Während der Schlacht um Marawi starben viele Einwohner – und die Stadt selbst. Seit die philippinische Armee Aufständische vertrieben hat, die mit dem sogenannten Islamischen Staat (IS) verbunden sind, ist die einst lebendige Stadt nur noch ein tödliches Chaos. Die Brücke über den Agus-Fluss, die zum Zentrum der Stadt führt, ist mit einem Zaun verschlossen. Daran hängt ein Holzschild: „Geschlossen. Kriegsgebiet.“
Vom Dach eines Gebäudes auf der anderen Seite des Flusses starrt die 48-Jährige Saawiya Ibrahim Amate über die zerstörte Stadt. Sie zeigt auf das Minarett der alten Moschee, die auf wundersame Weise die Belagerung überstanden hat. Ihr Haus lag in der Nähe. Sie wurde dort geboren, genau wie ihre Eltern, deren Eltern und die Generationen vor ihnen.
Amates Mann durfte einmal zurückkehren, um ihr Haus unter Aufsicht der Armee zu besuchen. Es ist praktisch nichts mehr davon übrig. Die IS-Kämpfer haben Löcher in die Wand gebrochen, um sich frei durch die Häuserblöcke bewegen zu können. Überall lag Abfall. Das Einzige, was ihr Mann retten konnte, waren ein paar Teller. „Alles andere wurde gestohlen oder kaputt gemacht.“
Natürlich gebe sie den IS-Kämpfern die Schuld, sie hätten schließlich mit den Gewalttaten angefangen, sagt Amate. Aber noch wütender ist sie auf die Regierung. Denn war es wirklich notwendig, die ganze Stadt dem Erdboden gleichzumachen, um die Aufständischen zu vertreiben?
Der Kampf begann, als die Armee die IS-Kämpfer entdeckte
Wieso wurde Amates Heimatstadt zerstört? Islamistische Gruppierungen verfügen „über eine lange Tradition in Südostasien, die sich mitunter bis in die Kolonialzeit zurückverfolgen lässt“, schreibt die Bundeszentrale für politische Bildung. Auf den Philippinen hatten diese Gruppen vor allem ein Ziel: die Abspaltung der muslimisch geprägten Landesteile vom katholischen Restland. Jahrzehntelang kämpften diese Gruppen gegen die Regierung. Dann trat der IS auf den Plan und hob den Konflikt auf eine neue Stufe.
Im Mai 2017 stießen die philippinischen Sicherheitskräfte in der für Muslime sehr wichtigen Stadt Marawi zufällig auf Isnilon Hapilon, einen berüchtigten Kommandeur der lokalen militanten Gruppe Abu Sayyaf. Der hatte im Jahr 2014 mehrere islamische Kampfgruppen unter dem Banner des IS vereint.
Als die Sicherheitskräfte auf Hapilon und seine Männer trafen, begann der Kampf. Bald tauchten einheimische Dschihadisten unter der Leitung der Brüder Omar und Abdullah Maute auf, um ihrem Kameraden zu helfen. Später wurde klar: Die beiden Brüder hatten bereits weitreichende Vorbereitungen für die Übernahme der Stadt getroffen. Sie schafften es, die Armee aus den Straßen zu vertreiben und die schwarze IS-Flagge zu hissen.
Das rüttelte die Philippinen auf – und den Rest der Welt. Und obwohl örtliche Gruppen in den vergangenen Jahren zunehmend ihre Loyalität zum IS bekundeten, behauptete die Armee immer wieder, dass die Gruppen dies nur aus Image-Gründen täten. Aber mit der Eroberung von Marawi änderte sich diese Einschätzung. Im Juni 2017 widmete das IS-Magazin Rumiyah eine Ausgabe fast ausschließlich der Schlacht von Marawi, und der IS ernannte den Abu-Sayyaf-Kommandanten Hapilon zum „Emir“ des IS in Südostasien.
