Das Phänomen Jordan Peterson, verständlich erklärt

© Bildschirmfoto / Jordan Peterson – How To Stop Rotting Away

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Das Phänomen Jordan Peterson, verständlich erklärt

Dem Publizisten und Psychologen Jordan Peterson hören im Moment Millionen Menschen im Westen zu – aber was genau sagt der Mann eigentlich? Halten seine Ideen einer tieferen Analyse stand? Und wieso hätte Peterson auch mal einen Blick auf die Bienen werfen sollen? In diesem Text beantworte ich die wichtigsten Fragen.

Profilbild von Esther Göbel
Reporterin für Feminismus

1. Jordan – who? Wer ist der Typ?

Jordan Peterson ist ein 56 Jahre alter Psychologe und Autor, der als Professor für klinische Psychologie an der Universität von Toronto in Kanada lehrt. Er spricht mit dünner Stimme, wenn er auf einem Podium sitzt oder sich mit Studenten auf seinem Campus streitet, trägt grau meliertes, nach hinten gekämmtes Haar, dazu ein hochgekrempeltes Hemd, was ihm eine gewisse Coolness verleiht. Er ist Vater von drei Kindern, verheiratet und dekoriert sein Haus gern mit Lenin-Artefakten, die er auf Ebay einsammelt. Bis 2016 kannten ihn zwar seine Studenten und Patienten oder die eine Millionen User, die auf Youtube schon seinen Vorlesungen folgten. Ansonsten aber war Peterson einfach ein konservativer Professor, der sich selbst als „classic British liberal“ beschreibt und als Teil eines „Intellectual Dark Webs“ sieht, der fasziniert ist von christlichen Texten, dem Sozialverhalten von Hummern und der Heldenreise als Erzählstrategie.

2. Und warum ist der jetzt wichtig?

Niemand würde sich weiter für Peterson interessieren. Keine Millionen User im Netz, auch nicht die großen amerikanischen Leitmedien wie der New Yorker oder The New York Times, die sich in Analysen und Kommentaren an Peterson abarbeiten. Niemand würde ihn als den momentan wichtigsten Intellektuellen der westlichen Welt beschreiben, wie ein Kommentator der New York Times in der Zeitung einen guten Freund zitierte.

3. Wenn nicht was passiert wäre?

Wenn es nicht ein kanadisches Gesetz gäbe mit dem kryptischen Namen „Bill C 16“.

Und dieses eine Youtube-Video von 2016:

https://www.youtube.com/watch?v=fvPgjg201w0&list=PL22J3VaeABQD8oW-mqWpKumeqglQCe6VZ

Es trägt den schönen Titel „Professor against political correctness: Part I“. Peterson spricht sich darin gegen besagtes Gesetz aus („das Gesetz macht mir Angst, und die Leute dahinter machen mir auch Angst“). Es soll die Verwendung eines geschlechterneutralen Pronomens für Transgender-Personen verpflichtend machen, das jedenfalls behauptet Peterson. Dabei stimmt das gar nicht. Trotzdem: Als das Gesetz im Juni vergangenen Jahres in Kraft trat, war Peterson längst berühmt. Warum? Weil sein Protest – als Video geteilt und von Hunderttausenden Usern in die Welt versendet – fortan als rebellischer Akt der freien Meinungsäußerung wider einen linken Mainstream gefeiert wurde.

4. Ja gut, dann ist er halt einfach ein weiterer Typ, der durch seinen Kampf gegen den „linken Mainstream“ berühmt werden will. Das geht mich doch nichts an!

Man kann das so sehen. Es würde aber dem Hype, den Peterson um seine Person generiert hat, nicht gerecht werden. Denn der Professor wird von seinen Fans noch für eine andere Seite seiner Person gefeiert: Für den Psychologen Jordan Peterson, der mit seinen Selbsthilfe-Tipps in Form seines Buches „12 Rules for Life – An Antidote to Chaos“ 2018 nicht nur die kanadische Beststeller-Liste stürmte – sondern im März desselben Jahres bei Amazon auf Platz 1 der Liste mit den meistverkauften Non-Fiction-Büchern rutschte (im September 2018 liegt es auf Platz 4). Peterson erreicht so und über die neuen Medien wie Youtube, Twitter, Reddit und Patreon Menschen, die er mit seinen Thesen gegen den „Marxismus“ eher nicht erreichen würde.

