Ich war gerade anderthalb Jahre alt, als in meiner kleinen Heimatstadt in der hessischen Provinz Tausende Menschen auf die Straße gingen. Der Spiegel und die New York Times schickten Reporter zu uns in den Wald. Es müssen aufregende Zeiten gewesen sein.
Zehn Kilometer von meinem Elternhaus entfernt, in Frankenberg-Wangershausen, sollte damals mit dem Segen der SPD-geführten Landesregierung eine Wiederaufbereitungsanlage mit einer jährlichen Kapazität von 350 Tonnen Uran gebaut werden. Niemand rechnete wirklich mit Widerstand. Die Atomfirma hatte zuvor Studenten in unsere Stadt geschickt, die als Touristen getarnt eine soziologische Studie über den Charakter von uns Kleinstädtern erstellen sollten. Sie kamen zu dem Ergebnis, die Bürger von Frankenberg seien obrigkeitsgläubig und nicht sonderlich clever. Scheinbar ideale Bedingungen also für den Bau einer hochumstrittenen Nuklearfabrik. Wir lachen heute noch darüber.
Es war die Zeit, in der die Grünen erstmals in meiner Heimat von sich reden machten. Meine spätere Kunstlehrerin wurde 1982 in den Landtag gewählt. Die Grünen kamen bei uns in manchen Wahlbezirken auf ein Viertel der Stimmen – hessenweit gewannen sie sechs Prozentpunkte hinzu. Ministerpräsident Holger Börner konnte nur noch geschäftsführend weiterregieren. Kurze Zeit darauf wurden die Baupläne ins Archiv gelegt, der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß nahm sich der Sache an: Er wollte die Wiederaufbereitungsanlage in der Oberpfalz bauen lassen. Am 4. Februar 1985 fiel die endgültige Entscheidung für Wackersdorf als Standort, die erste Baugenehmigung wurde acht Monate später erteilt. Der Rest ist Protesthistorie.
Warum erzähle ich diese 36 Jahre alte Geschichte? Bei der letzten Landtagswahl in Hessen haben die Grünen im Frankenberger Land so stark abgeschnitten wie seit den Zeiten des WAA-Widerstandes nicht mehr. Sie bekamen mehr als 16 Prozent der Zweitstimmen im Wahlkreis. Die Grünen haben auch bei uns auf dem Land besser abgeschnitten als die AfD.
Bemerkenswert ist das schon: Schließlich gibt es gerade kein Mobilisierungsereignis, das den Grünen die Wähler in die Arme treibt. Keine Wiederaufbereitungsanlage, so wie 1982. Und kein Fukushima, so wie 2011.
Und nicht nur in meinem recht bodenständigen und traditionsverbundenen Heimatkreis haben die Grünen abgeräumt. Insgesamt haben die in Hessen fast 20 Prozent der Stimmen bekommen. Und auch bei der Landtagswahl in Bayern am 14. Oktober holten sie mehr als 17 Prozent.
Ich frage mich: Warum haben die Grünen derzeit so viel Erfolg? Und weswegen wählen Menschen, die sich sonst anderen Parteien verbunden fühlen, plötzlich grün?
Für meine Recherche habe ich die Krautreporter-Mitglieder gebeten, mir bei der Recherche zu helfen. Dafür habe ich eine Umfrage aufgesetzt. Und ich bin etwas überwältigt, wie viel Resonanz es darauf gegeben hat. Etwa 200 Antworten habe ich bekommen. Und es waren sehr viele kluge Gedanken dabei.
Manche waren der Meinung, dass der derzeitige Höhenflug der Grünen nur ein Hype ist. Andere glaubten, dass dahinter Substanz steckt.
Ich möchte dieses Feedback mit in diesen Text einbeziehen. Er gliedert sich in vier Fragen, die sich mir derzeit angesichts der politischen Lage stellen. Zuerst kommt die Community zu Wort – quasi wie ein Chor. Und ich werde danach meine Gedanken formulieren.
1.Warum wählen die Menschen ausgerechnet jetzt die Grünen?
Einige unserer Mitglieder sind in den vergangenen Monaten zu Grünen-Wählern geworden. Andere erkennen an, dass die Grünen als Partei attraktiver geworden sind.
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Therese: Ich habe zur Bundestagswahl SPD gewählt und nun voller Überzeugung grün. Ich habe deswegen grün gewählt, weil ich wahnsinnig enttäuscht vom Rückgrat-befreiten Martin Schulz war.
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Torsten: Man hat nicht mehr das Gefühl, „die Ökos“ zu wählen.