Präsident Rodrigo Duterte verhängte nach der Einnahme Marawis das Kriegsrecht auf der Insel Mindanao und ordnete Luftschläge an, die drei Tage später begannen. Rund 300.000 Einwohner flohen aus der Stadt und den umliegenden Dörfern. Einige von ihnen waren sehr wütend. Denn es war das vierte Mal seit 2008, dass bewaffnete Männer die Stadt erobert hatten, und bisher konnten die lokalen Politiker die Eindringlinge immer überzeugen, sich friedlich zurückzuziehen. Aber Duterte gab ihnen diesmal keine Gelegenheit dazu.
Heute, ein Jahr später, sind nach Angaben des Internationalen Roten Kreuzes immer noch 230.000 Menschen auf der Flucht. Die meisten von ihnen fanden Unterschlupf bei ihrer Familie, aber 60.000 Menschen müssen in schäbigen Flüchtlingslagern leben. Niemand darf in die Stadt, wegen der nicht explodierten Sprengstoffe, die noch überall liegen sollen. Die Fundamente der meisten noch vorhandenen Häuser sind so stark beschädigt, dass die Stadt wahrscheinlich vollständig neu aufgebaut werden muss. Geplant ist, mit Hilfe chinesischer Investoren eine Art neues Dubai zu bauen.
Das Problem Marawi ist eine „tickende Zeitbombe“
Die meisten Einwohner ärgern sich über diese Pläne. Marawi ist die wichtigste muslimische Stadt auf den überwiegend katholischen Philippinen. Viele Einwohner vermuten, dass die Behörden die Gelegenheit nutzen werden, ihnen ihre Stadt ein für alle Mal wegzunehmen.
Allerdings wagt kaum jemand, das offen auszusprechen. Das Kriegsrecht ist immer noch in Kraft: Jeder kann ohne Anklage oder Verdacht verhaftet oder sogar getötet werden. Einigen kritischen Bewohnern sei bereits mit Verhaftung gedroht worden, wenn sie nicht den Mund hielten, sagt Drieza Lininding, Vorsitzende der Moro Consensus Group, einer lokalen Friedensorganisation.
Wir treffen Lininding in einem Café in der Stadt Iligan in der Nähe von Marawi. Er ist einer der wenigen, der es wagt, die Regierung offen zu kritisieren. Sein Blick ist angespannt, und er reibt sich nervös die Hände. Dennoch geht er das Risiko ein: Seine Stadt sei zu wichtig, um zu verschwinden, sagt er.
„Unsere Stadt ist unsere Identität“, erklärt Lininding. „Wir können nicht einfach irgendwo hinziehen. Wir fordern die Regierung auf, Marawi in seiner ursprünglichen Form wiederherzustellen. Wir wollen es zurück. Nicht mehr und nicht weniger.“
Die Sorgen um die Zukunft der Stadt paaren sich mit Sorgen um ihre Gegenwart. Der Staat habe überproportional viel Gewalt eingesetzt, so Lininding: Schulen, Krankenhäuser, fast alles, was sich im Besitz der Menschen befand, wurde zerstört. Hunderte von Zivilisten wurden durch Luftangriffe getötet, weil die Armee sie nicht rechtzeitig gewarnt hat. Warum das nicht geschah, wurde niemals untersucht.
Wenn die Behörden diese Bedenken nicht ernst nähmen, könne es wieder schiefgehen, warnt Lininding. „Einige, vielleicht sogar viele, könnten sich entscheiden, sich terroristischen Gruppen anzuschließen, um sich für das zu rächen, was wir in Marawi verloren haben. Es ist eine tickende Zeitbombe.“
Trotz weitgehender Autonomie kämpft der IS weiter
Niemand kann vorhersagen, ob diese Angst berechtigt ist. Der IS erlitt schwere Verluste in Marawi, und seine Anführer wurden getötet, darunter Hapilon und die Brüder Maute. Darüber hinaus arbeiten die Länder Südostasiens eng zusammen, um zu verhindern, dass der IS seinen Einfluss in der Region ausbaut. Sie führen gemeinsame Luft- und Seepatrouillen in der Sulu-See durch. Ihre Nachrichtendienste tauschen Informationen aus.