Millionen von Usern schauen seine Youtube-Lectures an oder hören seine Podcasts. Peterson ist damit auch ein Medienphänomen; ohne Youtube und Reddit wäre er niemals so bekannt, wie er es heute ist. Es kann ihm egal sein, ob er auf irgendwelchen kulturell hoch angesehenen Bestseller-Listen landet oder nicht – und es ist Peterson auch egal, zumindest seiner stoischen Art nach zu urteilen, mit der er jede Kritik an sich abprallen lässt.

Genau das ist ein anderer wichtiger Schlüssel seines Erfolgs: Peterson stört sich nicht daran, von einem bestimmten politischen Milieu (dem akademischen linken nämlich) nicht geliebt zu werden. Im Gegenteil: Er steht zu seiner Meinung, unbeeindruckt von aller Kritik – und genau das mögen viele Menschen an ihm. Vor allem jene, die ihn als politische Figur sehen und der amerikanischen Alt-Right-Bewegung angehören. Videos auf YouTube, die Peterson zum Inhalt haben, tragen Titel wie „The BEST relationship advice EVER“ (1,3 Millionen Aufrufe) oder „Jordan Peterson calmly dismantles feminism infront of two feminists“ (3,3 Millionen Aufrufe). Der “Jordan Peterson- „Hit“ aber ist ein Interview des britischen TV-Senders Channel 4, in dem er eine Journalistin rhetorisch zerlegt, die ihn mit seinen anti-feministischen Aussagen konfrontiert (rund 12 Millionen Aufrufe).

5. Wer sind denn diese Menschen, die er erreicht?

Ganz unterschiedliche. Von Angehörigen der Alt-Right-Bewegung über junge Frauen bis hin zu Männern, von politisch Interessierten bis klinisch Depressiven. Das Besondere an dem Phänomen Jordan Peterson ist auch: Man kann ihn auf verschiedenen Ebenen rezipieren, je nachdem, wo man steht und für welche Facette seiner Figur man sich interessiert: als Psychologen, Vaterfigur, Anti-Linken und Märtyrer der freien Meinungsäußerung – oder als alle Personen gebündelt in einer. Marketing-mäßig ist das ein Coup, den man erst einmal nachmachen muss. Laut eigener Aussage besteht der Großteil seines Zielpublikums aber aus weißen, jungen Männern.

6. Ich habe Peterson mal kurz gegoogelt, er scheint ja sehr zu polarisieren – die einen feiern ihn als Lebensretter, die anderen verachten ihn als Quatscherzähler.

Ja, dieser Eindruck stimmt. Zumindest spiegelt sich diese Polarität auch in meiner Recherche:

KR-Leser Oliver, der sich als „kleiner Fanboy“ Petersons beschreibt und mit 31 Jahren als weißer, junger Mann genau in seine Zielgruppe fällt, drückt es so aus:

„Mit seinem Hintergrund als langjähriger Therapeut (oder so) verknüpft er religiöse Texte und standardisiert Narrative, dies in Relation zur eigenen Person setzt, also anwendbar macht. Ich höre die sehr gerne. (…) Für mich ist die Einfachheit eines Narratives aber Ausdruck von Integrität: Unsere Sozialisierung sollte auf einfachen Regeln beruhen. Ich schätze gute Metaphern, wenn sie einen Mehrwert bieten. Ich bin nicht religiös, zweifle aber die Integrität der Bibel aus kultureller Sicht keineswegs an. Durch seine Videos bekomme ich Zugang dazu. Das hilft mir, Moral besser zu verstehen und meine intuitive Haltung begründen oder korrigieren zu können.“

KR-Fotochef Martin, 38, hat viele von Petersons Youtube-Lectures angehört oder angeschaut, eine Zeit lang sogar täglich. Er sagt:

„Ich höre Peterson deshalb zu, weil ich keine Lust auf meine linke Blase habe. Ich bin das so leid. Und er steht halt auf der anderen Seite. Ich hätte nie gedacht, dass so jemand mal meine Inspiration wird. Aber GERADE weil er Empathie und Mitgefühl nicht an erste Stelle stellt, ist er so wertvoll für mich. Außerdem dreht er den Opfermythos auf den Kopf. Peterson ist für mich als Mensch mit diagnostizierter chronischer Depression die perfekte Mischung aus Intellektuellem und Pragmatiker.“

KR-Facebook-Gruppenmitglied Thorsten, 35, hält hingegen wenig von Peterson:

„Ziemlich furchtbare Figur, die pseudointellektuellen Unsinn verbreitet und vor allem von seinem Image als Rebell gegen die angebliche politische Korrektheit lebt.“

Und KR-Volontär Efthymis, 34 Jahre alt und damit ebenfalls Teil von Petersons Zielgruppe, ist auch nicht begeistert von ihm:

„Eine Generation von jungen weißen Männern, die sich weigert, erwachsen zu werden, nennt sie Peterson, die sich jedoch tief im Innern nach Verantwortung sehnt, nach Struktur und nach einer Berufung. Genau aber bei der langersehnten Struktur wird es problematisch. Wo die westliche Gesellschaft Struktur in der Rechtsstaatlichkeit sieht, sieht sie Peterson in einer biologischen Hierarchie, die im Tierreich vorzutreffen ist. Seine Analysen sind Verhaltensanalysen von Hummern und Wölfen, nicht von Menschen. Damit rechtfertigt er die Ausbeutung des Menschen vom Menschen; den Gedanken, dass sich die Schwachen den Mächtigen unterwerfen müssen. Damit sich diese ‚verlorenen‘ Jungs an seine Struktur anpassen, müssen sie ihre Rolle in der Hierarchie dankend annehmen, nichts hinterfragen, ja nicht zweifeln; auf eine fast metaphysische Art ihre Stelle in der ‚Nahrungskette‘ finden. Somit ist Peterson nichts weiter als ein biologischer Determinist und in seiner Theorie weit aus schicksalsgläubiger als der von ihm verhasste Marxismus.“

7. Was sagt Peterson denn nun?

Viel. Es ist deswegen unmöglich, seine mehr als 150 Youtube-Vorlesungen und seine zwei Bücher von zusammen mehr als tausend Seiten an dieser Stelle zusammenzufassen. Konzentrieren wir uns deshalb auf sein aktuelles Buch.

Peterson bedient sich aus einem ganzen Set unterschiedlicher Ideen, die er in einen mehr oder weniger zusammenhängenden Kontext setzt. So, als würde er durch einen Garten der Ideen wandern, hier eine von einem Baum pflücken, dort noch eine einsammeln, um abschließend all das, was er geerntet hat, in einen großen Korb zu werfen. Die Bibel sowie die Biologie oder auch sein eigenes Leben dienen ihm dabei als wichtige Inspirationsquelle.

Im großen Rahmen geht es bei Peterson um Ordnung versus Chaos. Erstere ist das selbsterklärte Ziel, letzteres gilt es zu vermeiden:

„Wir brauchen Regeln, Standards, Werte – jeder für sich und alle zusammen. Wir sind Lasttiere. Wir müssen eine Last tragen, um unser elendes Dasein zu rechtfertigen. Wir brauchen Routine und Traditionen. Das ist Ordnung.“

Und wie schafft man eine solche Ordnung laut Peterson? Durch alltagstaugliche Tipps, die man vielleicht jedem Freund geben würde, der schon seit längerer Zeit mit sich und der Welt hadert („Stell dich aufrecht hin. Schlafe ausreichend. Gib deinem Alltag Struktur, stehe also immer zur gleichen Zeit auf und iss ein proteinhaltiges Frühstück. Halte deine eigenen vier Wände sauber, bevor du andere kritisierst. Übernehme selbst Verantwortung für dein Leben“) – und durch eine gesellschaftliche Hierarchie, die Peterson anhand von biologischen Sachverhalten erklärt und rechtfertigt. Gern anhand von Hummern.

Ja richtig, Hummer.

