Zugegeben, am Anfang habe ich etwas gestutzt bei dieser Frage. Unser Leser Erik hatte sie gestellt: „Welche ernsthaften Argumente sprechen gegen die Vereinigten Staaten von Europa?“
Aufmerksamen Lesern unserer Seite dürfte nicht entgangen sein, dass ich ein Anhänger der europäischen Idee bin. Doch das Problem mit guten Ideen ist, dass man sich viel zu selten Gedanken darüber macht, warum sie nicht gut sein könnten. Je mehr ich darüber nachgedacht habe, desto wichtiger schien mir Eriks Frage.
Ich schrieb ihm also. Und er antwortete mir, dass er selbst keine guten Argumente gegen die Vereinigten Staaten von Europa kennen würde, die nicht irgendwann auf „nationalistische Eigenbrötlerei“ hinauslaufen würden.
Ich fand, dass dies ein sehr guter Start für meine Recherche war. Denn, was uns ja tatsächlich momentan fehlt, ist eine sachliche Debatte über das Thema Europa. Die einen glauben, dass Europa die „Zukunft“ ist. Die anderen meinen, dass die „Brüsseler Bürokraten“ mittlerweile „über die Köpfe der Bürger“ hinwegbestimmen. Und wieder andere lässt dieses Thema Europa seltsam kalt.
Was wäre also, wenn wir noch einmal ganz von vorne anfangen und uns von allen Selbstverständlichkeiten verabschieden würden? Wenn wir darüber nachdenken, was gegen eine eigentlich gute Idee spricht? Mit der Krautreporter-Community habe ich genau das getan.
Wir müssen erst einmal wissen, worüber wir eigentlich sprechen
Klären wir zunächst einmal die Begriffe, über die wir hier reden.
Folgen wir dem Wortsinn von „Vereinigte Staaten von Europa“, dann sprechen wir von einem föderal angelegten staatlichen Gebilde mit einer gemeinsamen Regierung. Verwaltungstechnische Einheiten, die vor der Vereinigung bereits existierten, würden weiter bestehen bleiben. Das ist so auch in Amerika der Fall: Die einzelnen Staaten in diesem Bund sind teilsouverän, das heißt: Sie haben eine eigenen Verfassung, eigene Regierungen und können zu einem gewissen Grad über ihre Gesetzgebung selbst bestimmen, solange dies nicht mit dem Bundesrecht kollidiert.
Anders herum ausgedrückt heißt das aber auch: Die Regierung in Washington D.C. ist nur für jene Bereiche der Gesetzgebung zuständig, die ihr von der gemeinsamen Verfassung übertragen wurde. Jeder Staat hat zum Beispiel ein eigenes Rechtssystem, das vollkommen unabhängig Entscheidungen treffen kann. Gemeinsame Bundesgerichte entscheiden nur dann, wenn es schwere Verfahrungsfehler gegeben hat oder das gemeinsame Bundesrecht berührt ist.
Andererseits müssen eben auch gemeinsame Strukturen geschaffen werden, die ein Zusammenleben in einem Staatenbund praktisch möglich machen. Ein Beispiel: Wenn ein Führerschein, der in Florida ausgestellt wurde, in Texas nicht anerkannt werden würde, hätte dies weitreichende Konsequenzen für die Freizügigkeit innerhalb des Staatenbundes und für den Austausch von Waren (man müsste womöglich an jeder Staatsgrenze den Fahrer eines Lkw wechseln). Solche gemeinsamen Regelungen gibt es in der Europäischen Union bereits, ohne sie wäre beispielsweise der gemeinsame Binnenmarkt nicht denkbar. Manchmal sind sie überaus populär, wie zum Beispiel der Wegfall von Roaming-Gebühren. Manchmal sorgen sie für hitzige Debatten, wie etwa die Datenschutz-Grundverordnung, die im Mai 2018 in Kraft trat.
Allein vom Wortsinn her bedeuten die „Vereinigten Staaten von Europa“ also nicht, dass alle Entscheidungen an einem Ort getroffen werden und für alle gelten. Sonst bräuchte man die „Staaten“ ja nicht mehr, wir hätten wohl dann eher eine „Republik Europa“, so wie die „Französische Republik“ oder die „Republik Polen“ – beide Länder sind zentralistisch organisiert.