Außerdem unterzeichnete Präsident Duterte im vergangenen Juli das lang erwartete Bangsamoro-Grundgesetz. Es soll der Region mehr Autonomie verleihen und den fast fünfzigjährigen Krieg mit den beiden größten islamischen sezessionistischen Bewegungen in der Region beenden – der Islamischen Befreiungsfront der Moros (MILF) und der moderateren Nationalen Befreiungsfront der Moros (MNLF). Abu Sayyaf unterstützt das Gesetz nicht. Die Menschen in der Region können darüber am 21. Januar und am 6. Februar 2019 in einer Volksabstimmung entscheiden.
Aber es gibt auch Hinweise darauf, dass sich die mit der Terrorgruppe IS vernetzten Kämpfer wieder sammeln und neue Angriffe auf Städte im Süden der Philippinen vorbereiten. In Marawi raubten sie Millionen Dollar aus lokalen Banken und von wohlhabenden Bewohnern. Dieses Geld nutzen sie jetzt, um junge Leute zu rekrutieren, wie die Nachrichtenagentur Reuters unter Berufung auf Armeekreise berichtet.
Gleichzeitig kämpfen jede Woche mit dem IS vernetzte Aufständische gegen die philippinische Armee. Regelmäßig gibt es Bombenattacken. Am 31. Juli 2018 übernahm der IS über den eigenen Medienkanal Amaq die Verantwortung für einen Selbstmordanschlag auf der südphilippinischen Insel Basilan, der von einem Marokkaner verübt wurde. Es war der erste Angriff auf den Philippinen, den der IS angeblich von einem Nicht-Asiaten ausführen ließ, und der erste Selbstmordanschlag in dem Land.
Doch die Armee behauptet stur, an Boden zu gewinnen: Seit Januar 2018 seien mehr als zweihundert Extremisten getötet worden, erklärt Gerry Besana, Sprecher der philippinischen Armee.
Nach langem Drängen dürfen wir zu den Kämpfern auf die Insel Sulu
Das Zentrum dieses Krieges liegt auf dem Sulu-Archipel, der Heimat der Untergrundorganisation Abu Sayyaf, der auch Hapilon angehörte. Abu Sayyaf begann in den 90er Jahren als islamische Unabhängigkeitsbewegung, zeichnet sich aber heute vor allem durch brutale Geiselnahmen gegen Lösegeld aus. In den vergangenen drei Jahren wurden 20 Geiseln enthauptet, darunter fünf Ausländer.
Nachdem die mit dem IS verbundenen Dschihadisten aus Marawi vertrieben worden waren, flohen die meisten der verbleibenden Anführer nach Angaben aus Armeekreisen hier auf den Sulu-Archipel. Sie versteckten sich im dichten Dschungel der Bergregion auf der Insel Jolo, wo sich auch der Hauptsitz von Abu Sayyaf befindet.
Nach langem Drängen bekommen wir vom Gouverneur von Sulu die Erlaubnis, die Insel zu besuchen. Vom Fenster des kleinen Flugzeugs aus sehen wir Dutzende von paradiesischen Inseln mit leuchtend weißen Stränden. Sobald wir gelandet sind, warten etwa 20 schwer bewaffnete Polizisten und Militärs auf uns. „Willkommen in Sulu“, sagt ihr Kommandant, der uns zu drei wartenden Pick-up-Trucks begleitet. Eine Minute später verlassen wir die Landebahn im Konvoi.