Peterson verwendet in seinem Buch das Sozialverhalten der Krebse, um zu zeigen, wie die Männchen um sexuelle Überlegenheit, Territorium und damit letztlich um Status kämpfen. Ihm dienen die Tiere als Illustration einer natürlichen Hierarchie. Und weil Hummer schon seit mehr als 350 Millionen Jahren auf der Welt weilten, so Peterson, verrieten sie einem so viel über „Status und Gesellschaft. Die Bedeutung dieses Fakts kann kaum überbewertet werden.“ Folglich zieht Peterson die Conclusio:

„Sie (die Hierarchie durch natürliche Dominanz) ist permanent. Sie ist real. Sie ist nicht der Kapitalismus. Auch nicht der Kommunismus. Sie ist nicht der militärisch-industrielle Komplex. Sie ist nicht das Patriarchat (…). Sie ist noch nicht mal eine menschliche Erfindung. (…) Sie ist im Gegenteil ein quasi ewiger Bestandteil der Welt.“

Was aus dieser These erwächst, ist dann nur noch logisch im Peterson-Universum: ein klassisches Schwarz-Weiß-Denken, das keine Zwischenstufen kennt. Und nach dem sich die Welt in Loser und Gewinner einteilt, aber auch in eine weibliche und männliche Sphäre:

„Die Unterteilung der Natur in ihre sich spiegelnden zwei Geschlechter ereignete sich schon vor der Evolution von multi-zellulären Tieren. Es war in einem immer noch respektablen Fünftel dieser Zeit, als sich Säugetiere ausbildeten, die sich intensiv um ihre Nachkommen kümmern. Folglich bestehen die Kategorien „Eltern“ und „Kind“ seit 200 Millionen Jahren. Das ist länger, als Vögel existieren. Länger als es Blumen gibt. (…) Das bedeutet, dass männlich und weiblich und Eltern und Kind Kategorien für uns sind – natürliche Kategorien, tief verankert in unseren wahrnehmenden, emotionalen und motivierenden Strukturen.“

Peterson sagt in etwa: Strukturen, die so alt sind, können doch nicht schlecht sein?! Wieso sich von diesen lösen?

Warum Peterson sich allerdings ausgerechnet auf die Hummer als Bestätigung seiner These bezieht, warum er ausgerechnet dieses Beispiel aus der Biologie wählt und nicht ein x-beliebiges anderes (Bienen etwa, bei deren Völkern eine Königin an der Spitze der sozialen Hierarchie steht und die männlichen Drohnen nur zu deren Begattung dienen), erläutert er nicht.

Richtiger wird die Methode, einfach nur auf die Biologie zu verweisen, dadurch sicher nicht. Denn bekanntlich ist der moderne Mensch nicht nur durch seine Gene geprägt und Produkt der Evolution. Sondern auch durch eine Kulturgeschichte, der wir unterschiedliche politische Theorien, Werte wie die Menschenwürde eines jeden Einzelnen, Freiheit, ein demokratisches System und auch die Emanzipation der Frau verdanken – bei Hummern, wir erinnern uns, gibt es all das noch nicht.

8. Peterson wird auch als Anti-Feminist interpretiert. Was sagt er denn über Männer und Frauen?

Spätestens jetzt wird es wirklich schwierig. Man kann Petersons Selbsthilfe-Tipps – zieht man seine teils krude Ideenlehre davon ab – durchaus als Empowerment für jeden Einzelnen verstehen. Aber für jeden Menschen, der halbwegs an eine Gleichbehandlung zwischen Frauen und Männern glaubt, wird es anstrengend, ihn ernst zu nehmen, sobald Peterson anfängt, über beide Geschlechter zur referieren.

„Jungen leiden in der modernen Welt“, da ist sich Peterson schon mal sicher, „sie sind nicht willkommen“. Weil sie im Zuge der Emanzipation der Frau aufgrund ihres Geschlechts verdächtigt würden; als mögliche Vergewaltiger, als Profiteure des Patriarchats, als „Plünderer des Planeten“. Die Herren der Schöpfung sitzen auf dem abfallenden Ast, denn schon in der Grundschule, später in der High-School und noch später auch in der Universität fielen sie bildungsmäßig zurück, sagt Peterson.