Allerdings wird die EU sehr oft als ein politisches Gebilde wahrgenommen, das zentralistisch agiert. Und das hat Gründe. Steigen wir in die Debatte ein – mit den Argumenten gegen die „Vereinigten Staaten von Europa“, die von der Krautreporter-Community genannt wurden.
1. Die Regelung des gemeinsamen Lebens ist für ein vielfältiges Gebilde wie Europa nicht möglich
Ein wichtiges Argument gegen die Vereinigten Staaten von Europa könnte tatsächlich die bereits seit Jahrzehnten andauernde Schaffung von gemeinsamen Alltagsstrukturen sein.
Manche lieben das neue europäische Lebensgefühl (yay, Roaming!), manche hassen es (mäh, Gurkenverordnung!). Aber wenn wir ehrlich sind, dann haben wir wohl erst die Hälfte der Wegstrecke zurückgelegt, die wir bewältigen müssten, um ein Staatengebilde mit einer gemeinsamen Regierung aufzubauen. Bei der Abschaffung von Handelshemmnissen zum Beispiel ist die EU sehr weit, bei der Angleichung von Sozialsystemen eher nicht.
Die „Agenda“-Reformen von Gerhard Schröder wurden in Deutschland scharf kritisiert, allein das Wort „Hartz IV“ löst in manchen Menschen Beklemmungen aus. Wie will man nun die völlig unterschiedlichen europäischen Systeme von Grundsicherung so vereinen, dass dabei nicht Millionen Menschen am Ende schlechter gestellt sind? Wie viel Hass auf die Europäische Union würde es wohl produzieren, wenn „Euro-Hartz“ nur noch für, sagen wir, drei Jahre begrenzt ausgezahlt wird, weil ärmere Teilstaaten wie Bulgarien oder Portugal nicht die nötigen finanziellen Mittel haben, um ihren Arbeitslosen dauerhaft Leistungen (inklusive Wohngeld) von etwa 800 Euro im Monat zu bezahlen?
Und auch die vermeintlich kleineren Themen sind hier bedeutend: Was wäre zum Beispiel, wenn eine europäische Regierung beschließen würde, ein Tempolimit von 100 Kilometern pro Stunde auf allen Straßen der EU einzuführen? Dort, wo es das bereits gibt, wäre das kein Problem. Aber in Deutschland ist das für viele Menschen immer noch eine Glaubensfrage. Oder nehmen wir das Thema Waffenbesitz: Wollen wir ein liberales Waffenrecht wie in Tschechien? Oder sollte eher das deutsche Waffenrecht zum Vorbild werden? Egal, wie man es dreht: Es geht hier nicht darum, ein aus bestimmten rechtlichen und kulturellen Voraussetzungen gewachsenes Verständnis durchzusetzen. Wir müssten Kompromisse finden, damit sich möglichst viele Menschen mitgenommen fühlen.
Die Kolonien Neuenglands hatten es da einfacher, im Jahr 1776 zu den Vereinigten Staaten von Amerika zu werden: Sie hatten ähnliche kulturelle Wurzeln. Und viele Gebiete, die danach den USA beitraten, waren ohnehin erst Jahrzehnte zuvor als Siedlungsprojekte gestartet worden – ohne den Ballast der Tradition.
2. Wir müssen über Zentralismus sprechen
Wie schon erwähnt: Eigentlich wären die „Vereinigten Staaten von Europa“ schon von der Begriffsbedeutung her kein zentralistisches Gebilde. Trotzdem empfinden viele bereits jetzt die Entscheidungen aus Brüssel als „zentralistisch“.