Journalisten sind hier eine Seltenheit. Seit 2000 wurden mindestens 23 meist ausländische Journalisten entführt. Obwohl die Armee in den vergangenen Jahren Druck auf Abu Sayyaf ausgeübt hat, ist die Untergrundorganisation immer noch stark. Selbst mit 30 Soldaten als persönliche Leibwächter hätten wir keine Chance, wenn die Gruppe uns außerhalb der Stadt angreifen würde, sagt ein Soldat.
Im Lazarett von Jolo sind die Auswirkungen der Gewalt deutlich sichtbar. 17 blasse Jugendliche in grünen Overalls liegen in Betten in einem weißverputzten Raum. Sie wurden eine Woche zuvor verwundet, als sie auf ein paar bewaffnete Männer in einem Haus im Dschungel stießen.
Der 24 Jahre alte Leutnant Liger führte dabei das Kommando. Er erzählt: „Nachdem wir die Bewohner eine Weile beobachtet und sichergestellt hatten, dass sie bewaffnet waren, gab ich den Befehl zum Angriff. Sie reagierten sofort und feuerten viele Granaten ab. Die meisten von uns wurden durch Granatsplitter verwundet.“
Während er spricht, starrt er vor sich hin. Es sei sein erster Monat auf der Insel und seine erste Schießerei seit seinem Schulabschluss, sagt er leise. In einer kurzen Einweisung erfuhr er, dass seine Feinde gut bewaffnet seien und sich manchmal in der Bevölkerung versteckten. Aber er wisse nicht genau, was sie warum wollten.
Er weiß auch nicht, dass nach Angaben der lokalen Menschenrechtsgruppe Suara Bangsamoro sieben junge Männer aus einem benachbarten Dorf, die Obst ernten wollten, während dieser Auseinandersetzung starben. Sprecher Besana bestreitet das später und nennt es „reine Propaganda“, die die militärischen Operationen auf der Insel durchkreuzen soll.
Die Verwandten solcher Opfer sehen die Armee häufig als Besatzer und schwören oft Rache. Die Gruppe Abu Sayyaf, die immer neue Rekruten einsetzen kann, bietet ihnen diese Möglichkeit. Das halte den Kreislauf der Gewalt am Leben, sagt Octavio Dinampo, Professor für Politikwissenschaft an der Mindanao State University in Jolo.
Oft bleibt nur die Untergrundorganisation als letzter Ausweg
Dieser Rachegedanke trieb auch den 34 Jahre alten Ahmed zu Abu Sayyaf. Wir sprechen mit ihm eine Woche, nachdem er sich in einer Militärbasis in Jolo gestellt hat. Er will nur unter einem Pseudonym mit uns reden. Um von seinen ehemaligen Kameraden nicht erkannt zu werden, trägt er eine Sonnenbrille und ein Stirnband.
Ahmed kam 2013 zu Abu Sayyaf, nachdem seine Familie in Konflikt mit einer anderen Familie geriet, die enge Verbindungen zum Militär hatte und sie beschuldigte, Teil dieser Untergrundorganisation zu sein. „Wir hatten zwei Möglichkeiten: uns von der Armee verhaften zu lassen oder sogar getötet zu werden. Oder Abu Sayyaf um Hilfe zu bitten.“
„Wir wussten, dass sie stark waren und von der Armee gesucht wurden. Aber sie waren die Einzigen, die uns helfen konnten“, sagt Ahmed.
Die folgenden fünf Jahre verbrachte er hauptsächlich im Dschungel. Er erfuhr nicht viel von dem, was außerhalb seiner kleinen Blase von Familienmitgliedern geschah. Sein Anführer erzählte ihm vom Krieg in Syrien und im Irak und einer Gruppe namens „ISIS“ oder „IS“. Aber er habe nie gehört, dass Hapilon ihr die Treue geschworen habe, sagt er. Auch wenn er Hapilon einen mutigen Kämpfer nennt, kennt er den Kampf um Marawi hauptsächlich aus dem Fernsehen.