Er sammelt denn auch einige erstaunliche Aussagen über Jungen und Mädchen zusammen, die man, obwohl er sie mit Quellen belegt, zumindest fragwürdig finden kann:

  • Jungen interessieren sich per se mehr für Dinge, Mädchen tendieren eher zu Menschen.
  • Jungen sind per se unabhängiger als Mädchen.
  • Mädchen können an Status gewinnen, egal, ob sie in einen Wettbewerb mit einem Jungen oder einem anderen Mädchen treten und als Siegerin hervorgehen, Jungen hingegen können nur triumphieren, wenn sie gegen einen anderen Jungen gewinnen.
  • Mädchen fühlen sich nicht hingezogen zu Jungen, die sie zu ihren Freunden zählen. Sondern nur zu solchen, die einen anderen Jungen an Status übertreffen.

Darüber, wie ein Elternmodell auszusehen hat, klärt Peterson die Leser auch noch schnell auf: nämlich als klassische Familie: Mann, Frau, verheiratet.

„Kinder, die ohne Vater aufwachsen, leiden unter einem erhöhten Risiko, später drogen- oder alkoholabhängig zu werden. Kinder, die mit verheirateten, biologischen Eltern zusammenleben, sind weniger ängstlich, weniger depressiv und werden seltener straffällig als Kinder, die mit einem oder mehreren nicht-biologischen Eltern zusammenleben. Bei Kindern, die in alleinerziehenden Familien groß werden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Selbstmorde begehen, doppelt so hoch.“

Man müsste anhand dieser Aufzählung jetzt erschrecken. Sie wäre der Untergang für alle Kinder von Witwern und Witwen, Alleinerziehenden, Paaren, die ohne Trauschein zusammenleben, Pflegeeltern, Adoptiveltern, gleichgeschlechtlichen Paaren und Geschiedenen. Aber wir können uns ja einfach mal einen ureigenen Rat von Jordan Peterson zu Herzen nehmen: „Hüte dich vor einfachen kausalen Interpretationen – und vor jenen, die sie verbreiten!“

Aber auch dieser Ratschlag hindert Peterson nicht daran, noch eine weitere fragwürdige These rauszuhauen. Nämlich seine ganz eigene Interpretation des Begriffs Patriarchat:

„Für mich sieht es so aus, als sei die sogenannte Unterdrückung durch das Patriarchat im Gegenteil eher ein Jahrtausende währender, nicht perfekter, kollektiver Versuch von Männern und Frauen gewesen, sich gegenseitig von harter Schufterei, Krankheit und Mangel zu befreien.“

Petersons „Beweis“ für diese Interpretation: Schließlich sei ja die Pille von einem Mann erfunden worden, ebenso wie der erste Tampon!

Diese „Beweisführung“ ist so falsch, wie sie nur falsch sein kann. Erstens: Er unterstellt den besagten beiden Männern hehre Ziele, wo diese vielleicht einfach nur in ureigenen Kategorien im Sinne von Erfolg und wissenschaftlicher Neugierde gedacht haben. Zweitens, und das ist noch viel wichtiger als Punkt eins: Selbst wenn die beiden Erfinder in ihrem Handeln durch die Idee geprägt waren, Frauen zu mehr Freiheit zu verhelfen – widerlegen sie deshalb die zahllosen anderen Beispiele, in denen Männer für sich eine „natürliche“ Überlegenheit reklamierten? (Darunter viele große Denker wie etwa Jean-Jacques Rousseau, aber auch die christliche Theologie spiegelt dieses Bild, genauso wie die Physiologie und Anatomie des 19. Jahrhunderts, die von „verschiedenen Geschlechtscharakteren“ ausging und in der Physis der Frau eine „natürliche“ Unterlegenheit sah.) Widerlegen seine zwei Beispiele jene politisch gestützten gesellschaftlichen Strukturen, die Männern noch immer eher die öffentliche und Frauen noch immer eher die heimische Sphäre zuordnet?