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Norbert: Wer die Union „bestrafen“ möchte, aber eigentlich nichts ändern will, muss grün wählen.
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Annette: Nachdem ich schon seit Jahrzehnten grün wähle, trage ich mich gerade mit dem Gedanken, in die Grünen auch endlich einzutreten.
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Markus: Die Grünen sind nicht mehr so belehrend im Auftreten und bieten eine ruhige Politik an.
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Knut: Die Führungsleute strahlen Kompetenz, Lebendigkeit und Bedachtheit aus, sowie Seriosität und Kommunikationsfähigkeit.
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Anonymer Leser: In der Schweiz ist die Sozialdemokratie meine politische Heimat. Die SPD hingegen könnte ich nicht als solche bezeichnen. Nach Schröders gescheitertem „dritten Weg“ und endlosen Jahren großer Koalition mit Merkel ist die SPD ein Schatten ihrer selbst und eigentlich eine strukturkonservative Mittepartei.
Zuerst lohnt sich ein Blick auf die Zahlen, um verstehen zu lernen, woher die Popularität der Grünen derzeit kommt. Wer hat nun tatsächlich bei den vergangenen beiden Landtagswahlen die Partei gewählt? Schauen wir uns doch einfach mal die Zahlen aus Bayern und Hessen an. Sie bieten einige interessante Informationen.
https://twitter.com/tagesschau/status/1051544670323531782
In Bayern haben die Grünen vor allem von zwei Faktoren profitiert: Die hießen CSU und SPD. 170.000 ehemalige CSU-Wähler haben eine neue Heimat bei den Grünen gefunden, aus dem Lager der SPD sind sogar 210.000 Wähler zu den Grünen gewechselt.
Bemerkenswert ist auch, dass die bayerischen Grünen insgesamt 120.000 Nichtwähler mobilisieren konnten. Gut möglich, dass einige darunter waren, die glaubten, dass ihre Stimme bei dieser Wahl nach fast 60 Jahren CSU-Dauerherrschaft endlich etwas verändern kann. Zwischenzeitlich schien es ja sogar denkbar, dass es eine bayerische Staatsregierung ohne christsoziale Beteiligung geben könnte.
Erstaunlich ist zudem, dass die Grünen im ländlichen Oberbayern durchweg überdurchschnittliche Ergebnisse erzielen konnten.
In Hessen haben die Grünen weniger stark von den Nichtwählern profitiert. Von den insgesamt 569.000 Menschen, die den Grünen Ende Oktober ihre Stimme gegeben haben, waren fünf Jahre zuvor nur 25.000 nicht zur Wahl gegangen. Das könnte aber auch damit zu tun haben, dass die Grünen hier in den vergangenen fünf Jahren mitregiert haben. Eine Stimme für die Grünen war hier keine Stimme für politische Veränderung.
Insgesamt 142.000 ehemalige SPD-Wähler stimmten in Hessen dieses Mal für die Grünen, außerdem 108.000 frühere CDU-Wähler.
In den großen Städten Hessens waren die Grünen mit 26 Prozent die stärkste Partei. Doch auch in ländlich strukturierten Wahlkreisen wie Werra-Meißner, dem Rheingau oder der Bergstraße haben die Grünen Ergebnisse von bis zu 20 Prozent der Stimmen bekommen.
Wähler ohne Migrationshintergrund tendierten eher dazu, grün zu wählen, als Menschen mit Wurzeln in anderen Ländern.
https://twitter.com/BuelentArslan75/status/1057921546105298945
Sowohl in Bayern wie auch in Hessen waren die Grünen überdies bei jüngeren Wählern, Frauen, und Menschen mit hohem Bildungsabschluss besonders erfolgreich.
Es stimmt also: Viele enttäuschte Ex-Wähler der Großen Koalition stimmen mittlerweile für die Grünen. Es sind vor allem Großstadtwähler, die den GroKo-Parteien den Rücken zu kehren, aber auch auf dem Land finden sich erstaunlich viele Menschen, die grün wählen. Und dort, wo die Grünen für politische Veränderung stehen, bekommen sie besonders viel Zuspruch von den Nichtwählern.
2. Was hat sich bei den Grünen verändert?
Hier haben unsere Mitglieder eine ganze Reihe von Erklärungen – inhaltlich wie auch parteistrategisch.
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Mick: Die Grünen werden nicht mehr ausschließlich dem linken politischen Lager zugeordnet. Jüngere Wähler kennen kaum noch die Flügelkämpfe von „Realos“ und „Fundis“.