„Nur unsere Führer wissen, was los ist“, antwortet er nach einigen Nachfragen. „Sie haben Kontakt untereinander, sie wissen, wer als Geisel genommen wurde, welche ausländischen Kämpfer sich auf der Insel befinden und welche Weichenstellungen für die Zukunft zu treffen sind. Die meisten Kämpfer wissen das nicht. Sie kommen, weil ihre Familien schon da sind, wegen des Geldes oder weil sie Rache nehmen wollen.“
Die neuen IS-Kämpfer sprechen auch die städtische Mittelschicht an
Professor Octavio Dinampo sagt, die meisten Kämpfer in der Region hätten persönliche Motive, die hauptsächlich mit den Lebensbedingungen vor Ort zu tun haben. Vor allem die Anführer verbreiteten die IS-Ideologie.
Dinampo: „Das begann vor einigen Jahren, als Al-Baghdadi eine Delegation entsandte, um Hapilon zu gewinnen. Der schwor dann Al-Baghdadi die Treue und erhielt dafür viel Geld. Dieses Geld wurde zur Vorbereitung des Angriffs auf Marawi verwendet.“
Wir sprechen mit Dinampo in einem Klassenzimmer auf dem Campus der Universität in Jolo. Er trägt eine kleine graue Kufi-Gebetsmütze und eine schwarze Sonnenbrille.
Dinampo gehörte in den 1980er Jahren einer Vorgängerorganisation von Abu Sayyaf an, die sich noch immer gegen die Benachteiligung der muslimischen Bevölkerung wehrt. Aber als sich seine Kameraden immer mehr von ihren Idealen abwandten, um mit Geiseln Lösegeld zu erpressen, legte er seine Waffen nieder. Er hält immer noch Kontakt zu einigen Anführern von Abu Sayyaf.
Die Verbreitung der IS-Ideologie habe den Charakter des Kampfes in der Region verändert, sagt er. Hapilon gelang es, die verschiedenen Kampfgruppen der Gegend zu vereinen und die Unterschiede zwischen den Clans und ihren militanten Führern zu überbrücken. Die IS-Ideologie, die sie miteinander verbindet, spricht nicht nur hartgesottene Kämpfer aus benachteiligten Regionen wie Sulu an, sondern auch junge, ideologisch getriebene Muslime aus der städtischen Mittelschicht, wie die Brüder Maute, die bei der Eroberung Marawis halfen.
Das sei eine Gefahr für die Zukunft, warnt Dinampo. Die Hardcore-Idealisten hätten viel Einfluss auf ihre Soldaten und seien in Marawi keineswegs alle getötet worden. Darüber hinaus seien in den zurückliegenden Jahren mehrere ausländische Kämpfer aus Syrien und dem Irak auf die Philippinen gereist, um gemeinsam mit ihnen die IS-Ideologie zu verbreiten. Das erfuhr er von seinen Informanten.
Dinampo: „Es gibt vielleicht nicht viele von ihnen, aber sie tragen eine gefährliche Ideologie mit sich und haben Geld. Sie zitieren Verse aus dem Koran über Märtyrertod und Jungfrauen im Paradies. Damit können sie viele, vor allem arme, wenig gebildete Jugendliche davon überzeugen, sich ihnen anzuschließen. Sie sind empfänglich für solche Geschichten.“
„Man sieht schon, wie erfolgreich sie sind“, fährt er fort und streckt einen Finger in die Luft. „In Sulu machen die Kämpfer alle diese Geste in den Videos, die sie verteilen. Das bedeutet, dass es einen einzigen Gott gibt, und Mohammed ist sein Prophet. Und dass es nur eine Art von Gotteskriegern gibt, und das sind die vom IS.“
Wie verhindert man, dass die IS-Ideologie Fuß fasst?