9. Hm. Es drängt sich anhand solcher Äußerungen doch die Frage auf: Wie erklärt sich sein Erfolg?

Das ist die spannendste von allen Fragen. Jordan Peterson ist ein rhetorisches Phänomen und ein begnadeter Geschichtenerzähler. In Diskussionen bleibt er immer sachlich und nüchtern, verweist auf vermeintliche Fakten, die er als Argumente heranzieht; egal, wie sehr man ihn angreift: Der Mann scheint sich durch nichts aus der Ruhe bringen zu lassen und ein Selbstbewusstsein aus Stein zu besitzen (siehe zum Beispiel hier und hier.) Das grenzt ihn ab von der Hitzigkeit eines Populisten, lässt sein Gegenüber automatisch schwächer wirken und verleiht Peterson eine Glaubwürdigkeit, die durch seinen akademischen Titel noch verstärkt wird – egal, ob das, was er sagt, schlussendlich faktisch richtig ist oder nicht.

Peterson hat verstanden, wie er seine Ideen als Geschichten verpacken und welchen Ton er anschlagen muss, damit sie emotional zünden (man könnte hier, nicht ganz ohne ironischen Unterton, anfügen, dass Peterson nicht umsonst jahrelang studiert hat, wie politische Demagogen kommunizieren). Der Erzählstil in seinem Buch folgt einem empowernden, aber nicht gefühligen Ton, in dem sich Pragmatismus, Pathos und Strenge gekonnt die Waage halten, nie weit entfernt von der nächsten, oft personalisierten Anekdote. Als würde ein Vater zu seinem Sohn sagen: „Du bist doch eigentlich ein Super-Typ! Glaub an dich – und reiß dich jetzt endlich zusammen, Junge!“ – Stand up straight with your shoulders back!, wie Peterson es ausdrückt.

Er entwickelt damit das Narrativ des strauchelnden Helden ( der weiße, überforderte junge Mann), der die Fähigkeit in sich trägt, ein erfolgreiches und glückliches Leben zu führen – sofern er die Tipps von Jordan Peterson befolgt, die ihn durch das zerklüftete Labyrinth der Postmoderne lotsen. Die ist für Peterson nämlich der Hauptgrund für die von ihm proklamierte Orientierungslosigkeit.

10. Aber ich finde es nicht falsch, in unseren Zeiten einen Lotsen zu haben! Die Gesellschaft wandelt sich. Und das verdammt schnell.

Stimmt: die Emanzipation der Frau, die Globalisierung der Wirtschaft, die Finanzkrise der vergangenen zehn Jahre, die zunehmende Spezialisierung und Technologisierung der Arbeitswelt, sich verschiebende Rollenbilder von Mann und Frau, #Metoo, das Internet, das zwar viele Möglichkeiten bietet, aber auch ein unübersichtliches Meer an Ideen und Bildern liefert, Migration und Integration, eine Welt, in der alte Gewissheiten sich auflösen und neue sich erst finden müssen – wie attraktiv ist da eine Stimme, die Orientierung verspricht? Ein Wegweiser, der vorgibt, die Komplexität dieser Welt durch Selbsthilfe auflösen zu können, und die auch noch akademisch legitimiert scheint?

Vielleicht ist Peterson auch deswegen so attraktiv für viele (Männer): Weil er sich auf Jahrtausende alte und noch viel ältere Strukturen bezieht (Bibel und Biologie), die eine Gedankenwelt formen, in der einfach alles so bleiben darf, wie es schon immer war. Ohne jeglichen Anpassungsdruck der Veränderung.

Bemerkenswert ist an Peterson aber auch, dass er keiner bestimmten Ideologie folgt, also sich nicht explizit einem politischen Lager zuordnet – und trotzdem zum Politikum geworden ist. Weil die Neue Rechte in den USA sich an ihm bedient (woran Peterson sich nicht stört) und die Linke sich an ihm aufreibt. Sicher: Seine Ideen sind unbestritten konservativ-reaktionär, aber dadurch, dass er eben nicht versucht, eine bestimmte Ideologie zu verkaufen, sondern sich wild an allen möglichen Ideen bedient, wird er für ein breites Zielpublikum erst interessant.