Ich sehe das persönlich nicht so. Was ich aber schon bedenkenswert finde: In Europa stehen wir Deutschen mit unserer Idee von Föderalismus relativ allein da. Aus historischen Gründen. Denn Deutschland war bis 1871 eben kein Nationalstaat, sondern ein wüst zersplittertes Staatengebilde. Selbst nachdem das Deutsche Reich von Bismarck vereint wurde, umfasste es noch 25 Bundesstaten – darunter so illustre Gebilde wie das Großherzogtum Oldenburg oder das Fürstentum Waldeck. Kurz: Wir Deutschen sind es gewohnt, eben nicht nur Deutsche zu sein, sondern auch Hessen, Thüringer oder womöglich sogar Waldecker. Wir wählen Landesparlamente, wir diskutieren über Landespolitik. Dass politische Projekte bisweilen auf mehreren Ebenen behandelt werden, ist für uns nichts Außergewöhnliches.
In vielen anderen europäischen Ländern wäre es das schon. Zentralismus drückt sich in einer „unitären“ Verfassung aus, in der möglichst viele Kompetenzen auf einer Ebene des Staates zentral konzentriert werden. Außer Belgien, Deutschland und Österreich haben alle anderen Staaten der EU eine unitäre Verfassung.
Das hat Folgen für ein möglicherweise eines Tages vereintes Europa.
Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Guerot fordert zum Beispiel seit Jahren die Gründung einer „Europäischen Republik“ ohne Nationalstaaten. „Träger von Identität“ wären dann die Regionen, sagt sie.
https://www.youtube.com/embed/83Q24eg7peI
Eine solche Regionalisierung des Kontinents ist aber nur dort möglich, wo es historische Einheiten gibt, mit denen sich die Menschen auch identifizieren können. Bei den kleineren Staaten wie zum Beispiel Luxemburg oder Malta scheitert das schon an der nicht vorhandenen Größe: Dort ist die nationale Identität auch die regionale Identität. Und in Polen existieren zwar mit den Woiwodschaften (größenmäßig vergleichbar mit den deutschen Bundesländern) regionale Strukturen – sie haben sich aber durch Krieg und Systemwechsel in den vergangenen 100 Jahren seit der polnischen Unabhängigkeit insgesamt viermal gravierend verändert.
Wir Deutschen haben es leicht, nicht von der Nation zu reden – weil wir andere Strukturen kennen, die für uns identitätsstiftend sind.
Deswegen geht uns auch der Begriff „Vereinigte Staaten von Europa“ so einfach über die Lippen. Und deswegen können sich viele Deutsche ein vereintes Europa auch nur als Föderation von teilsouveränen Staaten vorstellen. Mir geht es übrigens ähnlich.
Aber lassen wir mal die derzeitige politische Situation außen vor und nehmen das fiktive Szenario an, dass Italiener, Franzosen und Spanier in naher Zukunft auf die europäische Einigung drängen würden: Wäre es da nicht verständlich, wenn ein gewisser Teil der Menschen in diesen Länder eine Föderation – aus dem eigenen zentralistischen Staatsverständnis heraus – für eine ziemlich lauwarme Sache halten würde?
3. Viele Menschen haben bis heute kein Gefühl dafür entwickelt, was Europa ist
Ich weiß, hier könnte jetzt gleich Widerspruch kommen: Es hat doch schließlich „Pulse of Europe“ gegeben. Ja, stimmt. Ich habe selbst mitdemonstriert, und ich fand es herrlich, dass endlich einmal Zehntausende überzeugte Europäer auf die Straße gehen, um gemeinsam für die EU zu kämpfen. Ich würde es immer wieder tun.
Doch wenn ich ehrlich bin, habe ich dort vor allem Wissenschaftler, Künstler oder Entscheider aus der Wirtschaft getroffen. Eher selten Arbeiter, Hartz-IV-Empfänger oder zum Beispiel Soldaten.
Und jetzt kommt noch ein schlimmer Satz, bei dem ich selbst zusammenzucke: Aber ich glaube tatsächlich, dass die EU immer noch ein „Elitenprojekt“ ist.
Das vereinte Europa hat nicht als Bürgerbewegung angefangen, sondern als Maßnahme zur Resozialisierung Deutschlands. Die Völker Europas haben damals nicht nach Einigung gerufen, sie haben aber bei der Einigung mitgemacht.