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Ralf: Die Grünen besetzen konservative Themen: Sie haben einen modernen Heimatbegriff, schützen die Umwelt und die Bürgerrechte.
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Nim: Die Klimaerwärmung und ihre Folgen sind in den Köpfen der Leute angekommen – das ist für viele ein erster Schritt.
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Karina: Nicht die Grünen haben sich verändert, sondern das Bewusstsein der Menschen, dass es wichtig ist, etwas für die Umwelt zu tun.
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Claudia: Die Grünen kleben nicht so sehr an ihre Posten, wechseln durch und wirken nach außen einig.
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Kristoph: Die Grünen haben teilweise tatsächlich die Chance genutzt und sind in die Lücke gesprungen, die SPD und CDU hinterlassen haben.
Blicken wir doch mal auf das vergangene Jahr zurück.
Die Grünen haben sich mit Robert Habeck und Annalena Baerbock eine neue Parteispitze gewählt, die tatsächlich für einen Neustart in der Politik steht. Die beiden haben zum Beispiel eine Debatte über den Nutzen von Gentechnik und die Rolle der NATO initiiert – das muss man nicht gut finden, aber zumindest zeigt es, dass sich die Grünen gegenüber Wählern öffnen, die eine reine „Öko-Partei“ bisher nicht wählen wollten.
Außerdem sitzt die AfD mittlerweile im Bundestag. Die Rechtsradikalen hetzen dort gegen Migranten und gesellschaftliche Minderheiten. Praktisch jede neue Sitzungswoche bringt einen weiteren versuchten Tabubruch.
Was weniger beachtet wird, aber eigentlich viel gefährlicher ist: Mit ihren jüngsten Wahlerfolgen hat die AfD Zugriff auf staatliche Ressourcen. Sie kann allein im Bundestag Hunderte Mitarbeiter beschäftigen, erhält Geld aus der Parteienfinanzierung und sitzt in den Fachausschüssen des Bundestags. Die Rechten professionalisieren sich dadurch und werden zu einer echten Gefahr für die Demokratie.
Während die Union über die rechten Parolen von CSU-Politikern streitet und die SPD weiterhin auf der Suche nach sich selbst ist, sind die Grünen zur Alternative für all jene geworden, die ihren Beitrag zum Schutz der Demokratie leisten wollen. Die bayerische Spitzenkandidatin Katharina Schulze hat mit diesem Thema Wahlkampf gemacht. Und das hat auch deswegen so gut geklappt, weil die CSU in Bayern vier Jahre lang versucht hat, die AfD zu imitieren. Viele Wähler hat das verschreckt.
Die Linke ist in diesem Punkt zu radikal – und sie hat viele Wähler durch zweifelhafte Äußerungen in den vergangenen Jahren verunsichert: etwa durch ihre Positionierung gegenüber Russland in der Krim-Krise und im Syrienkrieg. Oder durch das, was Sahra Wagenknecht in Bezug auf die Migrationspolitik zu sagen hat – sie will, dass die Linke nicht als „Flüchtlingspartei“ wahrgenommen wird.
Die Bewahrung der liberalen Demokratie wird immer mehr zum Markenkern der Grünen. Übrigens sind es mit Ralf Fücks und Marieluise Beck auch zwei ehemalige Grünen-Politiker, die in Berlin einen Think Tank gegründet haben, der sich genau mit diesem Thema beschäftigt: das Zentrum Liberale Moderne.
3. Bleiben die Grünen bei diesen hohen Umfragewerten oder ist alles nur ein Hype?
Die Mehrheit unserer Mitglieder glaubt, dass der hohe Zuspruch für die Grünen mehr als nur ein vorrübergehendes Phänomen ist. Aber es gibt auch kritische Stimmen.
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Tobias: Ich befürchte, es ist ein Hype, und hoffe, dass ich mich irre.
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Annette: Ich hoffe, das ist kein Hype.
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Regine: Ein Hype, der an den um die Piraten erinnert.
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Andrea: Das ist nicht nur ein Hype. Wenn CDU und SPD nicht mehr erste Wahl sind, sind die Grünen die erste Alternative.
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Frithjof: Das ist kein Hype, aber wohl als Gegenpol der aktuellen rechtslastigen Radikalisierung der Politik geschuldet.
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Thorsten: In meinen Augen ist es eher die Unzufriedenheit mit den anderen Parteien, weniger die Begeisterung für genuin grüne Inhalte.
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Anna: Als Gegenpol der AfD funktionieren sie. Also funktionieren sie, solange die AfD erfolgreich ist.