Kritische Stimmen aus dem angelsächsischem Raum, die sich mit Peterson beschäftigt haben, sehen genau darin einen Schlüssel seines Erfolgs. Denn sie werten sein Ideen-Potpourri als Gegenentwurf zur „Identitätspolitik“. Der Begriff stammt aus den USA und bezeichnet eine „Politik der Identität“, die, vereinfacht gesagt, versucht, die Wahrnehmung und Rechte bestimmter Gesellschaftsgruppen zu stärken, zum Beispiel die von Frauen, Schwulen, Transgender-Personen oder Schwarzen. Kritiker der Identitätspolitik sehen in ihr den Hauptgrund für den Wahlsieg von Donald Trump.

Einer dieser Kritiker ist Mark Lilla, Professor für Ideengeschichte an der Columbia University of New York. Nach Trumps Sieg schrieb er einen viel beachteten Kommentar in der New York Times, der Trumps Erfolg erklären sollte, aber auch eine eindeutige Kritik der Linken ist. „In recent years American liberalism has slipped into a kind of moral panic about racial, gender and sexual identity that has distorted liberalism’s message and prevented it from becoming a unifying force capable of governing“.

Peterson spricht in seinem Buch zwar nicht explizit von Politik, setzt mit seinen Ideen aber einen politischen Kontrapunkt zu dem, was Lilla kritisiert. (Genau einen solchen Kontrapunkt hatte interessanterweise auch Donald Trump mit seiner Wahlkampfstrategie gesetzt, die sich ja an all jene richtete, die genug hatten von gender-neutralen Toiletten, Rassismus-Vorwürfen von Schwarzen oder „We should all be feminists“-T-Shirts tragenden Frauen.)

Paradoxerweise betreibt aber auch Peterson Identitätspolitik. Auch er macht sich für eine bestimmte Gruppe stark und will diese – so seine Sicht – aus ihrer misslichen Lage befreien: Männer.

11. Steht es um die Männer denn wirklich so schlimm?

Sagen wir es so: Es gab einfachere Zeiten, um ein Mann zu sein. Zum Beispiel die 50er oder 60er Jahre in Deutschland, in denen die Vorstellung dessen, was ein Mann sein sollte, zwar ziemlich eindimensional war, aber auch ziemlich klar: Ein Mann ging arbeiten, sorgte finanziell für die Familie. Er machte die Ansagen, die Frau war per Gesetz dazu verpflichtet, den Haushalt zu führen. Ungewollter Sex in der Ehe war keine Straftat. Der Status eines Mannes war an seinen beruflichen Erfolg gekoppelt, an seine Macht, sein Geld. Nicht etwa an sein Äußeres, an Elternzeit oder Kommunikationsfähigkeit – alles Charakteristika, die der „moderne Mann“ heute doch bitte unbedingt mitbringen soll.

Der „neue Mann“ soll weich sein, aber kein Weichei. Er soll fürsorglicher Vater sein, aber der Frau am Ende doch nicht ihr Territorium als Mutter streitig machen. Er soll zu seinen Gefühlen stehen, aber keine negativen haben. Er soll ein „Macher“ sein, aber kein Machttier. Er soll ein Gentleman sein, aber der Frau bloß nicht die Tür aufhalten (Diskriminierung!). Er soll sensibel sein, aber die Partnerin im Zweifel durchs Lebens führen. Er soll gleichberechtigt denken, aber der Frau auf jeden Fall den Heiratsantrag machen. Er soll ein Six-Pack haben, aber kein Muskelprotz sein. Er soll immer noch über Geld verfügen, und über Status. Er soll … und … und … und … und … und …

Tatsächlich gibt es Studien darüber, dass Jungen in der Schule hinter Mädchen zurückliegen: Mädchen brechen weniger häufig die Schule ab, machen öfter ihr Abitur.

Bei Frauen ist die Arbeitslosenquote geringer als bei Männern. Die haben ein höheres Risiko, ihren Job zu verlieren.

Männer sterben früher als Frauen.

Männer begehen häufiger Selbstmord als Frauen.