Und wer sich heute als „Europäer“ fühlt, der hat meist einen biografischen Bezug zu Internationalität. Ich überspitze mal: Der Investmentbanker findet Europa zum Beispiel gut, weil er für Freihandel ist. Der Promotionsstudent im Bereich Politikwissenschaft ist für die europäische Einigung, weil internationaler Austausch Teil seiner Arbeit ist. Und die junge Start-up-Unternehmerin fühlt sich in Europa zu Hause, weil in ihrem Betrieb ohnehin Englisch gesprochen wird und sie bereits Praktika in Stockholm und Florenz absolviert hat.
Was ist aber mit dem Arbeiter in einem brandenburgischen Metallbetrieb, dessen Arbeitsplatz durch die Globalisierung latent gefährdet ist? Mit dem Rentner aus Westfalen, der in den acht Jahren seiner Volksschullaufbahn nie Englisch gelernt hat? Für solche Menschen ist es viel schwieriger, Begeisterung für die europäische Idee zu empfinden.
Und es wird auch nicht einfacher durch das leider immer noch bestehende Demokratiedefizit auf europäischer Ebene. Denn das von uns Europäern gemeinsam gewählte EU-Parlament hat auch nach fast 40 Jahren immer noch kein Initiativrecht, mit dem es selbst Gesetzesvorschläge einbringen könnte. Den Bürgern fehlt so die Vorstellung davon, dass ihre Stimme bei der Europawahl auch wirklich etwas verändert.
4. Wie will man ein Europa ohne eine vorherrschende Kultur schaffen?
Europa ist ein Kontinent mit einer Vielzahl von Sprachen und kultureller Traditionen. Auch das ist ein Reiz dieses bunten Gebildes: Wer sich einmal auf Europa einlässt, erweitert ziemlich schnell den eigenen kulturellen Horizont. Der Kontakt mit anderen Menschen findet dabei meist auf Englisch statt. Das ist der Vorteil jener, die bereits mit einer globalisierten Kultur aufgewachsen sind.
Die EU selbst veröffentlicht ihre Dokumente bereits heute vielsprachig. Wir haben also eine multikulturelle Verwaltung. Auch das ist gut.
Doch das Problem der bisher nicht vorhandenen europäischen Öffentlichkeit bleibt weiter bestehen. Wir reden über europäische Probleme vor allem im nationalen Zusammenhang, weil wir nicht die kulturellen Techniken dafür haben, um grenzübergreifend zu debattieren. Ein Beispiel: Wenn die Kandidatin für das Amt der europäischen Kanzlerin oder Präsidentin nach Magdeburg, Bayreuth oder Salzgitter käme: Würde sie dann zu den Menschen auf Englisch sprechen? Wer hätte dann die nötigen Sprachkenntnisse, um ihr zu folgen? Und wer von den englischsprechenden Zuhörern hätte dann noch die politische Vorbildung, um auch bei jenen Debatten mitgehen zu können, die nicht die regionalen Probleme betreffen? Die Zahl der politisch teilnehmenden Zuhörer wäre wohl eher überschaubar.
In Ländern mit einer bestimmenden Kultur ist das einfacher, zum Beispiel in den USA – obwohl es auch dort anderssprachige Minderheiten gibt.
Natürlich gibt es auch jetzt schon funktionierende Staaten mit mehreren Sprachen. Zum Beispiel Belgien. Aber dort gibt es für die jeweiligen Kulturgemeinschaften eigenständige Parteien. Das macht die Regierungsbildung mitunter sehr schwierig.
In der Schweiz wiederum existiert eine Demokratie mit starken plebiszitären Einflüssen – das heißt, dass das Volk unmittelbar Entscheidungen trifft. Ich glaube, dass Volksabstimmungen auch in Europa ein erster Schritt hin zu einer europäischen Öffentlichkeit sein könnten. Aber was ich anerkennen muss: Wahlkämpfe in der kleinen Schweiz sind viel einfacher zu organisieren als in einem riesigen Gebilde wie der Europäischen Union.
5. Uns fehlt der gemeinsame Mythos für eine Staatsgründung
Bei meiner Recherche in der Krautreporter-Community nach den Argumenten gegen die Vereinigten Staaten von Europa kam eine Anmerkung auf: Den Europäern mangelt es bis heute an einer gemeinsamen Verfassung, in der die Eckpfeiler für ein funktionierendes Zusammenleben festgeschrieben sind. Dazu zähle unter anderem eine nachhaltige Wirtschafts- und Umweltpolitik.