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Niklas: Die Grünen sind die einzige Klimapartei, die tatsächlich Klimawandel vor Arbeitsplätze setzt. Nach dem aktuellen Weltklimarat-Bericht haben wir noch zwölf Jahre, der nächste Kanzler muss Grüner sein.
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Monika: Sie sind nicht mehr nur die Umweltpartei, sondern meiner Ansicht nach fortschrittlich, voller Mut und Elan.
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Tim: Die Grünen profitieren hauptsächlich von der Schwäche der Großparteien.
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Nini: Die Grünen sind dabei, der immer profilloser werdenden SPD den Rang abzulaufen.
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Thomas: Solange die anderen Parteien nur über Flüchtlinge reden und den Klimaschutz ignorieren, wird Grün sich weiter etablieren.
Ehrlich gesagt: Auch ich bin vorsichtig, wenn es um die Grünen und ihre Umfragehochs zwischen den Bundestagswahlen geht. Nehmen wir die Zahlen des Instituts Forsa als Grundlage: Da kamen die Grünen im September 2004 auf 13 Prozent und im Juni 2008 auf 12 Prozent. Im Mai 2011, kurz nach der Atomkatastrophe von Fukushima, wollten gar auf 28 Prozent der Deutschen die Grünen wählen. Und im Juni 2016, etwas mehr als ein Jahr vor der vergangenen Bundestagswahl, waren es immerhin 14 Prozent.
Doch als es dann wirklich ernst wurde, schrumpften die Grünen stets wieder auf Werte zwischen 8 und 11 Prozent zusammen. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. Immer wieder gab es Debatten in den Wahljahren, die den Grünen schadeten: Im Jahr 1998 war es der Vorschlag, künftig fünf Mark für den Liter Benzin zu verlangen. Und vor der Bundestagswahl 2013 erhitzte der „Veggie-Day“ die Gemüter. Manchmal klaute Angela Merkel den Grünen die Wahlkampfthemen, so wie im Jahr 2017, als sie die „Ehe für alle“ auf den Weg brachte, oder 2011, als sie sich – trotz anderslautender Parteibeschlüsse innerhalb der CDU – für den Ausstieg aus der Atomenergie entschied.
Und doch finde ich, dass die Umstände dieses Mal etwas anders sind. Es hat damit zu tun, wie Regierungswechsel in einer Demokratie stattfinden. In der Politikwissenschaft spricht man auch über „Nachfolgeregelungen“.
Wer bewusst einen Regierungswechsel herbeiführen will, sucht sich die Partei aus, von der er am ehesten glaubt, dass sie einen Wandel herbeiführen kann.
In Zeiten, da die Union den Kanzler stellte, war die SPD die erste Wahl für jene, die einen Regierungswechsel wollten. Seit den Großen Koalitionen unter Angela Merkel ist das jedoch anders. Wer seit 2005 stets die Sozialdemokraten gewählt hat, der trug mit seiner Stimme dreimal dazu bei, eine Christdemokratin zur Kanzlerin zu machen. Die Großen Koalitionen haben der SPD nachhaltig geschadet.
Als Kraft des Wandels ist die Sozialdemokratie seit 2005 ein Totalausfall gewesen, sie wird nicht mehr als politische Alternative wahrgenommen. Genau diese Lücke füllen jetzt die Grünen aus. Zumal die Partei mittlerweile so viel Zuspruch hat, dass sie bald schon mehr als einfach nur ein Juniorpartner in einer möglichen schwarz-grünen Koalition sein könnte.
Deswegen glaube ich, dass die Grünen dieses Mal gekommen sind, um zu bleiben. So lange sie nicht vergessen, was ihre derzeitige Stärke ausmacht: Dass sie eine Alternative für all jene sind, die immer noch auf einen Politikwechsel hoffen.
Und wenn ich an meine Heimatstadt in Nordhessen denke: Dort haben immerhin 14 Prozent der Wähler bei der Landtagswahl für die AfD gestimmt. Ein verstörendes Ergebnis, aus meiner Sicht. Womöglich ist der Aufstieg der Grünen eine Gegenbewegung zum Rechtsruck in der Gesellschaft. Auch das spricht dafür, dass die hohen Zustimmungswerte für die Grünen kein vorübergehendes Phänomen sind. Womöglich hat Deutschland gerade jetzt eine politische Kraft wie die Grünen nötiger denn je. Und dafür braucht es keine geplante Wiederaufbereitungsanlage.
Redaktion: Sebastian Esser; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.