Und: Männer haben keine Lobby. Wenn Peterson das konstatiert, hat er schon recht. Sie haben keine, weil sie Jahrzehnte, gar Jahrhunderte und Jahrtausende lang keine brauchten. Weil sie diejenigen waren, die Macht hatten und Macht verteilten – und weil das heute sehr oft noch immer so ist.

Glaubst du nicht? Dann schau dir diese Beispiele an: Die Führungsriege des Innen- und Heimatministeriums unter Horst Seehofer besteht ausschließlich aus Männern. Der Frauenanteil im Bundestag liegt bei 30,9 Prozent; auf 219 Frauen kommen 490 Männer – damit liegt der Frauenanteil auf einem so niedrigen Wert, wie er zuletzt 1998 lag. Von drei Führungskräften in der EU ist nur eine Person eine Frau – und die verdient 23,4 Prozent weniger als ein männlicher Kollege auf derselben Führungsebene. In Deutschland gibt es 300 Köche, die sich mit einem Michelin-Stern schmücken dürfen. Nur neun davon sind Frauen. Bei den 75. Internationalen Filmfestspielen von Venedig, die Anfang September 2018 zu Ende gingen, stammten nur 21 Prozent der zugelassenen Filme von weiblichen Regisseurinnen – ein einziger Film einer Frau schaffte es in den Wettbewerb.

12. Wieso reiben sich so viele Linke an Jordan Peterson so auf?

Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus den Punkten 8, 9 und 10 – wer politisch links steht, ist gemeinhin toleranter auch Minderheiten gegenüber, an der Gleichberechtigung der Geschlechter und einer pluralistischen Gesellschaft interessiert. Peterson hingegen sagt Sätze, die tatsächlich schon allein in dem Moment eine Provokation darstellen, in dem er sie ausspricht. Weil sie dem linken Grundkanon widersprechen.

Dass Peterson zudem wahnsinnig erfolgreich ist, indem er sich der neuen Medien bedient und links-intellektuelle Institutionen, die nach wie vor Meinungsmacher sind und Karrieren anschieben können, indem sie Debatten auslösen, gar nicht mehr braucht, mag für so manchen Linken beim New Yorker oder bei der New York Times eine zusätzliche Klatsche sein.

Peterson verunglimpft Linke zudem immer wieder gern als Marxisten. Dass das nicht jedem, der links denkt, gefällt: geschenkt.

13. Können wir etwas von Peterson lernen?

Ich habe sehr lange darüber nachgedacht. Was kann ich, eine 34-jährige Frau der westlichen Welt, die an Emanzipation, Gleichberechtigung und Chancengleichheit glaubt, von Petersons Aussagen lernen? Ich habe mir diese Frage wirklich ernsthaft gestellt, mehrmals, in aller journalistisch gebotenen Sachlichkeit, ohne eigene Empörung, die einer Antwort im Wege stehen könnte.

Die ehrliche Antwort lautet: Ich weiß es nicht.

Die Linke mag sich manchmal in moralistischer Empörung verlieren, an diesem Punkt ist Petersons Kritik berechtigt; auch ich finde es ab und zu anstrengend, mit anderen Feministinnen zu diskutieren, die noch nicht einmal bereit sind, die Gegenseite ausreden zu lassen.

Wer sich bei Petersons psychologische Tipps abholt und darin Hilfe findet: bitte sehr.

Auf Männern liegt heute ein größerer Druck, welche Rollen sie als „moderner Mann“ gefälligst erfüllen sollen. Das ist sicherlich wahr. Trotzdem: Muss ein junger Mann deswegen automatisch an überkommende Hierarchien und veraltete Rollenbilder glauben? Muss er sich einen Hummer zum Vorbild nehmen? Und muss ich mir als Frau anhören, das Patriarchat habe es so nie gegeben? Dass sich gesellschaftliche Hierarchien mit dem Sozialverhalten von Hummern rechtfertigen lassen und für immer unkündbar so sein werden? Soll das der Lösungsansatz sein für jene Wandlungen, wie wir sie unter Punkt 10 besprochen haben? Wirklich?

Ich denke: nein.

Oder, um der Diskussion mit Petersons Worten ein Ende zu machen: Stand up straight with your shoulders back!


Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel (Aufmacher: ).