Ich finde das sehr sympathisch, glaube aber nicht, dass dies europaweit durchsetzbar ist. Wie will man etwa den Polen vorschreiben, dass sie die Kohleförderung aufgeben sollten – gerade jetzt, wo dort Populisten regieren? Wie will man den Franzosen klarmachen, dass sie den Finanzsektor zivilisieren müssen – gerade jetzt, wo Paris von der Abwanderung von Londoner Finanzunternehmen profitiert?
Ich sehe in der Anmerkung aber noch etwas anderes: Europa fehlt der gemeinsame Gründungsmythos. Eine Idee, die alle verbindet und die es den einzelnen Ländern leichter macht, von ihrer Souveränität zu lassen. Der Aufbau eines neuen, ökologischeren und gerechteren Europas wäre ja ein eine solche Idee, auch wenn sie mir persönlich derzeit nicht durchsetzbar scheint.
Die USA wurden gegründet, als Siedler in der „neuen Welt“ gemeinsam nach Unabhängigkeit von der britischen Krone strebten. Das frühe Europa vereinte sich unter dem Vorzeichen der Verhinderung eines neuen Krieges, von dem viele glaubten, dass er das Ende des Kontinents bedeuten könnte. Politiker wie Helmut Kohl wurden auch durch ihre eigenen Kriegserfahrungen zu Europäern. Es gab einen gemeinsamen Nenner.
Die „Pulse of Europe“-Demonstrationen begannen ja als Antwort auf den Aufstieg des Populismus. Aber das ist ein Problem, das aus dem Innersten von Europa erwachsen ist. Für manche Menschen mag die Idee reizvoll sein: Mehr Europa als Antwort auf die nationalistischen Ideen der Populisten. Was machen wir dann aber mit den Anhängern der Populisten?
Einfach gesagt: Ich sehe derzeit keine Idee, die eine solche Kraft entfalten könnte, dass sich eine übergroße Mehrheit der Europäer dahinter versammelt. Leider.
Wir dürfen die Nachteile nicht dauernd ausblenden
Okay, und an dieser Stelle bekomme selbst ich Zweifel daran, ob wir jemals ein vereintes Europa erleben werden. Da ich nicht nur Pessimismus verbreiten will: Zum Schluss noch ein Argument gegen die europäische Einigung, das den Kern eines Neuanfangs in sich trägt.
6. Wir Europäer haben es uns zu einfach gemacht
Es muss irgendwann vor etwas mehr als zehn Jahren gewesen sein, als ich zum ersten Mal gemerkt habe, dass man mit dem Thema Europa ganze Festsäle ins Koma labern kann.
Ich hatte im Rahmen eines Vortrags für eine kleine Hochschule in Norddeutschland einen Exkurs zur europäischen Einigung vorbereitet. Im Publikum saßen fast nur junge Menschen, alle waren sie in meinem Alter, und ich dachte: Hey, die finden es auch bestimmt spannend, wie schnell dieser Kontinent in den vergangenen Jahrzehnten zusammengewachsen ist, wie unwahrscheinlich das anfangs war, und wie viele Vorteile das grenzenlose Europa heute hat.
Manche meiner Zuhörer nickten artig mit dem Kopf. Doch bei vielen anderen konnte ich an den Gesichtsausdrücken ablesen, wie ihre Gedanken in die Ferne schweiften. Sie hatten das, was ich ihnen erzählte, schon tausendmal gehört. Immer wieder dieselbe Leier. Europa, das historische Friedenswerk. Europa, Ort ohne Grenzen. Europa, unsere Zukunft. Und ich? War am Ende ein bisschen sauer, dass sich Studenten nicht mehr für so eine „wichtige“ Sache begeistern können.
Seitdem habe ich ein paar Dinge gelernt.
-
Erstens: „Wichtig“ ist die kleine Schwester von „Scheiße“. Wenn ich extra betonen muss, wie bedeutend eine Sache ist, dann heißt das am Ende, dass sich die Bedeutung nicht ausreichend kommuniziert. Dafür die Ignoranz der anderen verantwortlich zu machen, ist ein ziemlich undemokratischer Reflex.
