlichtmilieu von einem „Sklavinnenmarkt“ und von Deutschland als „Bordell Europas“. Bei bundesweiten Razzien werden immer wieder Personen festgenommen, denen „Menschenhandel zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung und Ausbeutung von Prostituierten“ vorgeworfen wird.
Auch in der Fleischindustrie ist immer wieder von „moderner Sklaverei“ die Rede, wenn auf die „schlechte Bezahlung, unwürdigen Unterkünfte, Erniedrigung und Erpressung“ hingewiesen wird. In diesen Fällen sind überdurchschnittlich häufig Osteuropäer betroffen, die über Werkverträge und „Horrormieten“ ihres Lohnes beraubt werden. Auch hier führt die Spur in die organisierte Kriminalität und zum Menschenhandel.
Zu den vielen weiteren Branchen, in denen Migrantinnen und Migranten ausgebeutet werden, gehört auch die Paketbranche. Hier liefern „Paketsklaven“, fern von Heimat und Familie, über Monate hinweg Pakete aus und müssen in ihren Kleinbussen übernachten, weil sie sich keine Unterkunft in Deutschland leisten können. Perfiderweise steigt ihre Arbeitslast besonders zu Weihnachten, wenn allerorten das Fest der Liebe gefeiert, die Familie beschenkt und der Geburt Jesu Christi in einer Krippe in Bethlehem gedacht wird. Weitere sklavereiähnliche Verhältnisse existieren in der häuslichen Pflege und auf dem „Arbeiterstrich“.
Die Lebensumstände der Migranten sind unerträglich
Wer hätte gedacht, dass auch 70 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte über die Eindämmung der Sklaverei diskutiert werden muss.
Dass noch immer Migrantinnen und Migranten entrechtet, entmündigt und entwürdigt werden. Dass sie Gefahr laufen, auf der Suche nach einem besseren Leben in den Fängen der Sklaverei zu enden oder – noch schlimmer – in einem unterirdischen Flüchtlingslager, in dem sie gefoltert, vergewaltigt und getötet werden. Die Realität der Migration ist auch im Jahr 2019, sowohl in den Herkunftsländern als auch in Transitländern und Zielländern gleichermaßen unerträglich, und es ist diese Realität, auf die die Weltgemeinschaft in einer gemeinschaftlichen Anstrengung reagieren muss.
Der 10. Dezember 2018, als der Migrationspakt angenommen wurde, war ein guter Tag. Dem hätte eigentlich auch die AfD zustimmen müssen – wenn sie mal ihr eigenes Parteiprogramm gelesen hätte. Aber dazu mehr in der zweiten Folge meiner kleiner Serie.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.