Wir reisen in die Provinz Maguindanao, die etwa fünf Stunden südlich von Marawi liegt, und treffen dort Gouverneur Esmael Mangudadatu. Er sagt, wer verhindern wolle, dass die extremistische Ideologie Fuß fasse, müsse zunächst dafür sorgen, dass es keine Gründe mehr gebe, in den Widerstand zu gehen. Seit seinem Amtsantritt im Jahr 2010 bietet er Kämpfern aus örtlichen extremistischen Kampfgruppen die Möglichkeit, ihre Waffen im Austausch für Arbeit und Bildung abzugeben. Die meisten Menschen – auch Kämpfer – wollten vor allem ein normales Leben führen, sagt er.
In den ersten Jahren stießen seine Ideen auf viel Widerstand von hartgesottenen Armeechefs, aber seit der Schlacht von Marawi hat sich ihre Haltung geändert. Jetzt ahmten auch andere Provinzen seine Ideen nach, sagt er in seinem Büro in Buluan, Maguindanao.
Mangudadatu: „Die Erkenntnis, dass Extremismus nicht nur mit Kugeln und Gewalt bekämpft werden kann, ist vielleicht das einzige positive Ergebnis des Kampfes um Marawi.“
Wir sprechen mit ihm kurz auf einem Seminar zur Bekämpfung des Extremismus in der Region, an dem Armeeführer, Beamte und religiöse Führer teilnehmen. Vor seinem Büro warten die Dorfältesten auf das wöchentliche Treffen mit dem Gouverneur. Mehrere Bilder von seinen Besuchen in verschiedenen Dörfern der Region hängen an einer Wand hinter ihm.
Mangudadatu: „Menschen schließen sich extremistischen Gruppen an, weil sie Ungerechtigkeit erfahren und ein besseres Leben wollen. Sie entscheiden sich oft für das Geld, das diese Gruppen zahlen. Als Politiker müssen Sie also sicherstellen, dass Sie ihnen mehr bieten können. Das ist in erster Linie eine Arbeit für sich selbst und ihre Partner. Und Bildung für ihre Kinder.“
Seit seinem Amtsantritt haben bereits 3.000 Schüler ihren Abschluss gemacht. Dutzende von sozialen und wirtschaftlichen Projekten sind umgesetzt worden. Die Behörden arbeiten eng mit Führern ehemaliger militanter Gruppen und Besitzern von Obstplantagen zusammen, um früheren Kämpfern bei der Arbeitssuche zu helfen. Überall in der Region gibt es Poster, auf denen das Bangsamo-Grundgesetz als erfolgreichster Weg zum Frieden beworben wird.
Einige Wiedereingliederungsprojekte für ehemalige Extremisten litten unter Korruption, gibt er zu. Und er kennt die Gerüchte, dass ausländische IS-Kämpfer durch die Provinz ziehen, um lokale Führer und Militante davon zu überzeugen, sich ihnen anzuschließen.
„Das Vertrauen zwischen der Armee und dem Volk ist nicht sehr stark“, sagt Mangudadatu. „Wir müssen ihnen zeigen, dass wir mehr zu bieten haben als die Extremisten.“
Der IS hat viel Geld, um neue Kämpfer zu rekrutieren
Der 31 Jahre alte Mohammed (das ist nicht sein richtiger Name) ist einer der Kämpfer, die das Angebot der Behörden angenommen haben. Anfang dieses Jahres gab er seine Waffen ab, im Austausch für Arbeit und Ausbildung für sich und seine Kinder.
In einem kleinen Schulgebäude aus Beton vor den Toren Buluans werden er und 15 weitere ehemalige Rebellen zu Tischlern ausgebildet. Draußen gackern ein paar Hühner zwischen den Reisfeldern, am Horizont heben sich die hohen Palmen deutlich vom grauen Himmel ab.