-
Zweitens: Viel wahrscheinlicher ist es, dass mir und all den anderen Europa-Freunden mit der Zeit die Argumente ausgegangen sind. Wir haben geglaubt, dass die europäische Einigung etwas Selbstverständliches ist. Das hat uns blind gemacht für die offensichtlichen Probleme, die es damals schon gab. Zum Beispiel, dass die EU-Osterweiterung ab 2004 in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht keinesfalls ein Selbstläufer war. Und dass diese Probleme nicht dadurch besser werden, dass offene Grenzen zu Polen und Tschechien ein so wahnsinnig historischer und, nun ja, „wichtiger“ Schritt sind.
In seinem am 18. September 2018 in deutscher Sprache erschienen Buch „Der Weg in die Unfreiheit“ befasst sich der amerikanische Historiker Timothy Snyder mit diesem Phänomen. Im Idealfall, schreibt er, beschäftigt sich Politik mit den tatsächlich existierenden Fakten – und fällt auf Basis dieser Fakten Entscheidungen.
Es gibt jedoch sehr mächtige politische Erzählungen, die uns den Blick auf das verkleistern, was tatsächlich geschieht. Eine davon nennt er „Politik der Unausweichlichkeit“: Wir sind gefangen in dem Glauben, dass eine bestimmte politische Entwicklung, die wir als positiv wahrnehmen, sich bis ans Ende aller Tage fortschreibt. Weil sie so selbstverständlich erscheint. So vernünftig. Der weltweite Siegeszug von Demokratie und Freiheit etwa galt nach dem Zusammenbruch des Ostblocks als todsichere Sache. Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hatte damals ein sehr populäres Buch mit dem Titel „Das Ende der Geschichte“ veröffentlicht. Aber auch die europäische Einigung war eine solche schöne Selbstverständlichkeit, die wir alle als gegeben akzeptiert haben.
Das Problem an der „Politik der Unausweichlichkeit“ ist, dass Zukunft in ihr nicht mehr gestaltbar ist. Alles kommt ja ohnehin völlig unvermeidbar auf uns zu. In einer Demokratie jedoch ist keine Zukunft alternativlos.
Irgendwann gingen den Europa-Fans die Argumente aus, das Reden über Europa wirkte seltsam schal und erstarrte in Floskeln. Und plötzlich gab es dann die Populisten, die im Gegensatz zu den Europa-Fans die tatsächlich existierenden Probleme benannten.
Auch die Populisten sind gefangen in einer politischen Erzählung, Snyder nennt sie „Politik der Ewigkeit“: Alles politische Denken zielt darauf ab, Unheil und Bedrohungen abzuwenden. Populisten sind ständig damit beschäftigt, tatsächliche Probleme und Herausforderungen zu Apokalypsen aufzublasen: Elend und Hungersnöte durch die Eurokrise, Weltkrieg und nukleare Vernichtung durch die Ukrainekrise, der Zusammenbruch aller Staatlichkeit und das Ende des deutschen Volkes durch den Zuzug von Flüchtlingen. Auch hier gibt es keine gestaltbare Zukunft mehr: Denn Politik wird zu einem ewigen Abwehrkampf gegen die Angriffe von außen und von innen.
Wir müssen einen Ausweg aus diesem ewigen Kreislauf finden. Und deswegen habe ich auch diesen Text geschrieben: Wenn wir uns klar machen, dass die Idee von den „Vereinigten Staaten von Europa“ auch Nachteile hat, dann können wir darauf reagieren, statt diese Nachteile ständig auszublenden.
Mit Dank an folgende Mitglieder der Krautreporter-Community auf Facebook für ihre Mitarbeit: Thorsten, Siegfried, Sebastian, Mareen, Andreas, Martin, Jörg, Horst, Alexander, Sonja, Michi, Christian, Julian, Doris, Paula, Dirk, Achim, Erik, Jörg, Martin, Gudrun, Frithjof, Jörg, Onno und Rainer.
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel (Aufmacherfoto: iStock / Oleh_Slobodeniuk).