Im Jahr 2003 ging Mohammed zu den derzeit an den IS angeschlossenen Bangsamoro Islamic Freedom Fighters (BIFF), nachdem sie ihm 3.000 Pesos (50 Euro) pro Monat versprochen hatten. Jetzt habe er genug von dem harten, gewalttätigen Leben, sagt er. „Ich möchte mein Leben verändern, damit meine Kinder eine bessere Zukunft haben.“
Aber als wir unsere Leibwächter rausschicken, um das Interview im Alleingang fortzusetzen, berichtet er, dass er nicht alles erhalten habe, was die Behörden ihm versprochen hätten. Deshalb legten einige seiner ehemaligen Kameraden ihre Waffen nicht nieder. Sie misstrauen den Behörden immer noch.
Und dann nennt er noch einen anderen Grund dafür, dass einige seiner ehemaligen Kameraden weiterkämpfen. Nach der Belagerung von Marawi kam ein Dutzend ausländischer Kämpfer in sein Dorf. Sie trugen Kopftücher und hatten lange Bärte und sprachen über den Islam und die religiöse Pflicht, Ungerechtigkeit zu bekämpfen.
„Sie sind der IS“, betont er. „Und sie haben Geld. Viel Geld. Sie benutzen das, um neue Kämpfer zu rekrutieren.“
Die Islamisten konnten auch Clanunterschiede überwinden
Es ist schwer zu sagen, ob dieses Geld und diese Ideologie ausreichen, um wieder Gewalt zu entfachen, oder ob die Behörden rechtzeitig angemessene Gegenmaßnahmen finden. Aber wer auf die völlig zerstörte Stadt Marawi blickt, der erschrickt bei dem Gedanken, dass eine relativ kleine Gruppe von ideologisch motivierten Kämpfern in der Lage war, diese Zerstörung auszulösen.
Und es ist beunruhigend, dass die meisten Bewohner die Behörden für die Zerstörung und die damit verbundenen Hunderte von Toten verantwortlich machen. Denn genau das ist die Art von vermeintlicher Ungerechtigkeit, die den IS überhaupt erst wachsen ließ.
Nun, da das Kalifat in Syrien und im Irak zu Ende zu sein scheint, ist dies die Art von latenten Konflikten, auf die sich der Islamische Staat konzentriert hat. In den vergangenen Jahren reisten Hunderte von Südostasiaten zum selbsternannten Kalifat, die Überlebenden kehren nun wahrscheinlich nach Hause zurück und nehmen ihre Ideen und Kriegserfahrungen mit.
In Mindanao finden sie einen fruchtbaren Nährboden für diese Ideen. Nicht nur unter den Bewohnern des zerstörten Marawi, der benachteiligten Bevölkerung von Sulu oder den frustrierten jungen Muslimen aus der urbanen Mittelschicht. Sie finden auch hartgesottene Führer schwer bewaffneter islamistischer Gruppen, die sich dem jüngsten Friedensabkommen mit tödlicher Gewalt widersetzen.
In Marawi haben die Islamisten gezeigt, dass sie Clanunterschiede und persönliche Interessen überwinden können. Jetzt haben sie Geld, einen Ruf und eine vernachlässigte Bevölkerung, die jeden Tag ungeduldiger wird.
Saawiya Ibrahim Amate weiß nicht, was die Zukunft bringen wird. Sie hat auch nicht vorausgesehen, dass ihre Heimatstadt Opfer von so viel Gewalt wird, sagt sie und schaut auf die Ruinen von Marawi.
Sie kannte die Gerüchte, dass IS-Kämpfer in der Stadt seien, und sah die spärlichen Berichte in den Medien, die davor warnten. Aber sie wusste nicht, dass dies das Ende ihrer Stadt einläuten würde.
„Wie konnten wir das begreifen“, fragt Amate. „Wir lebten hier in Frieden zusammen. Alle kannten sich, und es gab immer jemanden, der dir helfen konnte. Das war keine Zeit für den Dschihad. Und jetzt sieh mal. Alles ist zerstört worden. Es wird nie wieder so sein wie es war.“
Übersetzung: Vera Fröhlich; Redaktion: Rico Grimm; Bildredaktion: Martin Gommel.